Kleiner Mann, was nun?

Von der „Arbeiterklasse“ bis zu den „einfachen Leuten“: Wer ist das Volk und was zeichnet es eigentlich aus?

Neue Zürcher Zeitung, Juni 2019

Zu den Seltsamkeiten, an denen unsere Zeit ohnehin nicht arm ist, gehört die Tatsache, dass wir nicht recht wissen, wie wir zu den Leuten da draußen vor unserer Türe überhaupt sagen sollen. Klar, wir sind alle Bürger und Bürgerinnen unseres Gemeinwesens, und zusammen bilden wir die Bevölkerung. Aber gerne wird auch vom Volk gesprochen, und da beginnen die Probleme schon. Denn das Volk ist mit Projektionen aufgeladen, der Begriff selbst umkämpft, und es ist unklar, wer dazu gehört. Selbst in seiner unschuldigsten Schwundform schwingt im Begriff „Volk“ eine Homogenität mit, die „Bevölkerung“ gerade nicht hat.

Neu ist das natürlich keineswegs. „We, the People“, „wir, das Volk“, wie es von der amerikanischen Verfassung schon vor 300 Jahren angesprochen wurde, hat das Volk nicht bloß beschrieben, sondern konstituiert, zusammen geschmiedet, indem es benannt wurde. Erfunden, indem es bezeichnet wurde. Mit Sieyès‘ „Le tiers état est une nation complète“ – „Der dritte Stand ist die gesamte Nation“, wurde in der französischen Revolution ein Teil der Bevölkerung zum Rückgrat der Nation ernannt. Es schwang da immer mit: Manche sind mehr Volk als andere.

Heute ist das wieder aktuell, aus verschiedenen Gründen: die berühmte „Arbeiterklasse“ ist den Linken zwischen den Fingern zerronnen, also das Subjekt der Geschichte, das Verkörperung des „einfachen Volkes“ sein sollte, und zugleich erlebten die „normalen Leute“ ihren rhetorischen Aufstieg (oft verbunden mit Abstieg in Statushinsicht), die von den Rechtspopulisten angesprochen wurden. „Der kleine Mann“, die „einfachen Leute“, das „normale Volk“, oder wie die Phrasen heißen. Vom „regular guy“ reden die Amerikaner.
Nun kann man sagen: Es gibt kein Volk, sondern nur eine Bevölkerung. Das ist zwar einerseits richtig, wird aber nicht alle überzeugen – vor allem die nicht, die sich aus Gründen, die sie oft wahrscheinlich nicht allzu präzise angeben können, als das „normale Volk“ betrachten.

Es lohnt sich, einen Augenblick zurück zu blicken. Gerne wird ja behauptet, früher wären die Dinge noch einfacher gewesen. Zunächst gab es früher die Arbeiterheere, danach die „nivellierte Mittelschichtsgesellschaft“, und erst mit der Ausdifferenzierung von Schichten und Milieus hätten die Verkomplizierungen begonnen.

Dabei war es schon mit der Arbeiterklasse so eine Sache. Würden Historiker in die Zeitmaschine steigen und sich die Details ansehen, würden „sie feststellen, das es nirgendwo eine Klasse gibt. Sie werden nur eine Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Berufen finden, verschiedenen Einkommen, Status und so weiter“, schrieb der legendäre Historiker E.P. Thompson über „die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“. Die Kompaktheit, die die industrielle Arbeiterklasse im Rückblick hatte, hatte sie in der Realität nie. Zunächst waren da Handwerker, Gesellen, Gewerbetreibende, Leute, die einen Job in den Geschäften und den Werkstätten hatten, dann ungelernte Arbeiter in den Fabriken, Facharbeiter, Werkmeister, aber weiter kleine Angestellte in Werkstätten und Geschäften, Lehrlinge, Kontoristen, Bedienstete bei den Wohlhabenden, Vorstadtjungs, die sich durchschlugen, Näherinnen, Wäscherinnen, Hausfrauen, Taglöhner, gefragte Leute und Elende, Menschen in den Werkswohnungen, Familien in Elendsquartieren, kurzum, ein buntes Völkchen, das in großen oder kleinen Städten lebte, und aus Verhältnissen kam, in denen unterschiedliche Werte herrschten (städtische Pauper tickten anders als Landvolk, das in die Metropolen schwemmte, die Handwerker hatten andere Werthaltungen als die jungen ungelernten Arbeiter etc.).

Wenn sich diese Menschen irgendwann tatsächlich als eine gemeinsame Klasse fühlten, dann, so Thompson, weil sie die Erfahrungen und sozialen Beziehungen, die ihr Leben waren, auf bestimmte Weise „kulturell verarbeiteten“. Soll heißen: Erst weil sie sich als kompakte Klasse fühlten, waren sie eine kompakte Klasse. Und wahrscheinlich waren sie nie eine kompakte Klasse.

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Der doktrinäre Marxismus behalf sich auf zweierlei Weise: Er behauptete, die Klasse existiere sowieso objektiv, und wenn die Angehörigen dieser Klasse diese Einsicht in die objektiven gemeinsamen ökonomischen Interessen nicht haben, dann sei das eben Folge von „falschen Bewußtein“, was bei manchen Marxisten zu der Überzeugung führte, sie wüssten besser als die Klasse selbst, was deren wahren Interessen entsprach. Schematisch entsprach das einer Rede von der Klasse an sich und der Klasse an und für sich. Also: die Klasse und die Klasse mit Klassenbewußtsein.

Wer heute vom „Volk“ spricht, meint meist auch nur einen Teil des Volkes, also der Bevölkerung, der sich durch bestimmte Eigenarten auszeichnet. Erstens versteht es sich als das „einfache Volk“, das sich respektlos behandelt fühlt, oder ignoriert, und zwar von „ihnen“. Ihnen, das können sein: Die Politik, die Eliten, Mittelschichten, die auf die Konventionen und kulturellen Identitäten der einfachen Leute herabsehen, die globale Klasse, dieses ganze „sie“ („Sie hören nicht auf uns. Die interessieren sich nicht für uns“). Dieses sie zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht da ist, sondern fern – fern der Viertel, in denen das „einfache Volk“ lebt, fern der Kleinstädte, fern der Arbeiterwirtshäuser.

Dieses „einfache Volk“, so wird stillschweigend vorausgesetzt, hat auch bestimmte Werte und Normen, denen es folgt. Dass man sich nicht hervortun, kein Kollegenschwein sein soll; dass man nie vergessen soll, woher man kommt; dass harte Arbeit, mit Schweiß verrichtet oder psychisch herausfordernd, mit Stolz erfüllt; dass man niemandem auf der Tasche liegen, seine Familie aus eigener Kraft ernähren soll, aber dass diese harte Arbeit auch ordentlich entlohnt werden und der, der sie leistet, respektiert werden soll. Dieses Volk hält bestimmte Gerechtigkeitsnormen hoch, etwa die der Reziprozität, also etwa, dass man für Sozialtransfers, die man erhält, auch die Pflicht hat, sich eine Arbeit zu suchen. Wer etwas in Anspruch nimmt, hat auch Verpflichtungen – und zwar allen anderen gegenüber. Wer sich als Teil der „einfachen Leute“ sieht, ist einerseits stolz darauf, und grenzt sich ab, gegen Großtuer, Leute die nur reden, aber nicht tun, vielleicht auch gegen Studierte, er ist einerseits stolz auf die Kinder der eigenen Milieus, die es nach oben geschafft haben, aber nichts hasst er zugleich mehr, als Leute, die vergessen haben, woher sie kommen.

Schon die Redewendung vom „einfachen Volk“ kommt ohne ein gewisses Ressentiment nicht aus, also ohne Abgrenzung: das Andere muss gar nicht explizit angesprochen sein, es konstituiert das „einfache Volk“. Ohne „die da oben“ kein „einfaches Volk“.

Gäbe es nicht diese weit verbreiteten (Selbst-)Bilder vom „einfachen Volk“ wäre die Rhetorik des Populismus ja einfach nur absurd. Der schwingt sich zur „Stimme des Volkes“ auf, zu dessen „eigentlicher“ Vertretung. Parteien, die bei Wahlen oft nur zwölf, 18 oder 25 Prozent der Stimmen erhalten, können sich so als die Stimme des Volkes bezeichnen, das nicht gehört wird. Obwohl also objektiv allenfalls eine Stimme einer Minderheit, wird diese Minderheit als etwas verstanden, das das Ganze repräsentiert, und umgekehrt kann jemand, der eigentlich die Zustimmung der Mehrheit hinter sich hat, im Extremfall sogar als Feind des Volkes hingestellt werden. Das wäre ja ein völlig irrsinnige rhetorische Operation gäbe es nicht die unausgesprochene Vorstellung, dass ein bestimmter Teil der Bevölkerung „Volk“ ist, und alle anderen eben nicht.

Die autoritäre Versuchung, die in jedem Populismus steckt, besteht dann freilich darin, alles rhetorisch aus dem imaginären Volk auszusortieren, was einem nicht passt. Zugleich ist die Behauptung, Vertretung des Volkes zu sein natürlich ein rhetorischer Trick, der sehr viel Macht verleiht, so eine Art Judogriff, der selbst den Schwachen Schwung gibt. „Ich bin die Stimme des Volkes“ klingt natürlich gleich besser als „ich bin die Stimme der fünfzehn Prozent der Bevölkerung, die extrem rechts eingestellt sind“.

Aber der Populismus ist natürlich nur ein Aspekt. Er erfindet die Vorstellungsreihen nicht, die mit der Selbstdefinition des „einfachen Volkes“ verbunden sind, und auch nicht die Unzufriedenheiten und Verletzungen, die mit Klassen- und Statusdifferenzen einher gehen. Er beutet sie allenfalls aus.
Dass die Idee der Klasse verschwand, ein Zusammenhang und Zusammenhalt sich auflöste, dass diese Quellen des Selbstrespekts verloren gingen, ist eine historische Tatsache, zugleich aber auch eine Ursache für dieses Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein, wie es viele Menschen verspüren, die sich als „einfache Leute“ verstehen. Gewiss schwingt auch heute noch oft trotzige Selbstbehauptung mit, wenn man sich als „wir, die normalen Leute“ bezeichnet, aber es ist mehr Wut als Hoffnung. Die Klasse sah sich noch als Macht, dagegen ist man als „einfaches Volk“ eher Gebeutelter historischer Geschehnisse, die man mangels Macht nicht beeinflussen kann. Es ist, bei allem Trotz, eine Schwächeposition.

Falsch ist es, dies alles aber als logische Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu sehen. Das bunte Völkchen der früheren Arbeiterklasse hatte auch nicht mehr gemein als die heutigen unteren Mittelschichten, die Arbeiterklasse und die Unterklassen. Klar: Paketausfahrer, kleine Angestellte, der Facharbeiter beim Installateur, die Pflegerin, die Verkäuferin im Supermarkt, die Belegschaft am Fließband in der Autoindustrie, die Krankenschwester, die Sekretärin und der Verkäufer im Telefonshop, sie alle unterscheiden sich in Lebenslagen, Lebenstil, in Status und Einkommen und auch in anderen Hinsichten, aber das tat die frühere Arbeiterklasse auch.

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