In einer Epidemie lernen wir viel über unsere Mitmenschen – und über uns.
Wir sind im Ausnahmezustand, und zugleich haben wir das Schlimmste erst vor uns. Es ist wie eine Naturkatastrophe in Zeitlupe. Dies führt zu Verunsicherung, fast zu einer komischen Spaltung: Katastrophe und Normalität zugleich. Epidemien und Pandemien, das lehrt die Geschichte, haben zu tiefen Mentalitätsänderungen geführt. Sie halten uns als Individuen und als Gesellschaft einen Spiegel vor. Wie verhalten wir uns in so einer Notsituation? Wer wirft die Nerven weg? Wie geht man mit anderen um, in einer Situation, wo man zugleich primär darauf achten muss, sich selbst zu schützen?
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Die Pandemien haben zu wüsten religiösen Aberglauben geführt, weil Menschen glaubten, die Seuchen seien eine Strafe Gottes. Sie haben auch zu Gemetzel geführt, weil sie dachten, Minderheiten hätten die Seuche eingeschleppt. Sie haben aber auch zu medizinischen Fortschritt geführt, weil bekannt wurde, dass Hygiene gegen die Ausbreitung der Epidemien hilft und dass es medizinische Gegenmaßnahmen gibt. Sie haben auch zu sozialem Fortschritt geführt, weil verstanden wurde, dass man nur dann sicher ist, wenn auch die Schwächsten sicher sind. Auch die Reichsten sind bedroht, wenn die Ärmsten in Zuständen leben, die der Seuche die Ausbreitung leicht macht. In Pandemien merkt man einfach, dass wir als Gesellschaft verbunden sind.
Pandemien ziehen den Vorhang weg.
Auch wir sehen jetzt, dass die Europäische Union in der Krise nicht gut funktioniert. Die einzelnen Nationen bekämpfen die Krise weitgehend auf sich alleine gestellt. Jeder versucht Schutzausrüstung und medizinische Instrumente, wie etwa Beatmungsgeräte, für sein Land zu bekommen, das führt zu Zwist.
Und wir sehen auch, dass wir alle ein wenig in einer Scheinwelt lebten: Wir haben uns daran gewöhnt, zu glauben, dass in modernen Gesellschaften die Dinge unter „Kontrolle“ sind, dass wir „Sicherheit“ haben. Natürlich wussten wir immer, dass uns ein Unglück ereilen kann, aber wir gingen davon aus, dass der moderne Staat und seine Institutionen immer funktionieren werden. Wir sehen jetzt in Italien, dass das ein Trugbild war. Und jetzt fürchten wir alle, dass das auch bei uns passiert.
Das reißt uns unser Sicherheitsgefühl weg. Es ist nicht sicher, ob es jemals wieder zurück kommen wird.
Insider, 26. 3. 2020