Wie „Moral“ zum Schimpfwort wurde

Ich bin dagegen, dass Babys auf einem Markt für Neugeborene gehandelt werden, ich wehre mich  gegen die Wiedereinführung der Sklaverei, will Arme nicht verhungern lassen und finde, auch Senioren sollten noch ärztlich versorgt werden. Bin ich jetzt ein Tugendterrorist?

Die polarisierte Gesellschaft ist eine Hypererregungsgesellschaft. In der Hypererregungsgesellschaft steht die Vernunft oft auf verlorenem Posten. Die Stimme der Vernunft ist leise. Weil die Vernunft ja die guten Argumente, oder zumindest die plausiblen Argumente verschiedener Seiten abwägen müsste… Doch schon der Versuch geht im Getöse unter. Führst du Grundsätze, das zivilisatorische Minimum ins Treffen, ja, auch moralische Erwägungen – eine moralische Erwägung ist ja beispielsweise, dass man Ertrinkende nicht ertrinkenlassen soll, eine andere, dass man Arme nicht verhungern und auch nicht auf einem Minium dahinvegetieren lassen soll – dann reden manche sogar schon von Hypermoralisten. Wer sagt, dass die Menschenrechte vielleicht doch gelten sollen, der wird heute Hypermoralist genannt.

Ist ihnen das schon aufgefallen? Dass Moral heute von manchen Leuten schon als Schimpfwort benützt wird? Wann hat das eigentlich begonnen, dass die konservative und radikale Rechte die Moral für etwas Verächtliches hielt, dass ein paar moralische Grundprinzipien aufhörten der Konsens zu sein, über dem sich dann die verschiedenen Meinungsverschiedenheiten erhoben, sondern das ethische Minimum von einem Konsens zu einem, wie heißt das, „linksgrünversifften Gutmenschenkonzept“ wurde. Du sollst nicht töten. Liebe deinen Nächsten… Alles so linksgrünversiffte Gutmenschenkonzepte…

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Schön auch die Formulierung seinerzeit in einem „Zeit“-Text gegen die Seenotrettung, in dem die Autorin über Flüchtlingshelfer schrieb, „ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“ Und man fragt sich, was sie uns eigentlich damit sagen will? Was soll denn das Verständnis von Menschenrechten sonst sein als kompromisslos? Was ist denn ein nicht kompromissloses Verständnis von Menschenrechten? Jeden zweiten ertrinken lassen? Foltern, aber nur ein bisschen?

Vergessen wir nicht, es gibt genügend Gesetze und Verbote, die mit starken moralischen Empfindungen verbunden sind. Die Kinderarbeit ist verboten und wir würden sie auch als moralisch verwerflich empfinden. Obwohl unsere Gesellschaft den freien Markt und das Spiel von Angebot und Nachfrage so feiert, kann man übrigens nirgendwo in unseren Städten Säuglinge kaufen. Komisch, oder? Man könnte doch auch argumentieren, gerade wenn man für Neugeborene einen hohen Preis erzielen kann, zeige das doch, welch hohen Wert wir dem menschlichen Leben zuschreiben. Aber trotzdem würden sogar die meisten Deregulierungs-Fanatiker den Vorschlag empört ablehnen, einen Baby-Markt zu etablieren. Senioren will auch niemand die Gesundheitsversorgung entziehen, obwohl die ja nur mehr Kosten verursachen.

Aber zurück zur Frage, was ein nicht kompromissloses Konzept von Menschenrechten sein soll. Nehmen wir an, die Autorin hat etwas anderes gemeint. Nämlich sowas, dass es halt Zielkonflikte gibt und moralische Dilemma. Ja, man kann das schon einräumen, dass es moralische Dilemma gibt und deren kleine Schwester, den Zielkonflikt. Man kann ja der Meinung sein, dass eine Rettung von Ertrinkenden weitere Menschen ermutigt, auf seeuntüchtige Boote zu steigen. Empirisch spricht halt nicht so viel dafür: Empirisch zeigt sich, dass es immer tausende versucht haben und dabei ertrunken sind, wenn sie nur eine Möglichkeit gesehen haben. Genauso wie man behaupten kann, gewährt man den Armen einen Unterstützung, dann hätten sie keinen Anreiz, sich aus ihrer Armut raus zu kämpfen und würde die Armut, statt sie zu bekämpfen, nur verschlimmern, wie das die harten Neokonservativen tatsächlich predigen. Das hat zwar auch keine Empirie auf seiner Seite, eher das Gegenteil ist der Fall, erst ein gewisser Grad an Sicherheit erlaubt es für die meisten Menschen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen und aus ihrem Leben etwas zu machen. Was übrigens zeigt, dass viele moralische Dilemmata nur konstruierte moralische Dilemmata sind, nur rhetorisch fabrizierte, die es in der wirklichen Welt gar nicht gibt.

Meist  kann Zielkonflikte so lange in Detaillösungen zerlegen, dass eine einigermaßen gangbare Lösung herauskommt. Ganz wegbekommen wird man sie nie. Aber auch dafür gilt, ganz generell: So ist das Leben nun einmal, sogar im Privaten: Ein täglicher Kompromiss zwischen verschiedenen Werten und Lebenszielen. Aber die Populisten und Radikalen tun so, als gäbe es die nicht, und sie verhindern durch die Polarisierung, für die sie sorgen, sogar das nüchterne Abwägen. Und reden die Moral schlecht. Aber ohne ethische Richtschnur kann ich überhaupt gar nicht anfangen, moralische Dilemmata zu erkennen. Und noch eins: Man neigt dazu auch, Zielkonflikte zu übertreiben.

Als in den USA die Sklaverei abgeschafft worden ist, hat es sicher auch genug Schlaumeier gegeben, die gesagt haben, die Abschaffung der Sklaverei scheint zwar moralisch geboten, aber das ist Hypermoralismus, denn in Wirklichkeit wird die Abschaffung der Sklaverei ein paar Nebenfolgen haben, etwa, dass die Sklaven keine Jobs finden, und dann verhungern werden, oder dass durch die Abschaffung der Sklaverei die Sklavenhalter pleite gehen und dann sinkt der Wohlstand, und dann geht’s allen schlechter, den Sklavenhaltern, den sonstigen Freien und den heutigen Sklaven, und, Hand aufs Herz da hat ja keiner was davon, also solle man nur ja nicht die Sklaverei abschaffen, viel zu riskant…
Das zeigt uns: Man sollte sich im Zweifel von der Moral leiten lassen und weniger von den neunmalklugen Einwänden derer, die die Moral schlecht reden.

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