Leiden am Wettbewerbsindividualismus

Rund drei Viertel aller Deutschen beklagen, dass die Menschen unter mehr und mehr Zeitdruck stünden, der Egoismus zunehme und der gesellschaftliche Zusammenhalt zerreiße.

Wiener Zeitung, 5. Oktober 2019

Wir können die Gegenwart unseres zeitgenössischen Kapitalismus grob auf zwei Weisen beschreiben: Der Wohlstand wächst kontinuierlich, wenn auch nicht mit den Wachstumsraten früherer Zeiten, und wenngleich auch die Schere zwischen Reich und Arm weiter aufgeht, so kommt auch die Mittelschicht ganz gut voran. Wir leben in bequemeren Wohnungen, jeder hat ein Dach über den Kopf, das Ausbildungsniveau steigt stetig an und mit ordentlichen Qualifikationen kann man den individuellen Aufstieg schaffen. Und wir haben viel geilere Güter, als wir uns vor dreißig Jahren noch erträumen hätten können.

Kurzum: Es geht uns allen viel besser als es in den Schauergeschichten nörglerischer Globalisierungskritiker erscheinen mag.

Aber dann gibt es auch die mindestens ebenso plausible Gegengeschichte. Strukturwandel und Globalisierung haben das Leben zu einem einzigen Wettkampf gemacht, bei dem einige schon richtig unter die Räder kommen: die ehemaligen Arbeiterklasse, die Menschen, in deren Leben Prekarität einzieht, die Leute in den unterprivilegierten Stadtviertel, aber auch die unteren Mittelschichten. Was sie erleben, das sind längst die Auswirkungen jener „Abstiegsgesellschaft“, die Oliver Nachtwey mit dem eingängigen Bild der herabfahrenden Rolltreppe illustrierte: Es geht entweder bergab, oder man muss immer schneller gegen die Fahrtrichtung laufen, um den Status zu halten. In dem Gemeinschaften, den Vierteln, in den Straßenzügen, leben die Leute nur mehr nebeneinander her, weil jeder nur mehr um sich selbst kämpft. Letztlich sogar in den Betrieben, wo die Kollegialität abnimmt, wenn jeder nur darauf achtet, selbst zu überleben – in einer Welt, in der Rationalisierungsdruck schlichtweg überall herrscht.

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Zudem aber huldigt das System einem Wettbewerbsindividualismus, der fragwürdige Seiten in den Menschen fördert, etwa, dass man sich dauernd mit anderen vergleicht, permanent auf 150 Prozent läuft, um nur ja nicht ins Hintertreffen zu gelangen; oder die Tugend einer absoluten Unabhängigkeit, die Bindungen verkümmern lässt. In einer solchen Kultur ist der Nachbar entweder ein Konkurrent, also eine Gefahr, oder jemand, der einem ökonomisch nützlich sein könnte, also jemand, den man nur nach materiellen Nützlichkeitserwägungen betrachtet. Eigentlich eine Horror-Kultur. Einkommen stagnieren, wegen der internationalen Konkurrenz. Überall gibt es schließlich jemanden, der es billiger machen würde als du.

In den oberen Etagen der Gesellschaft ist der Individualismus auf selbstbewusste Weise Ego-zentriert, in den unteren Etagen nimmt er die Form eines resignativen Individualismus an, dem jeder Stolz abgeht, verdichtet in dem oft gehörten Satz: „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.“

Dass immer mehr Menschen, auch in scheinbar ökonomisch gesicherten Lagen, diese Kampfesstimmung negativ erleben, ergab jetzt eine Studie, die das deutsche Allesbach-Institut im Auftrag der deutschen Versicherungsverbandes durchführte – beide Beteiligten sind nicht unbedingt für nörglerische antikapitalistische Gesellschaftskritik bekannt.

Dabei sagen 44 Prozent der Befragten – deutsche Bürger und Bürgerinnen zwischen 30 und 60 Jahren – dass ihre persönliche wirtschaftliche Situation besser sei als vor fünf Jahren. Doch 77 Prozent meinten, dass die Menschen immer mehr unter Zeitdruck stünden, 81 Prozent sind sogar der Auffassung, dass immer mehr Aggressivität um sich greife. Gereiztheit breite sich aus, „Egoismus nimmt zu“ (74 Prozent), und „alles wird anonymer“ (54 Prozent). Zwei Drittel sind der Meinung, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt fehlt und dass dafür „die soziale Schicht, zu der man gehört“ verantwortlich sei. Begriffe wie „Klasse“ mögen als marxistische Retrovokabel aus der Mode gekommen sein, aber das Bewusstsein wächst ganz offenbar wieder, dass unsere Gesellschaft wieder krass in Klassen zerrissen ist.

Und wohlgemerkt: Das ist keine Studie, die unter den verwundbarsten Teilen der Gesellschaft erstellt wurde, sondern repräsentativ für alle Milieus ist – querbeet, von den unteren Einkommensgruppen bis in die höheren Wohlstandslagen.
Dieses Grundgefühl, dass alles auf unsicherer Grundlage steht, zieht sich durch. Dass man vielleicht den materiellen Wohlstand hält, aber nur um den Preis, dass man immer mehr arbeitet, immer mehr Überstunden schiebt, dass in Familien beide Partner immer mehr arbeiten, um das Haushaltseinkommen stabil zu halten, besonders dann, wenn wichtige Ausgabenposten stark ansteigen (wie etwa die Mietkosten). In einer Lebenswelt, die den Individualismus zu ihrer Ideologie gemacht hat, mit dem Mantra aus Erfolg, Leistung, dem Anspruch, dass jeder etwas Besonderes sein muss, und nur diese Arbeit am Selbst Quelle von Status und Wohlfahrt sei, sitzen die Subjekte in der Falle. Wie den Erfolg haben sie sich auch das etwaige Scheitern selbst zuzurechnen und rennen damit immer schneller im Hamsterrad. Und bekommen gesagt, dies sei die beste aller denkbaren Welten.

Man muss Erfolg darstellen, um ihn zu haben. Der Hamburger Soziologieprofessor Sighard Neckel nannte das einmal das „gesellschaftliche Leid der Erschöpfung“, das sich ausbreite. „Je süchtiger eine Gesellschaft nach dem Erfolg greift, umso mehr Konkurrenten wetteifern um ihn, was eine zunehmende Anzahl von Aspiranten leer ausgehen lässt.“ Die Menschen haben davon ein – zumindest instinktives – Wissen, was ihnen aber erst recht nichts hilft. Gerade auch die die eher gesellschaftskritisch gestimmten Angehörigen der sogenannten „postmateriellen Milieus“ spüren einerseits diese zeitgenössischen Pathologien, können sich ihnen aber zugleich nicht entziehen, denn sie sind auch eingespannt in eine Welt der Bedeutungskonkurrenz und des Rattenrennens um die Plätze an der Sonne. Das Ergebnis ist ein Mittun mit einer gleichzeitigen Prise an Dagegensein, ein Leben in der Schwebe, mit täglichen Kompromissen. Man würde gerne ein bisschen anders, aber dafür fehlt die Zeit oder auch das Geld. Man funktioniert in dieser Welt und hat dann obendrein vielleicht auch noch ein schlechtes Gewissen.

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