Der schöne Traum vom „Neuen Menschen“

Wer neue Normen propagiert, wolle die Menschen „umerziehen“, wird oft polemisch beklagt. Dabei bleibt seltsam ungeklärt, was daran schlecht sein soll.

Neue Zürcher Zeitung, Juli 2020

Hand auf’s Herz: Wenn ich sage, aus Ihnen kann auch noch ein ganz toller Mensch werden, wenn sie sich anstrengen und an sich arbeiten, ihren Charakter verfeinern und ihre schlechten Angewohnheiten ablegen – werden Sie das gerne hören? Wahrscheinlich eher nein. Menschen hören gerne, dass sie in Ordnung seien. Dass sie okay seien. Deswegen ist einer der gängigsten Einwände gegen das, was heute in gewissen Kreisen gerne die „Politische Korrektheit“ genannt wird, dass versucht würde, die „normalen Leute“ umzuerziehen. Extreme und populistische Rechte nützen diese rhetorische Figur etwa so: „Die Linken (oder liberalen Eliten) sind überheblich, denn sie wollen die einfachen Leute umerziehen. Aber wir sagen Dir: Es ist okay, so wie Du bist.“

Ganz klar: Wer würde das nicht gerne hören?

Bemerkenswerter aber ist: Zu den Kritikern von simplen Höflichkeitsregeln, gendergerechter Sprache oder antirassistischer Bedachtsamkeit gehören auch oft neokonservative Wirtschaftsliberale, und bei denen hat diese Kritik schon weniger innere Logik. Denn die finden das normale Volk ja nicht immer so okay und haben daher in anderen Fälle gar nichts dagegen, es zu erziehen. Die Menschen dürften nicht auf der faulen Haut liegen, sollen täglich aus ihren Talenten etwas machen, im Wettbewerb ihre Fertigkeiten verfeinern und ganz generell zu selbstverantwortlichen Individuen werden. Vom Leitartikel bis zur Ratgeberliteratur werden die Menschen dazu angehalten, vielfältige Techniken des Selbst einsetzen, um zu Subjekten zu werden, die in der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft gut funktionieren.

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Das ist ein bemerkenswerter innerer Widerspruch. Gegen behauptete „Erziehungsdiktaturen“ zu sein, die Menschen aber am liebsten zu funktionstüchtigen Zahnrädchen ummontieren wollen – das geht schwer zusammen.

Aber gehen wir die Sache von einer anderen Seite an, die möglicherweise ja viel interessanter ist: Was ist eigentlich so schlecht daran, wenn sich Menschen verändern, verbessern, ihre Sitten oder was auch immer verfeinern?

Gerade in diesen Tagen keine abwegige Frage: Man hat uns beigebracht, uns täglich mehrmals die Hände zu waschen und das Händeschütteln, eine unhygienische, lebensgefährliche Sache, bleiben zu lassen. Man könnte da jetzt darüber lachen, aber die Geschichte des sanitären Fortschritts war immer mit Seuchen verbunden. Dass der Besen den Wischmopp ersetzte und Wohnungen sauber gehalten und nicht nur gefegt, sondern nass gewischt werden sollten, setzte sich verallgemeinert erst mit dem Kampf gegen die Tuberkulose durch. Wer würde es heute eine „Erziehungsdiktatur“ nennen, dass wir unsere Wohnungen nicht verdrecken lassen?

Wann hat das begonnen, und warum, dass es plötzlich unpopulär wurde, sich zu verändern? Nun hat der Begriff der „Erziehung“ sicherlich etwas pausbäckig Pädagogisches, ein wenig arg von oben herab („wer erzieht die Erzieher?“ haben deshalb schon Reformpädagogen gefragt, die waren aber übrigens meistens Linke). Doch die „Verbesserung des Menschengeschlechts“ war über viele Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende hinweg ein von vielen Seiten gewünschtes Motiv und keineswegs verpönt.

In fast allen Religionen war das Motiv eines ganz anderen Menschseins (nicht nur die graduelle Verbesserung) angelegt. Die Idee eine „neuen Daseinszustandes“ (Gottfried Küenzlen) war sehr oft ein zentrales Motiv. Im Sinne einer Vervollkommnung, des völligen Kontrastes der krummen, weltlichen Existenz. Die Aufklärung wiederum lebte von der Idee, mit dem Licht der Vernunft könne die Menschheit zu bisher nicht gekannter Vollkommenheit voran schreiten. Nicht selten verband sich das mit der Idee von einem regelrechten „Neuen Menschen“, aber eine solche pathetische Idee war dabei gar nicht immer notwendig. Norbert Elias beschrieb in seinem „Prozess der Zivilisation“ monumental, wie sich über die Jahrhunderte Schamgefühl ausbreitete und Schamgrenzen entstanden, wie sich bewusste Affektbewältigung durchsetzen, Peinlichkeitsempfinden nach und nach weitere Kreise zog und die Menschen ihr Verhalten änderten – was auch heißt, dass als erwünscht angesehenes Verhalten sich automatisierte. Fremdzwänge wurden zu inneren Selbstzwängen, und all das wuchs natürlich nicht in atomisierten Individuen alleine, sondern es waren gesellschaftliche Normen, die entstanden, und auf die Individuen wirkten.

Adelige führten Tugendtagebücher und setzten damit die Praxis der Selbstbeobachtung in die Welt. Benimmbücher taten das Ihre, Verhaltensmodelle, die in die Gesellschaft diffundierten, besorgten den Rest.

Wer darauf nicht vertraute, dass sich rohe Gesellschaften graduell in verfeinerte, aufgeklärte und demokratische verwandeln würde, sondern, wie etwa Karl Marx und die Marxisten nach ihm, der hoffte auf die Revolution nicht nur zur Beseitigung von autoritären Machtstrukturen, sondern sah in ihr auch eine Maschine zur Selbstveränderung der Menschen selbst. Die Gesellschaft allgemeiner Emanzipation, die er sich vorstellte, machte natürlich eine „massenhafte Veränderung der Menschen nötig“. Die Revolution, so Marx in einer berühmten Formulierung, sei daher nicht nur nötig, „weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen…“

Eine Reinigungsmetapher, die durchaus existenziell gemeint war.

Die reformorientierteren Sozialisten nach Marx waren mehr für die graduelle Verbesserung des Menschen und haben auch ganz praktisch begonnen, die arbeitenden Klassen zu „verbessern“ oder zu „erziehen“. Schließlich waren oft die „Arbeiterbildungsvereine“ die Keimzellen der Arbeiterbewegungen, etwa in Deutschland und Österreich. Die einfachen Leute waren damals noch dankbar dafür, dass Intellektuelle in die Vorstädte kamen, ihnen Lesen und Schreiben beibrachten und auch etwas über die Geschichte der Ideen, über Philosophie und ein paar Grundvorstellungen von Ökonomie.

Diese Vorstellung der Verbesserung der Menschen zieht sich durch die gesamte Moderne und alle ihre Spielarten. Der sozialdemokratische Intellektuelle Max Adler propagierte die Erziehung zum „Neuen Menschen“ und schlug sich mit dem kniffligen Problem herum, dass diese „Erziehung“ ja für eine bessere Zukunft erfolgen müsse, aber von Menschen bewerkstelligt werden muss, die noch in der Gegenwart (und damit in der Vergangenheit) fest kleben wie der Bauer nach dem Regenguss im Morast. Jedenfalls müsse das Ziel jeder Erziehung zum „Neuen Menschen“ eben so etwas wie sittliche Verbesserung sein und mit der Maxime brechen, Menschen zu „nützlichen“ Subjekten zu machen, die etwa in der Fabrik oder sonst wo bloß gut als Rädchen in einem Räderwerk funktionieren. Die ästhetische Moderne hat, weniger politisch, ganz ähnliche Ziele verfolgt, ebenso Lebensreformbewegungen oder therapeutische Ideen bis hin zu den Achtundsechzigern, die, im Anschluss an Herbert Marcuse, aus dem „eindimensionalen“ (nämlich durch System, Konsum und Kulturindustrie verkümmerten) Menschen einen allseitig entwickelten Menschen zu machen hofften. Zwischenzeitlich sind etwaige Menschenzüchterphantasien auch ins Totalitäre entgleist, etwa im Ostblock mit seinem stachanowistischen Sowjetmenschen, bei den Nazis schließlich vollends genozidal.

Ein historisches Panorama, das zeigt: Jede politische, religiöse, weltanschauliche oder auch nur künstlerische Bewegung in der Geschichte zielte nicht nur auf die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen ab, sondern auf die Selbstveränderung der Menschen selbst. Man kann das für Theorie oder Ideologie halten, aber der Prozess gesellschaftlicher Modernisierung war auch in der Praxis mit allmählicher Veränderung der Menschen verbunden, nicht nur was Bildungsstand und ähnliches anlangt, sondern auch Lebensstile, Affekte, mit Veränderungen von Normen und Verhalten. In vielen Phasen der Geschichte war der „Neue Mensch“ eine Art utopische Figur, die mit der krummen gesellschaftlichen Wirklichkeit kontrastierte – also Gegenmodell zum Status Quo –, gelegentlich wiederum waren es aber auch umgekehrt gesellschaftliche Wirklichkeiten, die die Menschen anherrschten, sich an sie anzupassen, wie eben beispielsweise die heutige Idee (oder Ideologie?) vom selbstverantwortlichen Subjekt. Flexibel, genügsam und anpassungsfähig, stets bereit den Postulaten eines scheinbar selbstbewegten Systems zu genügen. Lebenslanges Lernen inklusive. Dass die Utopie der Selbstverbesserung des Menschen sehr leicht eine dystopische Schlagseite bekam – in Sinne von Menschenzüchterexperimenten oder gar eugenischer Ausmerzung – ist unbestreitbar, und ebenso, dass sofort Fragen nach Hierarchie und Macht aufkommen (wer darf eigentlich wen erziehen?), schafft aber zugleich die Tatsache nicht aus der Welt, dass der Mensch diese einzigartige Eigenart hat, ein veränderbares Tier zu sein, das selbstreflexiv ist, sich selbst in Frage stellen kann; das seine Gegenwart genauso in Frage stellen kann wie die Strategien zur Selbstverändung selbst. Er kann sich, zum Zwecke der Selbstverbesserung, in Meditation stürzen – und sogar die Praxis der Meditation hinterfragen.

Erziehung, Selbsterziehung und die Veränderung von Normen gehören zum Menschsein dazu. Es würde eher verarmen, wenn Fragen nach einem ganz anderen Leben nicht mehr gestellt würden. Das sollte bedenken, wer glaubt, gegen den Begriff der Erziehung selbst polemisieren zu müssen. Und erst ein mal kurz innehalten und fragen, was denn nun an Erziehung so schlecht sei.

2 Gedanken zu „Der schöne Traum vom „Neuen Menschen““

  1. und, Antonio Gramsci hat auch davon geschrieben, dass das Verständnis der Zusammenhänge erst eine soziale Regierung stabilisieren kann. Sonst schwanken die Wahlergebnisse um die 50% weil nur nach „Erfolg“ gewählt wird.
    Soviel,sokurz.

  2. Verbesserung ist notwendig, sonst säßen wir noch auf den Bäumen. Interessant, mal die (jüngere) Geschichte der V. zusammenzutragen, dann aber folgt der typische Fehler der politischen Korrektheit- es wird implizit vorausgesetzt, daß pK eine Verbesserung darstellt.
    Wer sagt das? Warum soll pK nicht genauso auf den Prüfstand wie Anderes, nicht nur als Methode, sondern auch in den Zielen?
    Weil pK das nicht will und von vorneherein gar nicht das Ziel von Verbesserung hat, sondern ein Konzept der Machtausübung und Vorteilsnahme ist, was schon an der Sprache erkennbar ist.
    Bin ich politisch korrekt, ist der Andersdenkende automatisch unkorrekt, und weil niemand die absolute Wahrheit kennt, bestimmen diejenigen die „korrekten“ Inhalte, die über die meiste Macht verfügen- und so ist es auch gedacht.
    PK will den Wettbewerb der Ideen ausschalten und ist damit ein autoritäres bis faschistisches Konzept- wohin sowas führt, erwähnt der Artikel selber, pK steht, v.a. in ihren härteren Formen, in der Tradition desselben Denkens, das am Ende in die Gulags führt, und z.T. auch nach Auschwitz.

    Richtig ist, daß sich dasselbe Denken auch auf der neokonservativen Seite wiederfindet, im erwähnten ökonomistischen Kontext.
    Das zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Zeit- Konservative sind oft gute Kritker der Idenditätspolitik, aber weitgehend blind für die sozioökonomische Seite.
    Bei Links-Liberalen ist es meist genau umgekehrt, offen fürs Soziale, aber völlig vernebelt bei politischer Korrektheit.

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