Ich will, dass ihr Angst habt

Fahrlässigkeit und falsche Gelassenheit kann jetzt tausende Leben kosten. Die Regierung hat zu lange gezögert.

Während viele sich noch an die dumme Phrase klammerten, dass Corona doch nicht schlimmer als die normale Grippe sei, schrieb ich vor paar Wochen an dieser Stelle: „Viele sagen, Information würde vermeiden, dass sich Angst ausbreitet. Nun spricht alles dafür, die Menschen zu informieren, aber ich zweifle daran, dass das notwendigerweise die Angst nimmt. Erst seit ich mich über die Epidemie informiert habe, habe ich Angst.“

Ich erinnere daran nicht, um großtuerisch anzumerken, ich hätte es Euch ja gesagt, sondern aus einem wichtigeren Grund. Es fällt uns Menschen offenbar schwer, das Ausmaß einer Gefährdung zu verstehen, die noch nicht da, die noch nicht sichtbar ist. Und im Grunde ist das bis heute so. Noch immer handeln Menschen verantwortungslos. Wir sind in der schwersten Katastrophe seit 1945.

Nur dass wir erst in ein paar Wochen das Ausmaß wirklich spüren werden.
Nur wenn die rigorosen Maßnahmen greifen, die die Regierung jetzt gesetzt hat, und wenn jeder Einzelne sie dort, wo es in seinem Ermessen steht, auch übererfüllt, wird die Kurve abflachen. Wenn 60.000 erkranken, werden einige Tausend im Krankenhaus liegen, und ein paar tausend auf der Intensivstation. Das wird unser Gesundheitssystem gerade noch meistern. Werden es mehr, folgt Chaos.

Wir spüren davon im Moment noch nichts. Aber wir sind davon nur zwei Wochen entfernt.

Viele Menschen sagen, man soll den Leuten keine Angst machen. Aber ehrlich gesagt: Ich will, dass ihr Angst habt. (Fahr-)Lässigkeit kann jetzt tausende Menschenleben kosten.

Unsere Regierung hat einige Tage oder Wochen zu zögerlich reagiert, aber seit vorvergangenen Dienstag macht sie vieles richtig. Es ist jetzt nicht der Moment, den Verantwortlichen Versäumnisse vorzuwerfen, die sich nicht mehr ändern lassen. Das gilt aber nicht für die, die sich noch ändern lassen.

Wir müssen jetzt alle solidarisch sein. Zur Solidargemeinschaft gehören alle, die hier leben. Das Virus unterscheidet nicht nach Herkunft oder Vornamen. Alle müssen sich gegenseitig helfen, so gut das geht, und das wird schwierig genug, denn einander zu helfen besteht zunächst darin, einander aus dem Weg zu gehen. Bei Erdbeben, wo man Obdachlose aufnimmt und gemeinsam den Schutt wegräumt, ist Solidarität leichter. Pandemien, auch das müssen wir klar sehen, sind keine Schule der Solidarität. Jeder, der neben mir in der Trafik hustet, ist eine potenziell tödliche Gefahr.

Sebastian Kurz, diese kleine sarkastische Spitze sei mir erlaubt, hat vor zwei Wochen noch gesagt, dass sich „2015 nicht wiederholen dürfe“. 2015 haben viele zehntausend unserer Landsleute angepackt, als Menschen Hilfe brauchten, sie haben zusammen gehalten, gegeben, was sie konnten, waren für den Nächsten da. Wir werden diesen Geist von 2015 brauchen, wenn wir durch dieses Desaster kommen wollen.

Österreich, 18. 2. 2020

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