Operation „kleineres Übel“

Wie im echten Leben ist es auch bei den Koalitionsverhandlungen: es gibt nur schlechte Möglichkeiten zur Auswahl.

Nehmen wir für einen Augenblick an, Sie haben ein kleines Einfamilienhaus, zugleich aber, weil Sie völlig enthemmt im Internet eingekauft haben, 100.000 Euro Schulden. In dem Fall haben Sie drei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: Sie stecken den Kopf in den Sand, tun nichts, und sind demnächst im Privatkonkurs. Möglichkeit zwei: Sie verkaufen ihr Häuschen und bezahlen mit dem Verkaufserlös Ihre Schulden. Möglichkeit drei: Sie finden auf der Straße einen Koffer, der randvoll mit Geld ist, worauf Ihre Probleme gelöst sind.

Sie sehen schon: Die letztere Möglichkeit ist die ideale Variante, zugleich aber eher unrealistisch. Genau gesagt: diese Möglichkeit können Sie von vornherein als unrealistisch ausschließen. Unter den realistischen Möglichkeiten bleiben also die beiden ersteren, die beide den Nachteil haben, dass sie für Sie unerfreulich sind. Entweder gehen Sie bankrott oder Sie verlieren ihr Haus, das Sie doch schon so lieb gewonnen haben.

In der wirklichen Welt sind wir Menschen sehr häufig damit konfrontiert, dass es die ideale Lösung einfach nicht gibt und wir zwischen verschiedenen unerfreulichen Möglichkeiten wählen müssen. Gerade in der Politik ist man andauernd mit dieser Tatsache konfrontiert.

Nehmen wir nur die Grünen. Wie alle Parteien, hätten sie sicherlich gerne eine absolute Mehrheit. Und wenn schon koalieren, dann mit einer Partei, die in Wertefragen einigermaßen ähnlich gestrickt ist. Ökologisch, solidarisch, basisdemokratisch, gewaltfrei – so steht es im grünen Parteiprogramm. In der wirklichen Welt ist es aber nun so, dass sie höchstens mit Sebastian Kurz koalieren können, und das ist ein paar Zentimeter von der grünen Ideallinie entfernt. Oder nehmen wir die SPÖ. Die weiß nicht so recht, was die weniger schlechte der schlechten Optionen ist: als Juniorpartner in die Koalition mit der ÖVP oder doch in die Opposition. Jedenfalls hat sie jetzt einmal die Sondierungsgespräche abgebrochen, wohl weil sie das für die beste der schlechten Möglichkeiten hält.

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Aber letztlich hat es auch Sebastian Kurz nicht einfach. Wieviele Optionen er am Ende wirklich hat, ist erstens gar nicht ausgemacht – keiner seiner potentiellen Partner ist besonders darauf erpicht, mit ihm zu regieren. Aber auch aus seiner eigenen Sicht hat er eigentlich nur schlechte Alternativen zur Auswahl. Koaliert er trotz Ibiza und all der Einzelfälle und peinlichen Ausritte, trotz der Nehmerqualität (Stichwort „stets zu Spesen aufgelegt“) noch einmal mit der Kickl-Hofer-Partie, dann braucht er sich in Europa im Grunde kaum mehr irgendwo sehen lassen. Die Schlagzeilen vom „jungen Star-Kanzler“, wie er sie beim letzten Mal trotz der FPÖ noch hatte, kann er sich dann abschminken. Außer Orban, Trump und Putin würde dann kaum mehr jemand gerne auf einem gemeinsamen Foto mit Kurz zu sehen sein.

Da ist die Variante mit den Grünen schon vielversprechender, denn dann könnte Kurz sich als modernen Konservativen präsentieren, der eine „Zukunftskoalition“ schmiedet. Zugleich gründet seine innenpolitische Dominanz aber darauf, dass er der FPÖ ganz viele ultrarechte Wähler abgenommen hat. Die Sorge, die dann sehr schnell wieder zu verlieren, ist ja nicht unberechtigt. Also: Koaliert er mit der FPÖ, dann hat er ein riesiges Imageproblem. Koaliert er mit den Grünen, könnte er Wähler verlieren.

Kurzum: Wie im wirklichen Leben ist es auch in unserer Politikwelt so, dass die ideale Variante keinem der Beteiligten zur Verfügung steht. Und letztendlich ist das ja fast immer so.

In der wirklichen Welt braucht man als Politiker Grundsätze, aber eben auch Realismus. Denn wünschen kann man sich viel, wenn der Tag lang ist. Aber erreichen wird man nur einen Bruchteil von dem, was man sich wünscht, und das eben auch nur, wenn man mit Realismus und langem Atem bereit ist, sich in kleinsten Schritten auf ein Ziel hinzubewegen. Gleichzeitig ist der Realismus auch eine Falle: Wenn Politiker sich über Jahre hinweg diesen „realistischen Pragmatismus“ angewöhnen, haben sie mit der Zeit oft ihre Grundsätze vergessen. Oder, wenn sie sie schon nicht vergessen haben, haben sie sich so an den „Realismus“ gewöhnt, dass sie zynisch geworden sind. Oder alle ambitionierten Ziele aus den Augen verloren haben. Zuwenig Realismus macht handlungsunfähig, aber zuviel Realismus macht lahm. Auch das ist ein Grund für die allgemein beklagte „Politikverdrossenheit“.

Man hat Fred Sinowatz, den Kurzzeit-Kanzler in den achtziger Jahren, einst ausgelacht für seine Aussage, dass „alles sehr kompliziert“ sei, aber er hatte natürlich recht.

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