Abschied vom Hackler

Wir leben in einer Ära des permanenten Strukturwandels. Alle wissen, sie sind ersetzbar, alle hoffen, selbst ungeschoren davon zu kommen. Das ist die Tiefengeschichte hinter der Krise der Sozialdemokratie.

Die Zeit, Oktober 2019

„Und dann war Krise“, sagt Ernst Schönberger. Es ist Ende Oktober und wir sitzen im T-Shirt neben dem Museum Arbeitswelt in Steyr auf der Terrasse in der Sonne. Die Steyr rauscht neben uns, ein paar hundert Meter weiter fließt sie mit der Enns zusammen. Wenn der bald 65jährige von seinem Arbeitsleben erzählt, ist es eine Erzählung, die sich von Krise zu Krise hangelt. Erst lernte Schönberger Maschinenschlosser in einem Betrieb, der bald ins Schlingern geriet. Mitte der siebziger Jahre heuerte er dann bei den Steyr-Daimler-Puch-Werken an, die damals noch als sicherer Arbeitsplatz galten. Traktoren, Lastwägen, Busse, Panzer, Sturmgewehre und andere Waffen produzierte der quasi-verstaatlichte Betrieb, dazu bald auch Motoren in Kooperation mit BMW. Aber die Nutzfahrzeuge schrieben rote Zahlen, und die Panzerexporte waren bald politisch unerwünscht.

Was folgte, war eine dreißigjährige Geschichte von Umstrukturierung, Filetierung, und Verkauf, der Schließung ganzer Werkstätten. Die LKW-Produktion wurde von MAN übernommen, die Motorenproduktion von BMW, SKF produziert Kugellager, die Sturmgewehre werden bei Steyr-Mannlicher produziert. „Einige Jahre lang sind regelmäßig Hundertschaften an Beschäftigten entlassen worden“, erzählt Schönberger. 3.500 Menschen waren es am Höhepunkt, die ihre Arbeit verloren hatten – in einem Einzugsgebiet von 40.000 Bewohnern. Steyr war damals Krisenregion.

Schönberger erzählt das mit seiner rauchigen, tiefen Stimme, hat eine Marlboro in der Hand, vergisst, sie anzuzünden. Von 1990 an war er 24 Jahre lang Betriebsrat bei MAN. Strukturwandel heißt für ihn, „du hast erwachsene Männer, die plärren“, weil sie nicht mehr wissen, wie sie nach der Kündigung die Familie ernähren sollen. Arbeiter, „die ihre Kollegen bei der Führungskraft denunzieren. Klar, das war nicht die Regel, das waren Einzelfälle. Aber das wirkt wie ein Virus. Da hängt eine Decke drüber und die heißt Angst“, sagt Schönberger. „Und die Angst ist nie mehr weg gegangen.“

Dabei ist Steyr eigentlich so eine Vorzeigeregion, die den Strukturwandel „bewältigt“ hat, wie das dann so gerne heißt. Aber der Strukturwandel ist permanent. Abteilungen werden geschlossen, die globalisierte Produktion funktioniert auch ganz anderes als in früheren Zeiten. „Fertigungstiefe Null“, haben sie bei MAN, wie das in der Fachsprache genannt wird, das heißt: Achsen, Motoren, Karosserien, einfach alles wird global verstreut produziert und in Steyr nur montiert. Da verschwinden immer wieder ganze Berufsbilder, und neben den Stammbelegschaften gibt es Leiharbeiter, die bei Auftragsspitzen eingestellt und in Flauten abgebaut werden. Wenn wieder ein Schwung an Leuten gehen muss denken sich die anderen, so Schönberger, „Gott sei dank erwischt es nicht mich.“

Unter „Strukturwandel“ verstehen wir, grob gesprochen, den Untergang bestimmter Industrien in den bisherigen Industriestaaten, die Verheerung ganzer Industriestädte, aber auch das sukzessive Verschwinden der früheren Leitfigur des Arbeitnehmers – nämlich des „Industriearbeiters“ – und die Ausbreitung völlig neuer Beschäftigungsformen. Die krassesten Erscheinungen davon haben wir alle vor Augen: Wenn ganze Industrien unter gehen, wie etwa der Kohlebergbau in Nord- und Mittelengland oder im Ruhrgebiet, wenn die meisten Standorte der Stahlindustrie dicht machen, wenn Leitbetriebe verschwinden wie die Werftindustrie an der deutschen Nordküste oder wichtige Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie in der Obersteiermark. Ein paar kanonische Bilder sind uns im Gedächtnis, von Rückzugsgefechten, die von Beginn an aussichtslos waren: der Bergarbeiterstreik in England, die Besetzung der Rheinbrücke in Rheinhausen im Ruhrgebiet.

Solche Niedergänge legen sich wie Katastrophen über Städte und Regionen, und selbst wenn der Strukturwandel geschafft ist bleiben traumatisierte Regionen zurück. Man weiß, was einem passieren kann. Eine ganze Generation wurde in ihrer Lebensleistung abgewertet. Die Menschen haben ja nicht nur ihre Stellen verloren, sondern auch all das, was mit Arbeit sonst noch verbunden ist – ihre sozialen Netzwerke, ihr Verwobensein in eine Gemeinschaft, und den Beruf, der ihren Tag strukturierte und ihnen Identität bot und eine Stellung in der Gesellschaft, die Stolz gab.

Der deutsche Wirtschaftshistoriker Lutz Raphael hat in der monumentalen Studie „Jenseits von Kohle und Stahl“ die ganze Geschichte der Deindustrialisierung nachgezeichnet. Und dieser Prozess ist mit dem Verschwinden bestimmter Leitindustrien längst nicht vollständig erfasst. „Gäbe es noch eine intellektuell wache Sozialdemokratie, dies müsste ihr Buch sein“, feierte Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“ Raphaels Studie. Der Wirtschaftshistoriker beschreibt, wie den sozialdemokratischen Parteien nicht nur ihr Kernklientel wegschrumpfte, sondern wie sich in den verschiedenen heutigen Arbeitnehmermilieus Entsolidarisierung breit machte – und zugleich die Sozialdemokratien zu Parteien moderner wohlsituierter Akademiker wurden. Wie also Fäden zerrissen, die die traditionellen Parteien der einfachen Leute von den Hacklern entfremdeten. Gewissermaßen der tiefere Hintergrund zum SPD- oder SPÖ-Untergangs-Gerede, wie es gerade die Talk-Shows dominiert.
Zunächst bedeutet Deindustrialisierung, auch dann, wenn sich Industrien behaupten können, den Verlust von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe. Und der ist „aufs Engste mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität verbunden“. Manche Industrien gingen weitgehend unter – Stahl, Werften, Bergbau, Textilindustrie –, andere konnten sich behaupten, in Westeuropa etwa die Chemieindustrie, die Elektroindustrie, Maschinenbau, Automobilbau, Rüstung, Luftfahrt. Aber auch diese Industrien erlebten natürlich massive Rationalisierungswellen, gerade die erlaubten es ihnen ja, sich im internationalen Wettbewerb zu bewähren.

Das heißt aber: Während in den Industrien, die im Zuge des Strukturwandels scheitern, gleich auf einem Schlag zehntausende Arbeitsplätze verloren gehen, sind auch darüber hinaus in anderen Branchen und Unternehmen die Beschäftigten damit konfrontiert, in Firmen mit schrumpfenden Belegschaften zu arbeiten, in denen der Rationalisierungszwang und der Druck, günstiger und effizienter zu produzieren, zu einem schleichenden Arbeitsplatzabbau oder zu immer wieder kehrenden Entlassungswellen führt. Das Gefühl der Sicherheit schwindet und wird durch ein stets empfundene Gefährdung ersetzt. Wenn Arbeitsplätze verloren gehen und sogar Massenarbeitslosigkeit existiert, dann betrifft das nicht nur die, die arbeitslos werden und deren Existenz auf dramatische Weise brüchig wird. Es betrifft alle anderen auch – sie fühlen sich gefährdet, ihr Auskommen steht stets auf Messers Schneide.

Mehr als zehn Prozent der österreichischen Beschäftigten befürchten, dass sie innerhalb der nächsten sechs Monate ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Von den rund eine Million neu aufgenommen Beschäftigungsverhältnissen im Jahr 2010 wurden rund 78 Prozent innerhalb von zwei Jahren wieder beendet. Im Laufe eines Jahres sind knapp eine Million Menschen irgendwann von Arbeitslosigkeit betroffen. Bei rund 3,8 Millionen unselbständig Beschäftigten eine immens hohe Zahl.

Lutz Raphael spricht vom „Abschied vom Malocher“, und Deindustrialisierung sowie der Einzug von endemischer Unsicherheit haben eine Reihe von Folgen. Eine ganze Alterskohorte scheidet durch Frühverrentung schon mit 50 Jahren aus dem Arbeitsleben aus, verliert seine Netzwerke, erleidet einen „sozialen Tod“. Die Großfabrik als Bezugspunkt industrieller Arbeitsbeziehungen verliert an Bedeutung. Für Leute ohne besonders gute Qualifikationen gibt es immer weniger gute Jobs, sondern nur Mini-Jobs und prekäre Stellen. Das erschwert vor allem jungen Leuten aus der Arbeiterklasse den Berufseinstieg und verlängert die Lebensphase schlechter, temporärer Beschäftigung, was etwa vor allem bei jungen Männern aus dem Migrantensegmenten zu sozialen Problem führt, die dann in der öffentlichen Debatte als „Integrationsprobleme“ verhandelt – und damit kulturalisiert – werden.

In einer Industriestadt wie Nürnberg in Bayern hört man ganz ähnliche Geschichten wie in Steyr. „Die Menschen waren über Jahre mit der Verarbeitung des Leids beschäftigt“, erzählt Olaf Klump-Leonhardt. Der große, drahtige Mann war fast zwei Jahrzehnte in verschiedenen Funktionen in der Verwaltung damit befasst, die Stadt aus der Krise zu führen. „Diese Geschichte des oft auch verzweifelten Kampfes mit dem Strukturwandel ist eigentlich die Geschichte meines Berufslebens“, staunt er selbst im Rückblick. Denn er ist da ja mehr hineingeraten, als dass es geplant war.

„Massenarbeitslosigkeit war plötzlich ein Phänomen“, erinnert Klump-Leonhardt sich an die achtziger Jahre. Es begann mit dem Untergang der Firma Triumph-Adler, ging weiter mit der Pleite von Grundig, dem Kollaps legendärer Leitfirmen wie Quelle und dem radikalen Stellenabbau bei AEG. Diese Schläge kamen wie ein Schock, aber Revolten lösten die Schließungen keine aus. „Es gab mehr stilles Leiden statt große Proteste. Die Menschen haben die Geschehnisse wie eine Naturkatastrophe angesehen.“ Zwar versammelten sich bei der AEG-Krise täglich hunderte Menschen vor den Werktoren, organisierten Proteste im Lichte brennender Ölfässer, aber letztlich war jedem klar: Gegen Unternehmen, die ohnehin die Betriebe schließen wollen, können Streiks wenig ausrichten. Das Maximum, was man erreichen kann, sind ordentliche Sozialpläne.

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Rasanter Strukturwandel verheert auch ganze Viertel, etwa die klassischen Arbeiterbezirke, wie die Nürnberger Südstadt, in der die Arbeitslosigkeit auf 18 Prozent hoch schnellte, und die beinahe zu so etwas wie einem Scherbenviertel wurde. Und auch wenn heute, zehn Jahre nach der AEG-Krise, die Katastrophe überwunden ist und sich neue Branchen und Industrien ansiedelten und erfolgreiche Unternehmen das gewerbliche Rückgrat der Region bilden – so steckt nicht nur die Erinnerung den Menschen in den Knochen. Viele sind nie wieder in den Arbeitsmarkt zurück gekommen.

„Posttraumatisierte Städte sind urbane und suburbane Gemeinschaften, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihre Leitindustrien verloren haben und sich davon nie mehr erholten“, formuliert der Sozialanthropologe Justin Gest, der die Folgen des Strukturwandels in den Arbeiterklasse-Bezirken von East-London und im Rust-Belt der USA unterssuchte. Wenn sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Arbeiterklasse „von den Armen zum Volk“ verwandelt hat – wie das die britische Forscherin Selina Todd formuliert –, dann verwandelte sich ein Teil dieser Klasse seit den achtziger Jahren wieder retour. Nicht alle, aber ein Teil dieser Klasse ist von Abstieg bedroht oder schon heimgesucht. Arbeitslos, unterbeschäftigt, unvermittelbar, oder auch in Jobs gefangen, die zu wenig Geld abwerfen, in Betrieben, in denen der Druck immer mehr wächst und in denen die Autonomie der Einzelnen immer mehr abnimmt. In denen immer mehr Überstunden geleistet werden müssen, um den erreichten, aber labil gewordenen ökonomischen Status aufrecht erhalten zu können. Zeitarbeit, schlechte Verträge, Arbeitsdruck, 12-Stunden-Tage verbreiten sich und werden mit dem Hinweis legitimiert, das sei notwendig, damit „unsere Unternehmen“ im globalen Wettbewerb bestehen können. Selina Todd resümiert über ihre Untersuchungen über die britische Arbeiterklasse. „Angst und Panik sind nicht auf diejenigen beschränkt, die arbeitslos sind, sondern plagen auch die Millionen, die sich Sorgen darüber machen, was mit ihnen passieren würde, wenn ihnen der Arbeitsplatz genommen würde.“

Der Verlust an Sicherheit verändert auch die sozialmoralischen Ordnungen in den Betrieben. Die Arbeitszufriedenheit nimmt ab, die Beschäftigten ziehen sich mental ins Privatleben zurück, leiden zugleich „unter dem Verlust innerbetrieblicher Solidarität“, entwickeln eine „fatalistische Grundhaltung“, sind aber gerade deshalb umso mehr „an ihren Betrieb gefesselt“ (Lutz Raphael), denn der eigene Arbeitsplatz steigt im Wert, wenn man weiß, dass man für ihn nicht so leicht Ersatz finden wird. Raphael zitiert einen Beschäftigten: „Die Leute sind vielleicht weniger motiviert, vielleicht verbittert, ich weiß es nicht… Man hört Gerüchte, immer nur Gerüchte, also sind die Leute vollkommen orientierungslos.“ Das Gerede, dass neue Kündigungswellen drohen, schon wieder Betriebsberater im Haus seien, dass Gefahr um die nächste Ecke droht, geht in Fabriken und Büros um. Raphael: „Solidarität ist verloren gegangen, die Arbeiter sind Einzelkämpfer geworden, von denen jeder hoffte, irgendwie ungeschoren davon zu kommen… Betriebliche Sozialordnungen reagieren prinzipiell besonders sensibel auf den Entzug von Vertrauen und auf zeitliche Ungewissheit.“

Gern wird von der „neoliberalen Ideologie“ und vom Streben nach Individualismus geredet, wenn das Thema „Entsolidarisierung“ aufkommt. Aber vielleicht haben ideologische Metageschehnisse viel geringere Auswirkungen. Nichts untergräbt schließlich Solidarität mehr, als das Gefühl, dass man als Einzelkämpfer darauf achten muss, selbst zu überleben.

Ein Gedanke zu „Abschied vom Hackler“

  1. „Nichts untergräbt schließlich Solidarität mehr, als das Gefühl, dass man als Einzelkämpfer darauf achten muss, selbst zu überleben.“

    Ich bin Einzelkämpfer, arbeite seit Jahren in einem Callcenter, lebe auf 27qm in einer Einzimmerwohnung unter lauter irregewordenen Leuten im Elendsquartier, werde im Alter (aber so alt wird man in diesen Joblagen nicht) von der Fürsorge leben wie mir der Rentenbescheid jährlich prognostiziert. Dennoch weiß ich wohl, dass Solidarität die einzige Option für arme Säue ist. Daher sehe ich auch keinen Grund, warum das ein Sozialdemokrat anders sieht bzw. nicht mit Mut und Entschlossenheit in solidarische Politiken münden lässt. Außer er selbst ist der Einzelkämpfer, der nur an seine Vorteile und an seine illustre Pension denkt.

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