Der gute Mensch von Cambridge

John Maynard Keynes ist heute wieder gefragt, weil seine Lehre gebraucht wird, um aus der Krise zu kommen. Aber er war nicht nur ein Ökonom für schlechte Tage. Keynes hat gezeigt, wie eine Volkswirtschaft Wohlstand und ein gutes Leben für alle schaffen kann. Was würde er heute raten?

Arbeit und Wirtschaft Online

Wir stecken mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit Menschengedenken, und da wird auch aus Ecken, aus denen man es normalerweise nicht vernimmt, ein Name genannt: John Maynard Keynes. Der britische Staatsmann und Wissenschaftler von der Universität Cambridge war der größte Ökonom der letzten Jahrhunderte, in seiner Liga spielen wohl außer Adam Smith und Karl Marx nicht sehr viele Konkurrenten mit. In einer Krise wollen schlagartig alle Keynesianer werden, denn wenn es schlecht geht, dann ist die Zeit für die Rezepte von John Maynard Keynes.

Keynes hat schließlich gezeigt, dass es in einer Krise notwendig ist, dass der Staat viel Geld in die Hand nimmt, damit ein Totalabsturz abgewendet und die Wirtschaft wieder flott gemacht wird, etwa durch Konjunkturprogramme. Aber das ist eine Keynes-Interpretation für einfache Gemüter, die den großen Briten nicht verstanden hatten – und ihn einfach als Schlechtwetterökonomen missverstehen, aus dessen Instrumentenkasten man sich bedient, wenn es schlecht läuft, und den man vergessen kann, wenn es wieder besser wird.

Zuletzt sagte das einmal wieder Finanzminister Gernot Blümel in aufreizender Schlichtheit: „Kurzfristig hat Keynes recht, langfristig Hayek.“ Jetzt hat Blümel höchstwahrscheinlich weder von Keynes noch von Hayek je eine Zeile gelesen (an sich keine empfehlenswerte Tatsache bei einem Finanzminister), denn diese Aussage ist auf so vielen Ebenen absurd. Man erinnere sich nur daran, dass der ultraliberale Fundamentalist Friedrich August von Hayek der Meinung war, ein Sozialstaat, der stark in das Wirtschaftsleben eingreift, würde zur Despotie führen (eine Voraussage, die die vergangenen siebzig Jahre widerlegten), und dass Hayek sogar die Demokratie ablehnte, weil er fürchtete, dass Volksherrschaft dazu führen, dass die Mehrheit einfach in die Wirtschaftsfreiheit der Unternehmen und reichen Investoren und in die Eigentumsordnung eingreifen würde. Hayek sah sich als Freund einer solchen „Freiheit“, weshalb er ein Gegner der Demokratie in unserem Sinne war, also mit gewählten Parlamenten, Volkssouveränität und Regierungen, die sich auf Mehrheiten in diesen Parlamenten stützen müssen.

Ist Ihnen freie Publizistik etwas wert? Robert Misik, IBAN AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW

Nicht gerade ein Mann, von dem man sagen kann, er habe lang-, kurz- oder irgendwie-fristig recht, wenn man nur halbwegs eine Ahnung hat, wovon man redet.

Es heißt aber Keynes massiv falsch zu verstehen, würde man glauben, sein Thema sei nur die Stabilisierung einer Ökonomie in der Krise gewesen. Tatsächlich war das zwar ein wesentliches Element dessen, was er entdeckt hat, nicht zuletzt im Gefolge der Großen Depression der Dreißiger Jahre. Aber Keynes war viel mehr als das: Er wusste, dass eine kapitalistische Marktwirtschaft, die man ungehindert schalten und walten ließe, stets zu endemischer Instabilität neigt und dass gerade das Auf und Ab auf den Finanzmärkten diese Instabilität noch verstärkt. Deshalb suchte er nach Institutionen, die ganz generell und langfristig zur „Stabilisierung einer instabilen Ökonomie“ (eine Wendung des Keynes-Schülers Hyman Minsky) beitragen würden. Und dazu gehören: Der Staat selbst, der eiserne Regeln für die Marktwirtschaft setzt. Der selbst auch öffentliche Investitionen vorantreibt, etwa in die Infrastruktur. Der Institutionen schafft, von der Arbeitslosen-, der Renten-, der Krankenversicherung, bis hin zu Förderungen für Unternehmen, die sowohl Konsum als auch Investitionen stabil halten und Zukunftstechnologien erschließen.

Was also würde Keynes in unserer heutigen Notsituation, im Lichte der keynesianischen Wirtschaftstheorie, vorschlagen? Zunächst einmal: einen Zusammenbruch so weit als möglich vermeiden, Unternehmen retten, um eine Pleitewelle zu verhindern. Und zwar mit Maßnahmen, die funktionieren. Halbgare Lösungen, die viel zu kurz greifen, und die dann erst recht zu Insolvenzwellen führen, kosten einer Volkswirtschaft langfristig Kapazitäten, da die Firmen dann einfach verschwunden sein werden und nicht einfach zurück kommen. Weiters: Einen Einbruch der Konsumnachfrage so gut als möglich zu bekämpfen, durch Anreize zum Einkaufen, durch ein möglichst hohes Arbeitslosengeld. Öffentliche Investitionen, die die ausgefallenen privaten Investitionen und die Konsumnachfrage ersetzen.

Aber es wäre sogar noch zu kurz gegriffen, würde man den Werkzeugkasten des Keynesianismus als Sammelsurium an Instrumenten der bloßen Stabilisierung der Wirtschaft ansehen. Denn Keynes war ein Philosoph, geleitet von ethischen Überzeugungen und einem Gerechtigkeitssinn. Seine Wirtschaftsdoktrin war „philosophisch angetrieben“, wie das der große Keynes-Biograph Robert Skidelsky formulierte. Nach Keynes Ansicht hätten wir längst alle Möglichkeiten, das „ökonomische Problem der Menschheit“ zu lösen, nämlich die Knappheit, einfach aufgrund des Grads an Produktivität, den wir erreicht haben. Das ist keine Kleinigkeit: Denn damit kann die Unsicherheit, der Mangel aus dem Leben der Menschen verbannt werden, die Geißel von Unterprivilegiertheit und Chancenarmut. Wir können uns damit der Frage stellen, wie wir leben wollen und welche Gesellschaft wir wollen. Nämlich eine, in der alle Menschen gut leben.

Keynes war kein linksradikaler Utopist, im Gegenteil, er war Zeit seines Lebens ein Liberaler und ein Wirtschaftstheoretiker und -praktiker, der Märkte und unternehmerische Leistungen bewunderte. Aber er war als Denker ein Radikaler und er radikalisierte sich. Er wurde auf gewisse Weise „Sozialist“, wie das dieser Tage Jeffrey Sachs in einem großen Essay formulierte, der berühmte amerikanische Ökonom. Keynes Philosophie, die seiner Wirtschaftslehre zugrunde lag, „zielte auf das Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzes“, auf eine Art „liberalen Sozialismus“ (Sachs). In Keynes Worten: „Ein System, in dem wir als organisiertes Gemeinwesen gemeinsame Ziele verfolgen, um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erreichen, während wir das Individuum und seine Rechte respektieren und verteidigen – seine Freiheit, seine Wahlmöglichkeiten, seinen Glauben, die Gewissens- und Meinungsfreiheit, die Freiheit seiner Unternehmungen und seines Eigentums.“

Das klingt jetzt ein wenig wie aus Sonntagsreden, aber die demokratischen Wohlfahrtsstaaten, die nach 1945 im Geiste Keynes aufgebaut wurden, haben nach und nach all das zu verwirklichen versucht. Und viel davon auch hingekriegt.

Was würde also Keynes in Lichte dessen heute raten? Dass wir die Maßnahmen, die wir nach der Corona-Krise ohnehin zu ergreifen haben, so zuschnitzen, dass sie diesem Ziel gerecht werden. Öffentliche Investitionen, die die staatliche Infrastruktur weiter ausbauen, die unser aller Leben besser machen, ordentlichen und guten Wohnraum für alle, Investitionen in Klimaschutz und eine Verkehrswende. Aber dass wir auch Institutionen schaffen, die dafür sorgen, dass der Wohlstand gerecht verteilt ist, und die die Schwächsten schützen. Dass wir Überausbeutung in Leiharbeitsfirmen und in den Sphären sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse bekämpfen, dass Arbeitsinspektorate genau hinsehen, und dass wir nicht dulden, dass unter uns Menschen zweiter Klasse leben, die in Prekarität, Unsicherheit und an der Armutsgrenze herumkämpfen.

Was Keynes auszeichnete war nicht nur, dass er all dies für wünschenswert hielt, sondern dass er zeigte, dass es ökonomisch machbar und für die langfristigen Aussichten einer modernen, innovativen Wirtschaft sogar nützlich ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.