Frivoles Gejammer

Manche haben extreme Existenzsorgen und psychische Belastungen, für viele ist der gegenwärtige Zustand aber nur unbequem. Manches am Lamento ist schwer auszuhalten. Der Standard, April 2020

Österreich hat insgesamt eine Zahl von 15.000 getesteten Corona-Erkrankten, wovon aber 12.000 schon wieder genesen sind. 3.000 sind im Augenblick infektiös und abgeklärt, das heißt, sie sind im Krankenhaus oder in Quarantäne. Verschiedene Studien aus unseren Nachbarländern legen nahe, dass die Dunkelziffer nicht sonderlich hoch sein sollte. Viel höher als ein Faktor 1:1 oder 1:2 dürfte diese Dunkelziffer nicht sein. Weder in Österreich noch in Deutschland kann man seriöserweise davon ausgehen, dass mehr als ein Prozent der Bevölkerung „durchseucht“ sind, also entweder jetzt, aktuell, infektuös oder genesen.

Wie man es also dreht oder wendet, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass im Augenblick mehr als 8000 Menschen in Österreich infektiös und unerkannt sind, also herum laufen – im Gegenteil, das ist schon eine recht hoch geschätzte Zahl. Wahrscheinlich liegt die Zahl deutlich darunter. Das heißt: Wenn sie jetzt aus dem Haus gehen, und, beispielsweise, durch Wien spazieren, müssen sie lange gehen, bis die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie einer infektiösen Person begegnen. Statistisch gesehen ist es sehr grob geschätzt jeder tausendste. Und den sehen sie vielleicht auch nur von der gegenüberliegenden Straßenseite. Da die meisten von uns, auch wenn wir uns nicht täglich mit Fallzahlen beschäftigen, natürlich „irgendwie“ wissen, werden wir unvorsichtig, und manche sogar ungehalten: Wegen so einer rein theoretischen Gefahr wird das ganze Land lahm gelegt?

Nur zur Illustration: Wenn ich den ganzen Tag spazieren gehe, werde ich vielleicht 10.000 Leuten begegnen. Dann ist also – bei einer angenommenen Letalität von 0,3 bis 0,7 der Infizierten – nur ein „halber“ dabei, der aktuell infiziert ist und an der Krankheit sterben wird.

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Solche Zahlen sind wahr. Es ist nicht so, dass sie trügen. Auf Basis dieser Zahlen können wir tatsächlich mit etwas weniger Angst auf die Straße gehen. Gehen sie ruhig in den Park und legen sie sich in die Wiese. Selbst wenn ihnen dabei jemand, der mit einem Ball spielt, zu nahe kommt, ist es wohl immer noch wahrscheinlicher, dass sie auf der Wiese von einem Ast erschlagen werden, als dass sie der Passant per Tröpfcheninfektion vom Leben zum Tode befördert.

Aber zugleich trügen die Zahlen sehr wohl. Wenn alle nur ein wenig die Social Distancing Vorsichtsmaßregeln schleifen lassen, wird jeder, dem sie begegnen, einen mehr infizieren, als er es jetzt tut. Vielleicht sogar drei, wenn wir uns wieder in kleinen Gruppen treffen. Und im Handumdrehen ist nicht jeder Tausendste, sondern jeder Hundertste, der ihnen begegnet, infektiös. Und hundert Leuten begegnen sie, auf dem Weg zum nächsten Supermarkt, und wenn Sie in diesen Supermarkt rein gehen, erst recht. Oder er sitzt im Wirtshaus neben ihnen, wenn diese dann wieder geöffnet haben. Kurzum: Dieselben Zahlen, die uns mit Recht in Sicherheit wiegen können, wiegen uns sehr schnell in falscher Sicherheit, wenn wir sie nicht richtig zu lesen vermögen. Weil gerade keine große Gefahr besteht, neigen wir zur Unvorsicht, worauf dann große Gefahr besteht.

Es ist aber nicht nur das Gefühl einer aufgebauschten – oder scheinbar überstandenen – Gefahr, das zu Unvorsicht führen kann.

Und da beginnt es dann ärgerlich zu werden. Gewiss, für viele Menschen ist die gegenwärtige Lage bedrückend. Manche sitzen alleine daheim und sind einsam (ein Problem, das sich aber durch „kontrollierte Unvorsicht“ lösen ließe: zwischen „gar niemanden sehen“ und „zehn Leute treffen“ gibt es ja eine Grauzone, wie etwa „einen oder zwei Sozialkontakte pflegen“); manche Leute halten es kaum mehr aus mit Kleinkindern in der zwei Zimmer Wohnung, besonders dann, wenn sie neben Kinderbetreuung, Homeschooling auch noch im Home-Office arbeiten sollen; andere haben massive und begründete Existenzängste wegen der ökonomischen Situation. Aber seien wir nicht naiv: Viele Menschen sind schon nach drei Wochen schlecht gelaunt, nur weil ihr normales Leben ein bisschen anders abläuft. Sie wollen nichts als ihre Bequemlichkeit zurück. Währenddessen retten Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger Menschenleben, haben Patienten das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen; Kranke ersticken; das Gesundheitspersonal schiebt 16 Stunden Schichten, bei denen es sich in Schutzanzüge zwängen muss, als wären sie Raumfahrer. Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner haben ihre Praxen offen, viele soziale Kontakte und haben Angst, sich selbst zu infizieren. Viele sind extrem exponiert – und selbst Teil der Risikogruppe. Diese Leute haben berechtigte Angst. Währenddessen über die verlorene Bequemlichkeit zu lamentieren, hat etwas äußerst Frivoles.

Für die, die keine kleinen Kinder haben, jene, die nicht vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, für die das alles nur ein wenig nervig ist, ist das, es tut mir leid, das sagen zu müssen, wirklich keine so fürchterliche Herausforderung, dass man gleich die Nerven weg werfen muss.

Gänzlich frivol wird es dann, wenn man auf Basis dieses relativen Leides beginnt, zu dozieren, dass doch immer Menschen an irgendetwas sterben, und so ein wenig Übersterblichkeit doch in Relation zu den Kosten gesehen werden müsse. Fein, bitte dann dazu sagen, wieviele Tote denn die genau richtige Zahl wären (und denen das bitte auch gleich ins Gesicht sagen, dass sie leider für das Gesamtwohl über die Klinge zu springen haben).

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will niemandes subjektives Leid relativieren. Ich weiß, und habe in den vergangenen Wochen gelernt, dass Menschen unterschiedlich sind und die gleiche Situation ganz verschieden belastend erleben können. Auch ich hocke meist alleine daheim im Stubenarrest, werde zwischen März und Juni ein Viertel meines Einkommen verloren haben (genau weiß ich das noch nicht), und besitze keinen Balkon. Und dennoch fühle ich mich in dieser Situation durchaus privilegiert. Erstens weil ich mit dem Einkommensverlust schlechter da stehe als manche, aber auch besser als viele andere. Soll ich da jammern? Zweitens, weil ich subjektiv empfinde, dass ich persönlich schon weit Schlimmeres im Leben erlebt habe, drittens aber weil ich mir echt komisch vorkäme, wenn ich mich beklagen würde, während da draußen Leute sterben, Menschen um ihr Leben ringen, und viele Leute einen Höllenjob machen. Ich denke auch, dass wir versuchen sollten, die Wirtschaftskreisläufe wieder zum Laufen zu bringen, um ökonomisches Leid und nackte Armut so weit es geht für die Zukunft zu verhindern, und dass man versuchen sollte, die Isolierung von Kindern und die Belastung ihrer Eltern zu verringern.

Aber ein wenig das eigene Lamento in Relation zu den Problemen anderer Leute setzen, denen es so richtig übel geht, sollte doch etwas sein, zu dem wir alle befähigt sind.

2 Gedanken zu „Frivoles Gejammer“

  1. na ja, Allgemein MedizinirInnen und Mediziner haben zu 90% die Ordinationen geschlossen- siehe Medien und Aussendungen der Ärztekammer, und verlangen nun den vollkommenen Ausgleich des Einkommensverlust vom Staat, keine Rede von den Apotheken die ohne Ausgleich seit Beginn tätig sind
    Genauere Recherche wäre angebracht
    Wilhelm Schlagintweit
    Apotheker

    1. Lieber Wilhelm, ich war natürlich ungenau. Ich meinte die Mediziner und Pfleger, die unmittelbar oder zumindest mittelbar mit Corona zu tun haben. Dass Allgemeinmediziner, auch wenn sie nicht geschlossen haben, oft 30 Prozent weniger Patientenfrequenz haben, ist mir schon durch Rumfragen im Bekanntenkreis klar. Dass 90 Prozent vollständig geschlossen haben – ist das jetzt eine Schätzung? Das würde mich jetzt ziemlich überraschen. Und ja, dass viele berechtigt Angst hatten auch, ist ja völlig klar.

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