Was Sie da ihr Leben nennen, das ist doch nichts als ein Text, den andere geschrieben haben

Wir beschreiben die Welt mit Texten und Wörtern, deren Autoren wir nicht sind, aber das heißt ja auch, dass die Sätze in unsere Gehirne kriechen und dort Synapsen verknoten und die eigentümlichsten Effekte entfalten.

Soll dieser Misik doch mal was Gutes über den Kapitalismus sagen. Nie sagt er etwas Gutes über den Kapitalismus. Aber ist ja gar nicht wahr. Dauernd sag ich was Gutes über den Kapitalismus. Würde er nicht auch seine guten Seiten haben, täte ich mir ja nicht so viel Sorgen machen um ihn, würde ich ihn ja nicht hätscheln und streicheln. Ein schöne Sache an ihm ist, dass er so eine stetige Flucht nach Vorn ist. Das hat er in seiner DNA. Unternehmer verschulden sich um zu investieren, und müssen morgen mehr verdienen, um die Schulden zurückzahlen zu können, er ist eine Wette auf künftig wachsende Erträge und deshalb eine ewige Flucht nach vorn. Wer heute ein gutes Produkt entwickelt, darf sich morgen auf den Früchten nicht ausruhen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Der Kapitalismus war’s, der das Lebensprinzip Don’t Look Back in die Welt gebracht hat. Das Sein bestimmt zwar nicht auf plumpe Weise das Bewußtsein, aber auf raffinierte, und dieses Moderne, Modernsein, Contemporary sein, absolut Contemporary sein, das hat schon auch mit dieser ökonomischen Struktur zu tun. Das hat der Kapitalismus auch mit der Kunst gemein, und mit dem Pop, ja der ist ja eh auch Kunst, der Pop, manchmal…

Schöpferische Zerstörung, hat der Schumpeter gesagt, das ist das eigentliche Geheimnis des Kapitalismus, das was er vollbringt, was die Unternehmer im Kapitalismus vollbringen. Und das elektrisiert mich schon. Dieses Bis hierher und noch weiter. Und ich bin ja vielseitig elektrisierbar. Ich finde ja, das ist das allerwichtigste, vielseitig elektrisierbar zu sein. Und deshalb lug ich ja gern über meine Felder hinaus. Als professioneller Meinungshaber bewohn ich die Themen, die landläufig als das rechtmäßige Feld des Meinungshabens gelten, und da ist es natürlich auch manchmal so, dass diese Themen mich bewohnen und alle kleinen Kammern in mir beziehen. Meinungen gibt man in Satzform von sich, aber die Sätze führen gleich ein eigenes Leben, die machen sich selbständig, werden flügge und emanzipieren sich von ihrem Autor. Das Eigenleben der Sätze ist natürlich die Freude der Poesie, aber die Pest der meinungshabenden Prosa, weil was in der Poesie das Wunder der Mehrdeutigkeit ist, ist in der Meinungsprosa nur die Banalität des Missverständnisses. Die Meinungsprosa entwirrt, überhaupt, journalistische Texte sollen entwirren, und so entwirren wir um uns sofort wieder zu verwirren, aber das ist auch gut so, denn das Entwirrte ist ja fad.

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Terry Eagleton schreibt in seiner berühmten strukturalistischen Literaturtheorie, die Behauptung sei unsinnig, „dass ich eine absolut persönliche Erfahrung mache: ich kann überhaupt keine Erfahrung außerhalb einer Sprache machen, mittels derer ich sie erfassen kann, weil wir alle von den Zeichensystemen abhängig sind, über die wir verfügen – oder genauer, die über uns verfügen.“

Wir beschreiben die Welt mit Texten und Wörtern, deren Autoren wir nicht sind, aber das heißt ja auch, dass die Sätze in unsere Gehirne kriechen und dort Synapsen verknoten und die eigentümlichsten Effekte entfalten, sie schießen wie Prionenkanonen und richten Gehirnmatsch an. Das dümmste Missverständnis ist die Annahme einer echten Welt, die durch Worte nur abgebildet würde. Dabei ist das Echte nichts, wenn es nicht in Worte gefasst wird, somit sind die Worte aber viel interessanter als die echte Welt und auch unsere Phantasie vom Echten ist durch nichts als durch Worte evoziert. Wenn ich mir die Person modelliere, die ich sein will, und wir alle tun das, auch Sie, völlig unabhängig davon, ob Ihnen das überhaupt bewusst ist, also wenn wir das tun, dann folgen wir, dann folge ich immer schon einem Skript, dessen Autor ich nicht bin, an dem hunderte kreuz und quer durcheinander geschrieben haben, deren Worte sich wiederum von ihnen emanzipiert haben, sodass das Skript in letzter Instanz überhaupt keinen Autor hat, außer die Worte selbst, ein ewiger Text, der sich selbst schreibt.

Susan Sontag hat in ihr Tagebuch notiert: „Warum ist Schreiben so wichtig? Hauptsächlich wegen Egoismus, nehme ich an. Weil ich diese Person sein will, ein Schriftsteller, und nicht weil da etwas wäre, was ich sagen muss. Aber warum nicht auch deshalb? Mit etwas Ich-Modellierung – wie mit Hilfe dieses Tagebuches – sollte ich auch die Sicherheit gewinnen, dass ich (ICH) etwas zu sagen habe, das gesagt werden sollte“

Und daran finde ich ja die Formulierung, „die Person die ich sein will“, am interessantesten. Die sie gewissermaßen mit Texten modelliert. Und mit einem Rollenverhalten, das wiederum durch Texte modelliert ist. Wann das überhaupt aufkam, dieser Kult der Person?

Und übrigens sind wir da wieder beim modernen Kapitalismus, der alles kulturalisiert, so dass auch Güter „Texte“ sind, Waren, die wir kaufen, weil wir glauben, dass sie stilmäßig oder sonstwie zu den Personen passen, die wir sein wollen. Attribute, Eigenschaftswörter, die wir uns überziehen, oder die wir in die Tasche stecken und an denen wir dann rumfummeln. Und die Worte stolpern und schlagen sich die Knie auf. Und dann stehen sie da, mit ihren wunden Knien und gebrochenen Armen und die werden dann falsch aufgeschraubt. Und summieren sich zu Lebens- und Rollenmodellen. Und die Romantiker glauben es gäbe ein eminentes, authentisches Ich. Gibt’s nicht, ist aber auch nicht tragisch.

Und was Sie da ihr Leben nennen, das ist doch nichts als ein Text, den andere geschrieben haben, und Bilder und modische Accesoirs, denen dieser mändernde Text einen Sinn gibt, und ein paar Songs, die den Soundtrack dazu liefern. Und dieses Politikzeug, das wir da Woche für Woche verhandeln, ich will ja nicht sagen, dass es unwichtig ist, aber es ist doch auf so seltsame Weise exterritorial dem gegenüber, und es berührt diese Fragen auch, aber so tangential, so wie die Tangenten, die sich im Unendlichen kreuzen, aber es berührt Sie doch im echten Leben, ha, jetzt hab ich auch so salopp echtes Leben gesagt, aber Sie wissen schon, was ich meine, es berührt das alles doch nicht.

Vielleicht ist das ja auch das Geheimnis dieser Zeitungs- und Medienkrise, von der alle reden, dass hier von Dingen die Rede ist, die uns letztendlich nicht berühren und von den Dingen, die uns berühren ist wo anders die Rede, was weiß ich, in Gedichten, in Romanen, in Songs oder in Facebook-Statusmeldungen oder in depperten amerikanischen Fernsehserien. Während die Zeitung von heute schon wenn sie gedruckt wird ein Sack toter Buchstaben ist. Noch der radikalste Leitartikel ist in diesem Sinne konventionell. Und radikal ist was ganz anderes.

Ein falsch zusammengeschraubtes Wort kann wahrer sein als der klügste Leitartikel. Das so wahr ist, dass es die Wahrheit dementiert, dass es Wahrheit doch gar nicht gäbe. Und ich könnte diesen Text natürlich jetzt noch ewig mäandernd weiterschreiben, aber das muss ich nicht, weil er sich eh selbst weiter schreibt und Sie und Sie und Sie, tagtäglich an ihm weiter schreiben, und das Gesagte wird Material für das nächste Gesagte, und die Form muss revolutioniert werden, auch das ist eine Flucht nach vorn. Weiter scheitern. Besser scheitern. Und Sie schreiben daran, wie gesagt, selbst wenn Sie davon gar nichts wissen, Sie spüren es und sagen Sie jetzt nicht nein.

Ein Gedanke zu „Was Sie da ihr Leben nennen, das ist doch nichts als ein Text, den andere geschrieben haben“

  1. „Das Eigenleben der Sätze ist natürlich die Freude der Poesie, aber die Pest der meinungshabenden Prosa, weil was in der Poesie das Wunder der Mehrdeutigkeit ist, ist in der Meinungsprosa nur die Banalität des Missverständnisses.“
    Chapeau.

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