Unsere Zwei-Klassen-Gesellschaft

Wir haben vor miesen Arbeitsbedingungen und moderner Sklaverei viel zu lange die Augen verschlossen.

Diese doppelte Krise, die Corona-Pandemie und die Wirtschaftskrise, machen ein paar Dinge sichtbar, die wir bisher kaum ausreichend wahrgenommen haben. Nicht, dass wir nicht wussten, dass wir längst wieder zu einer Klassengesellschaft unerträglichen Ausmaßes geworden sind, aber die meisten von uns haben das im Alltag verdrängt. Und verdrängt heißt: Wir schauten weg, weil wir weg schauen wollten. Nicht, weil die Dinge unsichtbar sind, sondern weil wir sie nicht sehen wollen.

Wir sind als Gesellschaft so reich wie nie zuvor. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf verdoppelt sich ungefähr alle dreißig Jahre. Und das seit rund 300 Jahren schon. Wir sind, allesamt, zehn Mal reicher als vor hundert Jahren. Jeder weiß das: Nimmt man die Wohnverhältnisse, die Konsumgüter, unsere Möglichkeiten, lebt jeder in der unteren Mittelschicht heute besser, gesünder und mit mehr Reichtümern als vor ein paar hundert Jahren ein Kaiser mit all seinem Prunk.

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Und dennoch beruht manches von unserem Wohlstand auf der Armut anderer und am Raubbau an der Natur. Seien wir ehrlich: Jeder von uns weiß das. Unsere Handys wären nicht so günstig, wenn nicht Minenarbeiter im Kongo mit Schaufel und Spitzhacke seltene Bodenschätze schürfen würden, dafür aber allenfalls Krümel erhalten. Dass wir für kleines Geld um die halbe Welt fliegen können, geht auch nur, weil Fluglinien mit Kerosin die Umwelt verpesten dürfen und weil des Personal für immer weniger Geld mehr und mehr arbeitet. Dasselbe gilt für die prekär Beschäftigten hier bei uns, vom Paketzusteller bis zum Putz- und dem Pflegepersonal und die Leiharbeiter, die oft sogar Schulter an Schulter mit „normalen Arbeitern“ am Fließband stehen – aber ohne jede Sicherheit im Leben.

Den Pflegerinnen aus Osteuropa hat man noch die Kinderbeihilfe gekürzt – jetzt muss man sie einfliegen, weil bei uns sonst alles zusammenbrechen würde. Es ist erbärmlich.

Laudamotion wollte jetzt seinen Flugbegleitern sogar weniger als die Mindestsicherung bezahlen.

Und bei der Post haben sie ein hochautomatisiertes Verteilerzentrum gebaut, digitales High-Tech, für das es nur mehr unqualifizierte Knochenarbeit braucht, weil den Rest die Maschinen erledigen. Dafür setzt man Leiharbeiter ein, die oft nicht einmal angestellt sind, sondern „neue Selbständige“. Wenn die krank werden, fallen sie um ihr kleines Geld um – weshalb sie sich sogar mit Corona in die Firma schleppen. Und wenn wir an moderne Sklaverei in der Landwirtschaft denken, kommen uns Plantagen in Spanien in den Sinn – dabei bräuchten wir nur einmal auf den Feldern bei uns nachsehen.

Wenn wir etwas in der Nach-Corona-Ökonomie anders machen sollten, dann das: Für harte Arbeit steht einem ein fairer Lohn und faire Absicherung zu. In unser aller Interesse: denn die Zwei-Klassen-Gesellschaft am Arbeitsmarkt frisst sich in immer mehr Branchen hinein. Dass unsere Konsumgüter ein paar Euros billiger werden, ist es nicht wert. Wir brauchen hier Gesetze, die die Schwächsten schützen, harte Tarifverträge – und ein Arbeitsinspektorat, das genau hinschaut. Denn eines hat uns der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates mit ordentlichen Arbeitnehmer-Rechten gelehrt: Gerechtigkeit macht uns nicht ärmer, sie macht uns reicher. Von Lohndruck profitieren am Ende nur die Dividendenschneider und die Bonus-Kaiser in den Chefetagen.

Österreich, 25. Mai 2020

Ein Gedanke zu „Unsere Zwei-Klassen-Gesellschaft“

  1. „Gerechtigkeit macht uns nicht ärmer, sie macht uns reicher“
    So isses, nachweisbar durch die Realität. Alle erfolgreichen Volkswirtschaften haben ein höheres Maß an Gerechtigkeit als die ärmeren Teile der Welt. Diesen Weg zunehmend zu verlassen, heisst auch ökonomischer Niedergang in Zukunft.

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