Ein bisschen Radikalität

Zustände wie in der deutschen Fleischindustrie ändert man nicht, indem man den Bossen freundlich zuredet.

Magazin Insider, Juli 2020

Manchmal versuchen Menschen mit ihrem Bücherwissen zu protzen. Wenn etwa davon die Rede ist, eine bestimmte politische Idee wäre „radikal“, dann antwortet nicht selten jemand, dass Radikalität doch heiße, „die Sache an der Wurzel zu packen“. Das ist zwar richtig, aber in den vergangenen zweihundert Jahren hat „Radikalität“ bei uns eben eine bestimmte Bedeutung erhalten, und da hilft der Hinweis nicht so viel, dass die alten Lateiner da etwas anders darunter verstanden haben.

Radikal heißt also bei uns: Wild, bisschen gefährlich, jedenfalls übertrieben, das Gegenteil von Maßvoll. Und obwohl viele Menschen meinen, „es muss sich alles ändern“, wollen doch die wenigsten, dass dabei irgendeine Unruhe entsteht. Änderungen kann man sich allenfalls in Trippelschritten vorstellen.

Dabei wissen wir, dass gigantische Probleme wie der Klimawandel nicht mit Klein-Klein gelöst werden können. Auch unser heutiges Arbeitsrecht, dass wir vor Willkür geschützt sind, ein Sozialstaat, ja, selbst die Gemeindebauten – all das wäre nie gekommen, hätten sich nicht Leute dafür eingesetzt, die man zu ihrer Zeit „Radikale“ nannte. Und wenn es nötig ist, kann man schnell ganz radikale Maßnahmen ergreifen, die vorher undenkbar schienen. Das haben wir bei der Finanzkrise und auch jetzt wieder gelernt.

Manchmal denke ich, etwas mehr Radikalität täte uns ganz gut.

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Der Fleischkonzern Tönnies beschäftigt seine Arbeiter auf fürchterliche Weise, es sind Bedingungen wie im 19. Jahrhundert. Die Wohnungen der Arbeiter sind furchtbar. Jetzt ist dort Corona ausgebrochen, 1400 Menschen sind infiziert. Und der Firmenchef, ein aufgeblasener Großtuer, hat selbst in der Krise nicht mit den Behörden zusammengearbeitet. „Wenn ich so etwas höre, werde ich zum Klassenkämpfer“, sagte mir vergangene Woche eine hochrespektable, ganz unradikale Persönlichkeit. Warum kann man solche Unternehmer eigentlich nicht entschädigungslos enteignen und ihr privates Vermögen gleich dazu beschlagnahmen? Hätten diese Leute etwas zu befürchten, würden sich diese Zustände schnell aufhören.

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