Zeit für mehr Solidarität

Ein Forscherteam hat die Gerechtigkeitsvorstellungen unter den Österreichern untersucht, und die normalen Leute selbst zu Wort kommen lassen. Fazit: Die Polarisierungsdiagnose ist übertrieben.

Die Zeit, Februar 2020

Neulich bei einer Versammlung in einem Wirtshaus-Hinterzimmer im oberösterreichischen Hinterland. Kleines Dorf, aus Bezirk und Umgebung sind zwei, drei Dutzend Leute gekommen. Wie immer gibt es die, die gelernt haben, viel und pointiert zu reden. Nach fast zwei Stunden meldet sich ein kleiner, runder Mann zu Wort, der bisher geschwiegen hat. „Es geht schon nicht gerecht zu bei uns, muss ich sagen.“ Er ist nicht gerade der große Redner, aber auf Nachfrage erklärt er, was er meinte: Er arbeitet seit Jahrzehnten bei der Müllabfuhr, geht selbst mit kaum mehr als 1600 Euro brutto heim und findet es nicht in Ordnung, wenn Sozialhilfebezieher fast so viel zur Verfügung haben wie er selbst. Schließlich stehe er morgens früh auf und macht einen Job, der in die Knochen geht.

Andere Episode, ein paar Wochen später. Ein Freund erzählt von der Oma, Mindestpensionistin, und wie die auf Flüchtlingsmädchen reagiert hat. „Das ist schon hart, die sind seit drei Wochen da und kriegen genauso viel wie ich.“ Die Oma ist ein guter Mensch, sie findet das irgendwie richtig und falsch zugleich. Es fordert ihre instinktiven Gerechtigkeitsvorstellungen heraus. Schließlich habe sie ein Leben lang gearbeitet und hat jetzt eine Rente, die etwa genauso hoch ist wie das, was man an Mindestsicherung bekommt, wenn man bei uns einen stabilen Aufenthaltstitel hat.

Zwei Episoden, zwei Beispiele für Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeitsnorm eins betont, dass einem durch Leistung, harte Arbeit und Mühe etwas zusteht – im Notfall auch die Hilfe durch die Solidargemeinschaft. Aber dass niemand ein Freispiel haben sollte. Die zweite: Wer neu in eine Solidargemeinschaft dazu kommt, sollte sich erst einmal hinten in der Schlange anstellen. Wer lange dazu gehört, sollte höhere Ansprüche haben.

Alles gut begründbare Gerechtigkeitsnormen.

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Carina Altreiter sitzt im Café Westend beim Westbahnhof und erzählt von ihren Forschungen und Gesprächen mit jenen Teilen der Bevölkerung, die man so salopp gerne die „einfachen Leute“ nennt – und die sich selbst als solche verstehen. „Uns war wichtig, wertschätzend mit dem umzugehen, was die Leute unter Gerechtigkeit und Solidarität verstehen. Die Menschen machen sich ja ein Bild von der Welt.“ Gemeinsam mit einem Forscherteam um den Soziologen Jörg Flecker hat Altreiter an einer Studie gearbeitet. „Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft“, gerade auch als Buch erschienen. Dafür haben sie eine großangelegte Umfrage gemacht und dann 48 Österreicherinnen und Österreicher in langen Interviews intensiv befragt.

Arbeiterinnen, Angestellte, Ärzte in Großstädten, Handwerker am Dorf, Bankangestellte in der Kreisstadt – die gesamte bunte Vielgesichtigkeit der Gesellschaft. „Ich komm ja selbst aus dem Mühlviertel“, lacht Altreiter.
Wer das reale Meinungsklima im Land verstehen will, sollte dieses Buch lesen. Denn das Bemerkenswerte an dieser großen Feldstudie ist, dass die Befragten selbst lange und ausführlich zu Wort kommen – dass nicht nur ihre Meinungen dokumentiert werden, sondern ein Bild ihrer Identität, ihrer Werte und ihres Charakters deutlich wird. Ganz im Stil der großen Untersuchungen, wie sie einst etwa der legendäre französische Soziologe Pierre Bourdieu erstellte.

„Es kann ned sein, dass zum Beispiel eine Friseurin, die, weiß ich nicht, 1.100 Euro kriegt für 40 Stunden, die arbeitet 40 Stunden und kann sich in Wahrheit keine 50-Quadratmeter-Wohnung leisten, den ganzen normalen Standard, eine Wohnung, ein Auto, ein Handy, und ein bissl ein Leben. Das geht nicht. Es kann nicht sein, dass einer, der 40 Stunden arbeitet, sich sein Leben nicht finanzieren kann“, sagt eine Frau. Ein 23jähriger Fabrikarbeiter meint: „Ja, ich denke mir einfach, für was ich eigentlich arbeite. Eigentlich eh für nix, für irgendeinen, der viel Geld kriegt, und ich kriege das bissel.“

Die Frau fügt noch hinzu: „Ich kann nicht für’s Nixtun mehr kriegen als fürs Arbeitengehen. Und es kann auch nicht sein, dass eben so gewisse Branchen so schlecht bezahlt sind, dass du in Wahrheit deinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kannst.“

Wieder eine andere: „Wie gesagt, für mich sind das die Schlimmen, die einfach herkommen, nix arbeiten wollen, sich nicht integrieren, gar nix.“ Ein anderer meint, dass man, wenn man etwas braucht, sich auf den Staat nicht verlassen kann, eine andere Frau verweist auf den Wechsel von Eva Glawischnig zu Novomatic und sagt, „dass man die hohen Leute alle kaufen kann“.

Unzählige Stimmen, oft widersprüchlich, manchmal wirr durcheinander – und doch sind die vielen verschiedenen Gruppen gar nicht so weit auseinander. Aber, so die Forscherin Altreiter: Es gäbe sicher relative Extreme, aber „dazwischen gibt es viel Konsens“.

Sieben „Solidaritätstypen“ haben die Forscher nach ihren Gesprächen systematisiert.

Gruppe Eins sind diejenigen, die sich selbst als Unterprivilegierte sehen, und für alle eintreten, die nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind – egal, welchen Pass sie haben oder wo sie leben. Das wäre, plakativ gesagt, der linke, politisch relativ bewusste Gewerkschafter.

Gruppe Zwei sind diejenigen, die selbst gut situiert sind, aber meinen, man müsse allen helfen, die das brauchen, um eine gute Gesellschaft zu schaffen. Typus: der Arzt, der Grüne wählt, die wohlsituierte bürgerliche Frau in der Kleinstadt, die bei der Caritas mitarbeitet und dennoch ÖVP wählt.

Gruppe Drei meint, wer Unterstützung bekomme, muss sich auch anstrengen. Wer das aber tut, der gehört dazu. Wer das nicht tut, gehört nicht dazu. Leistungsträger sollen aber auch nicht zu sehr geschröpft werden. Typus: Anhänger der Idee der „Neuen Gerechtigkeit“ Sebastian-Kurz-Styles.

Gruppe Vier ist damit verwandt, aber sie vertritt mehr das Leistungs- und Arbeitsethos, wie man es in den arbeitenden Klassen findet: Respekt steht dir dann zu, wenn Du dich anstrengst, fleißig arbeitest, früh aufstehst, eine mühselige Arbeit machst, dich durchbeißt. Dieser Arbeitsethos ist für diese Gruppe auch wichtig, weil er „für die Befragten eine wesentliche Quelle gesellschaftlicher Anerkennung darstellt“.

Gruppe Fünf teilt viele Ansichten der beiden vorhergehenden Gruppen, aber aus einem anderen Grund. Die Befragten sind kulturell konservativ und machen sich Sorgen um die Werte der Gesellschaft, um die „moralische Ordnung“, dass Disziplin, Ordnung und Verlässlichkeit den Bach runter gehen.

Gruppe Sechs schließlich hat den Eindruck, dass für die Bedürftigen bei uns und für die, die mit ihrem Einkommen nicht über die Runden kommen, zu wenig getan wird, dass man sich auf den Staat nicht verlassen kann, wenn man ihn braucht. Dass „mehr für die Unsrigen getan werden muss“. Typus: der Arbeiter, der FPÖ wählt.

Nur Gruppe Sieben lehnt Migration und Ausländer vollständig ab.

Es wäre aber vorschnell, würde man meinen, eine dieser Gruppen wäre „solidarischer“ als die andere. Jede hat ihre eigene Moral. Umstritten ist aber, und das ist historisch nichts Neues: Wer gehört eigentlich zur Solidargemeinschaft dazu? Alle Menschen auf der Erde? Nur die Arbeiter oder die „einfachen Leute“? Nur die Österreicher? Alle, die länger hier leben? Was heißt länger? Drei Jahre, fünf Jahre, zwanzig Jahre?

Vieles kommt einem bekannt vor, nicht nur aus Gesprächen im Alltag, sondern auch aus internationalen Arbeiten, etwa Joan C. Williams Studien über die amerikanische „weiße Arbeiterklasse“ oder Justin Gests vergleichende Forschungen über die amerikanische und britische Arbeiterklasse, die sich als „die neue Minderheit“ ansieht: respektlos behandelt, gesellschaftlich nicht mehr zentral, ökonomisch unter Abstiegsstress, mit dem permanenten Gefühl, ersetzbar zu sein. Der Forscher Claus Dörre hat wichtige Arbeiten über die Arbeitnehmermilieus in Ostdeutschland gemacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass sozialdemokratische und AfD-affine Arbeiter in ihren Werthaltungen sehr ähnlich sind. Beide fühlen sich „ungerecht behandelt“, üben deshalb „Kritik am ‚System‘“ und sehnen sich „nach einer Republik zurück, in der Arbeiter respektiert waren und Leistung gerecht vergütet wurde.“

So weit sind auch hierzulande die Leute nicht auseinander, weshalb Verständigung zwischen ihnen möglich ist: So ist Konsens, dass der österreichische Sozialstaat im Grunde eine sehr gute Sache sei. Dass Menschen in Not geholfen werden muss, wird von kaum jemandem bestritten. Wer nach Österreich als Flüchtling oder Migrant kommt, sich anstrengt, fleißig ist und sich integriert, soll dazu gehören. Aber wer neu dazu kommt, soll sich auch hinten in der Schlange anstellen und nicht vordrängeln. Wer sich anstrengt, hat wiederum Wertschätzung verdient, aber „eine Verletzung dieser Logik wird als Ungerechtigkeit erlebt.“

In der Realität gehen die verschiedenen Gerechtigkeitsnormen durch die realen Menschen hindurch, weil „einzelne Personen unterschiedliche Haltungen in sich vereinen“. Sie sind „Sowohl-als-auch-Typen“. Und noch etwas anderes wurde für die Forscher sehr sichtbar: Mediale und politische Diskurse haben den allermeisten Menschen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gemacht, dass der Staat sparen und Firmen knausern müssten, um im globalen Wettbewerb zu bestehen, dass eben kein Geld für wachsende Löhne, höhere Renten und ähnliches da ist. Es gab so etwas wie eine demoralisierte Akzeptanz. Aber dann passierten zwei Dinge: Erst die Weltfinanzkrise, in der dann über Nacht Milliarden für die Bankenrettung ganz leicht locker gemacht wurden. Und dann die Flüchtlingskrise von 2015, wo auch der Eindruck entstand: Für andere ist auf einmal Geld da. Beide Geschehnisse brachten etwas zum Kippen. In gewisser Weise war das „eine Provokation“, sagt Carina Altreiter. Der Modus des Abfindens wurde gestört.

Deutlich wurde auch: Das Thema „Klasse“ spielt eine große Rolle. „Es gibt ein Leid der arbeitenden Klassen, die Menschen spüren das, sie drücken es auch in den Gesprächen aus, aber es wird im politischen Raum überhaupt nicht artikuliert.“ In der Studie liest sich das so: „Die Adressierung von Problemlagen der arbeitenden Bevölkerung werde weitgehend den rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften überlassen.“

• Altreiter/Flecker/Papouschek/Schindler/Schönauer: Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft. Promedia-Verlag, Wien, 2019. 200 Seiten, 17,90.- €

Ein Gedanke zu „Zeit für mehr Solidarität“

  1. Wäre sehr vorsichtig, denen, die immer nur nach denen treten, die noch weniger haben, Gerechtigkeit als Motiv zu unterstellen.
    Dahinter steckt v.a. der Wunsch, noch jemanden unter sich zu wissen in der Hierarchie der Horde, viele dieses Typus würden es sogar vorziehen, weiter ausgebeutet zu werden und stetig „versorgt“ zu werden mit einem Sündenbock, als besser gestellt zu werden, ohne hetzen zu dürfen.
    Eine freiheitliche Grundsicherung würde ihnen eigentlich ja auch selber nützen, weil sie die Arbeitgeber zu besseren Angeboten zwingt, ein marktwirtschaftlicher Mechanismus, der von Linken und Liberalen kaum noch gesehen wird.
    Daher ist in der Tat eine solidarische Politik angesagt, um die echt Solidarischen zu stützen und um die Niederträchtigen zu neutralisieren, letzteres aber im Sinne des politischen Ausschaltens- wer sie hofiert, wird hingegen nur die Rechte weiter stärken, und ihre Vorstellungen vom faschistischen Sozialstaat.
    Leider offenbart das einmal mehr die Schieflage im linksliberalen Bereich- statt selbstbewußter Sozialpolitik, verbunden mit scharfer Ablehnung der Idenditätspolitik, tritt man verzagt auf im Sozialen und läßt sich gleichzeitig kräftig einseifen lassen von „korrekter“ Kulturpolitik- die Rechten bedanken sich.

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