Rückkehr zu den „einfachen Leuten“

Die arbeitenden Klassen wünschen sich einen Staat, der sich kümmert – und fühlen sich von den Sozialdemokratien hingehängt.

Die Zukunft, September 2019

Dieser kleine Essay kann auch als kurzer fragmentarischer Abriss meines nächsten Buches gelesen werden: „Die falschen Freunde der einfachen Leute“, das im November im Suhrkamp-Verlag erscheint.

Man könnte leicht dem Eindruck erliegen, in der Geschichte wäre selten mehr Bedacht auf die „einfachen Leute“ genommen worden als heute. Sie sind in aller Munde. Jeder sorgt sich um „das Volk“. Die politische Essayistik seziert seine Probleme und staunt über sein Tun. Die Wissenschaft bekümmert sich um seine Verwundungen. Die Sozialpsychologie denkt sich in ihn ein – in den vielzitierten „kleinen Mann“. Die einfühlende Soziologie schwärmt aus, und hört ihm zu, sammelt und systematisiert seine Erzählungen, die Beschwernisse seines Lebens und seine Wünsche. Diese Dauerpräsenz der „einfachen Leute“ als Objekt des Staunens steht im seltsamen Missverhältnis zu der Tatsache, dass genau diese „einfachen Leute“ angeblich darüber wütend seien, dass sie überhaupt nicht mehr repräsentiert seien, dass ihre Sorgen nicht einmal wahrgenommen werden, dass sich heute überhaupt niemand mehr für sie interessiert.

Aber natürlich hängt das auch zusammen: Gerade deshalb, weil die einfachen Leute das Gefühl haben, aus dem Zentrum an den Rand gedrängt worden zu sein, rebellieren sie an den Wahlurnen – und diese Rebellion, die teilweise mit dem Aufstieg des autoritären Nationalismus einher geht, führt dazu, dass man sie nicht mehr einfach ignorieren kann.

Da drängen sich aber sofort zwei Fragen auf. Erstens: Wer das denn überhaupt sein soll, die „einfachen Leute“? Zweitens: Und warum sind sie eigentlich so wütend?

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„Einfache Leute“, das sind einmal grob gesagt, jene, die nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind – also eher Kleinverdiener, aber nicht nur. Arbeiter und Arbeiterinnen, bis hin zur Mittelschicht im Einfamilienhaus mit zwei Autos vor der Tür. Leute, die sich als „die Normalen“ ansehen und vielleicht nicht jeden modischen Trend mitmachen wollen würden. Irgendwie ist es eine sehr verschwommene Vorstellung, die da gängigerweise kursiert, wenn von „einfachen Leuten“ die Rede ist. Letztlich sind wir doch alle einfache Leute, wenn wir nicht gerade zum Jet-Set der Superreichen gehören. Oft ist es auch eine stolze Selbstzeichnung. „Da wo ich lebe bedeutet ‚einfacher Mensch‘ ‚anständiger Mensch‘, weil bescheidenes (oder weniger bescheidenes) Auskommen mit ehrlicher Arbeit (meist körperlich) erschaffen“, so beschreibt das eine Frau. Und komischerweise sind, beim Begriff „einfache Leute“, eher selten der türkische Berufsschüler, der serbische Installateur oder die syrische Mitarbeiterin beim Post-Shop gemeint – obwohl die ja alle Charaktermerkmale haben, die oben aufgezählt sind, obwohl die „gute Leute“ sind, nicht auf die Butterseite gefallen, hart arbeitend, sehr oft geringes Einkommen.

Wer viel herum kommt und mit vielen Leuten redet, der weiß außerdem: Manche sind wütend, manche aber auch nicht. Zwischen „eh zufrieden“, „bisschen unzufrieden“ und „richtig zornig“ findet man in der wirklichen Welt natürlich alle möglichen Graustufen.

Natürlich haben „die einfachen Leute“ Grund genug, wirklich wütend zu sein. Normale Arbeiter und Angestellte waren früher – „das Volk“ genannt – jene Schicht, die das Land getragen haben. Arrogant kommen durfte denen niemand. Sie konnten sich anerkannt fühlen und hatten auch Sicherheit im Leben. Aber mit dem gesellschaftlichen Wandel und in einer Wirtschaft, wo Konkurrenz alles ist, hat sich das geändert. Die Menschen fühlen sich als Instrumente behandelt, als Kostenstellen auf zwei Beinen, die man einfach austauscht und weg wirft, wenn man sie nicht mehr braucht. Und das spüren viele, nicht nur die, die wirklich gefeuert werden oder deren Firmen unter gehen. Fast jeder arbeitet in Firmen die dauernd rationalisieren, die Löhne steigen nicht mehr, die Kosten schon, und fast jeder weiß, dass es ihn morgen auch erwischen kann. Das zerstört in vielen Betrieben sogar das Betriebsklima. Die Leute sagen resignierend: „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.“

Die Menschen haben aber zusätzlich das Gefühl, dass sie gar nicht vorkommen. Erst das führt zu Wut. Und zu einem Konkurrenzgefühl, das erst das Migrationsthema so groß macht: Weil ja dann jeder Ankommende ein zusätzlicher Konkurrent ist – um Wohnungen, Jobs, Bildung für die eigenen Kinder. Wo doch eh schon alles schwierig genug ist.

Beim Gerede über die „wütende weiße alte Arbeiterklasse“ gibt es eine Reihe von Mythen. Der erste besteht schon einmal darin, sie sich irgendwie kompakt, homogen vorzustellen. Dabei besteht sie natürlich aus vielen unterschiedlichen Menschen, die nicht nur in ihren Lebenslagen, sondern auch in ihren Werten und Normen unterschiedlich sind. Der zweite äußert sich in der Behauptung, sie seien irgendwie vollständig an die „rechten Populisten“ verloren gegangen – das ist natürlich völliger Unfug. Manche wählen rechts – viele aber auch nicht. Es gibt auch den Gegenmythos: dass es eher die statusbedrohte Mittelschicht der „Normalos“ sei, die anfällig für den rechten Populismus sei, weil diese das Gros der rechten Wähler stellt. Aber das heißt natürlich nicht, dass untere Mittelschicht, Arbeiterklassen und Prekäre nicht auch zu einem erheblichen Anteil rechts wählen.

Tatsächlich sind die verschiedenen Milieus der ehemaligen Arbeiterklasse, der neuen Arbeiterklasse, der Prekären und der unteren Mittelschichten freilich in einem einig: dass diejenigen, die sich anstrengen, harte Arbeit leisten, die mit 12-Stunden-Schichten ihre Familien durchbringen, heute viel zu wenig vorkommen; dass es für sie ökonomisch immer härter wird, aber sie auch nicht mehr „respektiert“ werden; dass sich um die Arbeiter und Arbeiterinnen viel zu wenig dreht. Studien aus Deutschland zeigten, dass sozialdemokratische Arbeiter und Arbeiterinnen und solche, die aus Wut zur AfD tendieren, im Grunde sehr ähnliche Werte und Normen haben. Beide Gruppen sind sich einig darüber, dass sie ungerecht behandelt werden und dass „das System“ für sie nicht mehr funktioniert und dass sie sich eine gesellschaftliche Ordnung zurück wünschen, in der Arbeiter respektiert werden und Leistung gerecht vergütet wird.

Die arbeitenden Klassen sind ökonomischer Konkurrenz ausgesetzt, machen Abstiegserfahrungen, erleben sich als austauschbar und sehen ihre Lebensweisen kulturell abgewertet. Dieser Zorn ist mit den Werten und Normen verbunden, die sich in den vergangenen zweihundert Jahren in den popularen Klassen entwickelt haben. Dem Ethos von harter Arbeit; dass man nichts geschenkt bekommt; dass einem aber Respekt für Leistung gebührt. Dazu gehört auch ein egalitärer Geist: dass jeder gleich viel Wert ist; ein Stolz darauf, „normal“ zu sein; ein Gemeinschaftssinn, mit Lokalpatriotismus und einer rebellischen, aber zugleich traditionalen Kultur. Man wird den Aufschwung des Populismus nicht erklären können, wenn man die verborgenen Verwundungen in einer Klassengesellschaft und deren psychopolitische Verheerungen nicht versteht. Und man wird aber zugleich die grundlegende Unzufriedenheit nicht verstehen, wenn man nicht die Werte und Normen versteht, wie sie in den vergangenen zweihundert Jahren in den „real existierenden“ Arbeiterklassen durchgesetzt haben.

Die Sozialdemokratie war historisch immer die Repräsentantin dieser „einfachen Leute“, hat aber aus verschiedenen Gründen die Fäden zu ihnen verloren. Das hat viele Gründe und man wird sie nicht verstehen, wenn man nur auf einen dieser Gründe mit dem Finger zeigt. Da ist erstens eine Anpassung an die neoliberale Ideologie und die Übernahme entsprechender Politiken. Da ist zweitens der Eindruck, dass man letztlich ohnehin nichts tun könne gegen den Konkurrenzgeist globalisierter Märkte. Die verwundbarsten Teile der Gesellschaft wünschen sich einen Staat, der sich kümmert – aber ihnen wird dauernd eingeredet, dass Politik das heute sowieso nicht leisten kann. Da ist drittens seit dreißig Jahren die Konzentration auf angebliche wahlentscheidende Mittelschichten (die berühmte „neue Mitte“), ausgehend von der zeitweise richtigen, aber langfristig fatal falschen These, dass man als Sozialdemokratie die popularen Klassen (die sogenannten „Kernschichten“) sowieso fix als Wähler habe, und dass man Mehrheiten nur erobere, wenn man die Mittellagen umgarnt. Scheinbar clevere Meinungsforscher haben dafür ihre „Sinus-Milieu-Studien“ bei der Hand, mit denen sie zuerst die Konzentration auf die Mittelschichten predigten und jetzt neunmalklug fragen, wie denn die Sozialdemokratien „das Proletariat“ verlieren konnten, als wären sie nicht die Hauptverantwortlichen dafür. Da ist viertens die langsame, aber nachhaltige soziologische Transformation der sozialdemokratischen Spitzen- und Funktionärskader, in denen akademische, urbane Mittelklasse-Aktivisten die politische Kultur prägen und die oft gar nicht mehr in der Lage sind, die Sprache der popularen Klassen zu sprechen und die deren Lage genauso wenig verstehen wie deren Werte und die nicht einmal mehr wissen, woher diese Werte kommen.

Aus all diesen verschiedenen Quellen speist sich seit mindestens zwei Jahrzehnten ein schleichender und mittlerweile rapider Glaubwürdigkeitsverlust, der nicht so einfach behebbar ist, da Teile dieser arbeitenden Klassen die Sozialdemokratien regelrecht hassen, weil sie sich von ihnen verraten fühlen, während sie zugleich insgeheim wissen „unter den Roten geht’s uns normalen Leuten doch am besten“. Manche Politiker und Politikerinnen glauben, mit drei, vier, fünf richtigen Forderungen (Mindestlohn; bezahlbare Mieten; Erbschaftssteuern etc.), könnte das wieder repariert werden, aber so einfach geht das nicht. Auch richtige Forderungen summieren sich nicht automatisch zu einem Gesamtbild, zu einem Image, zu einem klaren Profil einer Partei, wenn das Profil erst mal ausreichend verwaschen ist. Die Forderungen zahlen erst dann in eine kongruente Identität – in eine Art sozialdemokratische „Markenpersönlichkeit“ – ein, wenn man sie auch authentisch verkörpert, etwa, wenn man in den Vierteln mit glaubwürdigen Figuren präsent ist, nicht nur mit Apparatschiks, die sich vor den Leuten fürchten. Für die heutigen Sozialdemokratien ist das auch deshalb schwer, weil das unklare Profil ja nicht nur Folge eines Defizits, sondern auch Ausdruck einer Stärke ist: sie sind immer noch „Volksparteien“, die erhebliche Teile der urbanen, progressiven Mittelklassen als auch der einfachen Leute in den Vorstädten und kleinen Städten zu ihren potentiellen Wählern zählen. Dieses „große Zelt“ war in besseren Zeiten die Basis jener Allianz, die die Sozialdemokraten mehrheitsfähig machte. Aber es nötigt auch einen Spagat auf, der immer schwerer wird. Heute hängt aber die Überlebensfähigkeit der westlichen Demokratien davon von der Frage ab, ob es die Sozialdemokratien wieder schaffen, zu den authentischen Repräsentanten der einfachen Leute zu werden. Das war immer ihre historisch wichtigste Mission, und sie ist es heute wieder.

3 Gedanken zu „Rückkehr zu den „einfachen Leuten““

  1. Mindestlohn; bezahlbare Mieten; Erbschaftssteuern etc. sind dann kaum glaubwürdig, wenn man gleichzeitig willenlos einem 12 Stundentag (60 Stundenwoche) zustimmt indem man genau nichts tut.

  2. Es ist die schere arm-reich, die als damoklesschwert über dem Alltag hängt. Und es gibt eine heilige Kuh, die unaufhörlich diese Kluft vergrößert. Es ist die PROZENTIELLE Erhöhung von Gehältern und Pensionen. Der Abstand im Wohlstandsgefühl wird immer größer. Ohnedies sind etwa Pensionen extrem unterschiedlich (in der Schweiz gleichwertiger), aber dass die, die damit gut auskommen, immer mehr das Gespür verlieren, wie mies es sich im unteren Bereich leben muss, ist logisch. Sie bekommen zur guten Pension nochmal fest drauf, da unten schnürt sich die Brust immer enger. Das könnte man nur mit einer pauschalen erhöhung für alle lösen. Weil das existenzielle sich für alle gleichermaßen verteuert: mieten, gesundheitsprodulte, essen, kino, schultaschen, urlaub, kosten für alle gleich viel. Es gibt keinen Rabatt fürs weniger haben.
    Das Gefühl, abgehängt zu sein, der verlorene stolz, „normal“ zu sein, kommt insbesondere von der Sprache in der Politik. Von der Aura der „Leistungsträger“ versus der „sozial“ schwachen. Dass ein anlageberater, der mit Spekulationen Banken in die bankenrettung treibt, als Leistungsträger definiert werden mag, einfach jeder, der viel verdient, automatisch zum leistungsträger wird, während jene, die mit einem normalen bis kleinen einkommen gar nichts entgegenhalten können, obwohl sie kinder großziehen, angehörige betreuen, schichtarbeiten, auf vieles verzichten, um ihre ehrenvolle Leistung zu erbringen, ich zähle hier keine Berufe auf. Wiewohl also keinesfalls „sozial“ schwach eine geeignete Wortwahl ist, und die betroffenen das irgendwie wissen, verbreitet sich das Gefühl der wertlosigkeit, ohne dass dieses wiederum in Zusammenhang mit der politischen zweckrhetorik gebracht wird. „Der machbar kriegt bei prozentueller erhöhung hunderte euros prozentuelle erhöhung, ich nur 30 euro mehr. Selbst streitbare Gewerkschafter haben für mich dieses große Eisen noch nie angegriffen“, mag er denken. Oder auch nicht, denn der einfache Mensch ist ja oft unpolitisch im Sinne einer faktischen begründbarkeit.
    Die krux liegt in der Sprache.
    Denn man wird erfahren Haben, dass ein Kanzler Kern glaubhaft eine ganzheitliche Wahrnehmung verkörperte, aber die Sprache der meisten Medien (85 Prozent der Journalisten sollen aus gutgestelltem milieu kommen) und die abgehobenheit politisch relevanter entscheidungsträger und unfluencer sind stärker. Der Verlust jedes moralischen Gebote in politischen Kreisen und in teilen der gesellschaft gibt den Rest. Es vertritt niemand mehr wortgewaltig den starken Anker der Solidarität aller, jener großen politiker, die sich explizit dem Gemeinwohl verschrieben haben. Flankiert von Journalisten, die das noch nachvollziehen können und als mitstreiter ins horn blasen. Die meinungsmacher, die es noch können, verhaken sich im jammer, dass es nicht besser funktioniert.
    Journalismus muss auch sprachwissenschaftlich affin sein, sich mit dem Wort und seiner Wirkung befassen, manipulative Rhetorik studieren, um sie zu erkennen. Es ist hart genug gegenzusteuern bzw sich der Wirkung zu entziehen.
    Ich denke, man nannte die hemdsärmeligen Journalisten einst oft Reporter, heute sitzen sie im Büro und wenn sie dann auf pressereisen mit einem Politiker fahren, mögen sie diesen dann viel zu sehr. Ein Journalist muss Distanz halten können, was Disziplin erfordert und gar nicht leicht ist. Aber unabdingbar. Auch der journalistische Ethos ist oft spürbar verdampft.

  3. Wie konnte der FPÖ eigentlich der Fake gelingen, sich als Partei für die einfachen Leute zu inthronisieren?
    Auf was hin nimmt oder nahm man ihr das ab?
    Freibier beim politischen Aschermittwoch der FPÖ?

    Oder war es nur das Vakuum, das die SPÖ mit ihrer Wende zum Nadelstreif in den 1990ern hinterließ?

    Spätestens jetzt aber müsste für jeden mit Spuren von IQ Begabten die Sache gelaufen sein:

    Strache lebte als Mastermind der FPÖ auf großem Fuß, gab aber vor, für die „kleinen Leute“ zu kämpfen.

    „Unser Geld für unsere Leut“ wurde vollmundig gefordert, aber der Wähler hätte fordern müssen: definiert mir bitte „unsere“, wer ist das genau!

    Laut Wahlwerbung ist die FPÖ „Fair. Sozial. Heimattreu.“

    Im Ibiza-Video wurde jedoch die interne, völlig korrupte und antidemokratische Parteilinie enthüllt.

    Wie man aus Ibiza und Straches Spesenaffäre und der FPÖ-Finanzierung für Hofers Betonverschlag-Zaun entnehmen kann, ist dies alles Lug und Trug!
    Volk und Vaterland wird als Melkkuh und Selbstbedienungsladen betrachtet.

    Das ist pure Verachtung für „unsere Leut“.

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