So arbeitet der Tod

Es wird unterstellt, an Corona sterben vorwiegend Menschen, die „sowieso gestorben wären“. Ich hätte da eine Geschichte zu erzählen…

Mein Freund Thomas Strittmatter war zu Lebzeiten ein berühmter Mann – und heute ist er es irgendwie noch immer. In seiner Heimatstadt haben sie die Schule nach ihm benannt – das „Thomas-Strittmatter-Gymnasium“, und es gibt auch einen Literaturpreis, der seinen Namen trägt. Er war so ein Wunderkind, hat schon als Teenager alle großen deutschen Theaterpreise abgeräumt, mit dreißig hatte er alle deutschen Filmpreise ergattert (für seine Drehbücher). In den neunziger Jahren wohnten wir gemeinsam in Berlin, er hatte seine WG mit einem Kumpel ein Stockwerk über mir. In meiner Wohnung hatte er seine Schreibstube. Wir hatten uns das schön ausgemalt: Tagsüber Tür an Tür schreiben, sich Abends dann die Texte vorlesen. An seinem letzten Lebenstag gingen wir nach dem Tagwerk essen, danach in unsere Lieblingskneipe auf einen Grappa, später wollten wir uns mit Freunden den Rohschnitt seines jüngsten Filmes ansehen.

Als ich zu ihm dann in die Wohnung hinauf ging, lag er zwischen Klo und Duschkabine – bewusstlos, wie ich zuerst annahm. In Wiederbelebung war ich, wie sie sich denken können, kein großer Profi. Außerdem, versuchen sie einmal alleine einen bewußtlosen 100-Kilo-Mann über das Klo zu in stabile Seitenlage zu heben. Der Notarzt kam schnell, richtete eine Art Intensivstation ein. Nach 45 Minuten sagte er: „Wir konnten leider nichts mehr tun.“

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Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Mein Freund hatte einen angeborenen Herzklappenfehler, den die Ärzte regelmäßig kontrollierten. Es war schon klar, irgendwann werde man den operieren müssen. Dann fing er sich eine Grippe ein, beim Filmdreh, da arbeiten ja hunderte Leute eng miteinander. Er lag ein oder zwei Wochen darnieder, hatte 40 Grad Fieber. Zwei Monate später war er tot, weil die Influenza seinen Herzklappenfehler von „beobachtungswürdig“ in Richtung „tödlich“ verschlimmerte. Er wurde 33 Jahre alt.

Für uns Hinterbliebene war unser Freund „an seinem Herzklappenfehler“ verstorben. Aber heute weiß ich, dass das nicht stimmt, oder nur halb. Er ist an der Influenza gestorben.

Wir müssen solche Geschichten im Bewusstsein haben, wenn uns gesagt wird, an der Corona-Epidemie würden doch überwiegend nur die Alten und die Vorerkrankten sterben. Klar, auch Gesunde verschlechtern sich in der Intensivmedizin. Haben einen Lungenkollaps. Ersticken dann. Aber doch würde es vornehmlich die Kranken treffen. Die sterben, hört man dann sogar, ja nicht „an Corona“, sondern „mit Corona“. Unterstellt wird: die würden sowieso sterben. Aber das ist Unsinn, sieht man einmal von der schlichten Wahrheit ab, dass alle Menschen irgendwann sterben. Die meisten hätten vielleicht noch zwei, noch zehn, vielleicht noch zwanzig Jahre gelebt, obwohl sie eine Vorerkrankung hatten. So wie mein Freund. Vielleicht wäre er ohne Influenza mit 35 Jahren oder mit 48 Jahren gestorben, oder er würde heute noch leben. Man weiß das nicht. Alles was man weiß ist: er ist in Folge der Influenza an seinem Herzklappenfehler gestorben, an dem er ohne Influenza höchstwahrscheinlich nicht so schnell gestorben wäre.

Wir sollten solche Geschichten immer vor Augen haben, wenn uns Kommentatoren, Experten oder auch Ärzte erklären, dass viele der Toten „an ihren Vorerkrankungen“ gestorben wären. Viele dieser namenlosen Opfer sind vielleicht zehn Jahre früher gestorben als sie sonst gestorben wären. Hätten wir den Mumm, denen ins Gesicht zu sagen: „Ob Du jetzt oder in zehn Jahren stirbst, ist doch egal…“

(„Österreich“, 21. 4. 2020) 

10 Gedanken zu „So arbeitet der Tod“

  1. Sehen Sie, Herr Misik, Sie haben es genau getroffen: Menschen mit schweren Vor- oder Grunderkrankungen starben und sterben mitunter an einer Grippe, einem an sich harmlosen Infekt oder auch an besonders schlechten Umweltbedingungen wie Smog, Bedingungen und Krankheiten, die einem gesunden Menschen wenig bis nichts ausmachen. Niemand, bis auf irgendwelche Zyniker, sagt: „Pah, die wär’n eh gestorben, habt euch nicht so.“ In der Diskussion geht es doch darum festzustellen, wie tödlich – und zwar grundsätzlich für alle – ist dieses Virus. Trauern müssen wir um jeden Menschen, der stirbt.

  2. Als mein Sohn auf die Welt kam, gaben ihm die Experten gerade mal ein halbes Jahr. Trotzdem entwickelte er sich gut.
    Er starb mit eineinhalb Jahren wegen einer immer wieder aufgeschobenen OP. In unseren Händen im Krankenhaus.
    „Seien Sie dankbar, dass er so unerwartet lange gelebt hat“ hat man uns damals gesagt.
    Vorerkrankungen waren schon immer ein gerne verwendetes Argument…

  3. Als eine Person mit Vorerkrankungen: Ich bin 57 und würde gerne noch 3 Jahre arbeiten und dann nach 40 Arbeitsjahren zumindest 10 Jahre meiner Pension genießen, bevor ich ins Gras beiße. Danke an alle.

  4. Es ist schade um jeden Menschen, aber die Geschichte ist eine glatte Themenverfehlung: „Er ist an der Influenza gestorben.“ Das ist sehr traurig, aber was hat das mit Corona zu tun? Und was sollen wir daraus lernen? Bis jetzt hab ich noch nicht gehört, dass jemals jemand gefordert hat, das ganze Land wegen einer Grippewelle herunterzufahren. Sollen wir jetzt jeden Winter alles für zwei Monate zusperren?

    1. Herr Fliesser, ihren Kommentar kann ich nur bestätigen, genauso empfinde ich es auch, aber irgendwie scheinen das die Wenigsten nachvollziehen zu können…
      Man sollte sich auf die häufigsten Todesursachen konzentrieren, das sind laut statistischem Bundesamt nach wie vor Herzkreislauferkrankungen und Krebs…
      Bewegung, gesunde Ernährung, saubere Luft und einen Lebenssinn minimieren das Risiko zu erkranken und frühzeitig zu versterben enorm.

  5. ich sehe das anders…mein sohn 19 jahre starb bei einen autounfall..warum???..kern gesund…manche sterben bei einem flugzeug absturz…manche beim fallschirm absprung…mal sehr jung…mal jung.. manche alt…manche sehr alt….manche überleben einen flugzeug absturz…und jetzt achtung..es gibt menschen die stolpern..und sterben an den folgen des sturzes…egal ob alt oder jung…was haben alle gemeinsam…außer das sie gestorben sind???
    ihre lebensuhr war abgelaufen!!!!! so sehe ich das seit damals

  6. Eine schreckliche Geschichte. Und ein herber Schlag, einen guten Freund zu verlieren. Allerdings ist das Strittmatter Gymnasium in Gransee mitnichten nach Thomas benannt, sondern nach Erwin Strittmatter.

      1. Stimmt, das war mein Fehler! Ich denke als Granseer eben viel zu schnell an Strittmatter dort. Aber nun habe ich wieder etwas dazugelernt!

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