Die Wucht der zweiten Welle

Die Regierung verhängt harte Maßnahmen – und im Grunde ist nicht einmal sicher, dass sie ausreichend wirken. Dass die Pfusch-Regierung viel Vertrauen verspielte, rächt sich jetzt bitter.

Arbeit und Wirtschaft, Oktober 2020

Am Ende hat man sich dann so lange Zeit gelassen, bis buchstäblich Gefahr in Verzug war. Samstag Abend verkündet die Regierung einen neuen, partiellen Lockdown. Schon am Sonntag soll der Hauptausschuss des Nationalrates zu einer Notsitzung zusammentreffen, Dienstag um Null Uhr werden die Regeln dann schon Geltung haben. Damit ist unsere Gesellschaft einem noch härteren Stresstest ausgesetzt – zugleich hat die Regierung längst wichtiges Vertrauen verspielt, und bei vielen Bürgern und Bürgerinnen gibt es viel Gereiztheit.

Sind diese Maßnahmen notwendig – und sind sie überhaupt ausreichend?

Die zweite Welle der Pandemie fegt nun mit einer Wucht über Europa, die trotz Abstandsregeln und Hygienekonzepte in vielen Ländern die Wucht der ersten Welle übertrifft. Auch Österreich geriet in den vergangenen Wochen in eine Kurve des exponentiellen Wachstums, das den jetzigen zweiten, partiellen Lockdown unumgänglich machte. Das ist eine Frage reiner Mathematik, man kann es sich quasi ausrechnen: Tut man nichts, werden in zwei, drei Wochen Menschen deswegen sterben, weil die Intensivkapazitäten für sie nicht mehr reichen. Auch die normalen Spitalskapazitäten würden knapp. Das ärztliche Personal und das Pflegepersonal sind jetzt schon an der Grenze ihrer Belastbarkeit.

Dieser Lockdown ist für uns alle ein Stresstest. Er wird viele auch psychologisch härter treffen als der im Frühjahr, einfach weil soziale Distanzierung im November härter ist als in einem März mit unnatürlich herrlichem Wetter.

Und dennoch: Im Grunde kommen die jetzigen Maßnahmen fast zu spät und sind, wenn, dann sogar zu maßvoll. Nüchtern betrachtet ist es so: Wir haben eine dynamische Ausbreitung des Virus, die auch durch diese Maßnahmen nicht sofort und massiv abbrechen wird. In zwei, drei Wochen werden jeden Tag rund sechzig zusätzliche Menschen täglich eine Intensivbetreuung benötigen. Die jetzt verhängten Maßnahmen reduzieren nur jene Kontakte, die in der Freizeit entstehen, also beim Sport, in Restaurants, dort, wo man sich fröhlich und sozial begegnet. Das ganze andere Wirtschaftsleben soll weitgehend aufrecht bleiben, mit allen Aspekten, die damit verbunden sind: Menschen sitzen weiter im Büro, haben die üblichen Berufskontakte, fahren mit den öffentlichen Verkehrsmittel in die Firma und so weiter.

Es gibt, anders als uns das marktschreierische Schlagzeilen glauben machen wollen, auch keine „Ausgangssperre“ – und das ist gut so. Man darf nach 20 Uhr raus, wenn man spazieren gehen will oder den Partner besucht oder zu Freunden fährt oder von der Arbeit heim oder umgekehrt.

Kurzum: Hoffen wir, dass die Maßnahmen ausreichen, um die Infektionszahlen so zu stabilisieren, dass jede Person in Österreich auch im Dezember noch jene medizinische Versorgung bekommt, die sie benötigt. Wetten sollte man darauf aber nicht.

Chaos-Regierung: Führungslos durch eine Krise

Diese Maßnahmen sind jetzt unumgänglich, die Regierung hat dafür aber alles andere als Applaus verdient. Gewiss: Regierende haben im Jahr 2020 einen Höllenjob und den kann man nicht fehlerfrei erledigen. Aber was diese Regierung an Pfusch in den vergangenen Monaten abliefert, ist einfach unfassbar.

Die Wirtschaftsprogramme, die die ökonomische Krise abfedern, Pleitewellen verhindern, Armut und Arbeitslosigkeit verhindern sollten kamen als erratische Husch-Pfusch-Aktionen daher, als bürokratische Monstren, die für viele Betroffene nicht funktionierten. Hilfspakete, die die Wirtschaftskammer abwickeln sollte (und die nicht funktionieren), Härtefall- und Familienfonds, bei denen Betroffene ins Nirvana geschickt werden. Ein Fixkostenzuschuss für Unternehmen, dessen Notwendigkeit früh klar sein hätte müssen, der dennoch erst nach ein paar Monaten kam. Es wurde viel großspurig geredet, aber viel zu wenig getan.

Stattdessen verkündete man eine „Auferstehung nach Ostern“, brüstete sich damit, dass wir die besten in Europa seien, die Gesundheitskrise „überstanden“ hätten, erklärte noch bis vorvergangene Woche, dass ein zweiter Lockdown „unmöglich“ wäre – man verbreitete geradezu jene Sorglosigkeit, die uns jetzt auf den Kopf fällt.

Vorbereitungen wurden praktisch keine getroffen, Energie wurde in eine haarsträubend nutzlose „Corona-Ampel“ investiert, monatelang machte sich offenbar niemand die Mühe, irgendwelche Pläne für Schulen zu entwickeln.

Man stolperte durch Woche um Woche, als Hauptaufgabe wurde offenbar gesehen, Pressekonferenzen im Verkündigungs- und Predigerton zu geben.

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Zeitweise hatte man den Eindruck, die Verantwortlichen verlieren jeden Wirklichkeitssinn. Noch vor zwei Wochen glaubte man offenbar im Ernst, man müsse die Infektionszahlen reduzieren, um den Wintertourismus zu retten „und die Reisewarnungen weg zu bekommen“. Dabei weiß jeder, der ein paar Neuronen im Kopf hat, dass die deutschen Gäste heuer natürlich nicht Halligalli-Tourismus in Österreich machen werden und es völlig undenkbar ist, dass die deutsche Regierung die Reisebeschränkungen aufheben wird. Die deutschen Behörden versuchen alles, damit ihre Bürger und Bürgerinnen innerdeutsche Reisen zu Weihnachten zu Eltern und Verwandten unterlassen – da werden sie sicher den Tirol-Tourismus priorisieren. Wie weltfremd kann man eigentlich sein?

Und anstatt ein wenig voraus zu denken – und sich darüber im Karen zu sein, dass man sehr schnell einen Geist des Gemeinsamen brauchen würde können –, nützte man die Pandemie zu parteipolitischen Spielchen. Im Wien-Wahlkampf stellten die türkisen Propagandisten die rot regierte Bundeshauptstadt als Corona-Sünderin hin, nur in der Hoffnung, damit ein paar Wählerstimmen zu ergattern.

Was Kurz und Co. seit Monaten aufführen, ist das genaue Gegenteil von kompetenter und staatsmännischer Führung in einer Krise. Selbst die jetzige Lockdown-Planung wurde an der Opposition vorbei betrieben, Journalisten noch vor wichtigen Bundesländern über die geplanten Maßnahmen informiert, die Opposition mit einer schnoddrigen Videoschaltung in der letzten Stunde vor der Verkündung des Lockdowns abgespeist. Es wird jetzt auch den Allerletzten klar: Sebastian Kurz hat kein Kanzlerformat. Diese Regierung hat die Kontrolle verloren.

Düstere wirtschaftliche Aussichten

Die zweite Welle trifft Wirtschaft und Unternehmen wie ein Hammerschlag. Die neuen Maßnahmen werden nicht nur Gastronomie, Tourismus, Kultur und die ohnehin torkelnde Veranstaltungsbranche treffen, auch viele andere Sektoren werden massiv leiden. Denn die Konsumnachfrage wird noch einmal einbrechen.

Der Plan, die behördlich geschlossenen Unternehmen – vor allem die Gastronomiebetriebe – mit 80 Prozent des November-Umsatzes vom Vorjahr zu entschädigen, ist unumgänglich. So bleiben die Unternehmen zahlungsfähig und müssen nicht weiteres Personal kündigen. Paradoxerweise wird es viele Unternehmen härter treffen, die geöffnet halten dürfen. Denn wer geht schon in die Stadt shoppen, während eine Pandemie wütet und man nach dem Einkauf nicht auf einen Kaffee ins Warme gehen kann?

Und täuschen wir uns nicht: die jetzigen Maßnahmen tragen im besten Falle dazu bei, die Infektionsdynamik wieder umzukehren. Eine Öffnung im Dezember wird aber dann zu keiner wirtschaftlichen Erholung führen, zugleich aber die mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder zu mehr Ansteckungen führen. Es ist natürlich sehr gut möglich, dass wir dann im Ende Januar wieder in einer vergleichbaren Situation sind. Niemand kann vernünftig behaupten, das auch nur annähernd voraussehen zu können. Realistisch ist es, anzunehmen, dass wir uns durch einen harten Winter einfach so durchkämpfen müssen, mit leichten Entspannungen und herben Rückschlägen – und dass es erst im Mai wieder etwas leichter wird, wenn sich das Sozialleben wieder mehr nach draußen verlagern kann.

Was das ökonomisch heißt, ist leicht zu verstehen: die wirtschaftlichen Kennzahlen werden 2020 noch einen Tick schlechter sein als angenommen. Ein Wirtschaftseinbruch von rund neun Prozent des BIP, ein Budgetdefizit von weit über zehn Prozent. Und an dieser Negativdynamik wird sich auch in der ersten Hälfte 2021 aller Voraussicht nach nicht sehr viel ändern. Nur ein Impfstoff, der wirklich gut wirkt und schnell verfügbar ist, wäre hier ein Game-Changer.

Ein Stresstest – buchstäblich.

Stresstest für unsere Gesellschaft wird all das auch deshalb, weil Regeln nur akzeptiert werden, wenn alle das Gefühl haben, dass es einigermaßen gerecht zugeht. Zugleich müssen aber auch Gemeinwohlziele verfolgt werden, und dafür sind heikle Abwägungen nötig, die epidemologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele ausbalancieren. Theater und Museen werden geschlossen, Schulen aber nicht – das ist epidemologisch kaum argumentierbar. Aber gesellschaftlich sehr wohl: Ohne Theater kann praktisch jeder ein paar Monate überleben, der psychosoziale Schaden für Kinder wäre aber immens, wenn man die Schulen noch einmal schließt. Aber Lehrer sollen sich einem Infektionsrisiko aussetzen, das ich in meinem Home-Office nicht habe – für Lehrer und Lehrerinnen oft schwer zu begreifen. Firmen dürfen weiter ihre Beschäftigten in Großraumbüros oder an Förderbändern einsetzen, aber alles, was mit sozialen Kontakten, Freizeit und Spaß verbunden ist, wird verboten. Das Argument liegt da nahe, dass wir bis auf weiteres nur mehr „für die Wirtschaft“ leben sollen. Aber diese Klage übersieht, dass es für alle Bürgerinnen und Bürger langfristig entscheidend für ihr Wohlergehen ist, ob sie ihren Wohlstand halten, weiter ein Einkommen und einen Arbeitsplatz haben. Wirte, die geschlossen werden, erhalten Entschädigungen, Händler, deren Laden offen bleiben kann, denen der Umsatz aber um die Hälfte einbricht, erhalten keine. Man kann dafür plausible Argumente vorbringen, man kann aber ebenso plausibel argumentieren, dass das nicht völlig fair ist. Geschlossene Kultureinrichtungen erhalten ihren Umsatzausfall ersetzt – aber was ist mit der Literatin, die von dieser Kultureinrichtung zu einer Lesung eingeladen worden wäre, und jetzt um ihr Honorar umfällt? Kurzum: Jede Maßnahme und Nicht-Maßnahme kann man vernünftig begründen, aber man kann auch vernünftig begründen, warum eine andere Regelung besser wäre. Und da langsam die Nerven aller blank liegen, ist nicht jeder und jede für kühle, vernünftige Abwägungsfragen besonders empfänglich – und schon gar nicht für ein gelassenes „Das ist halt so“.

Umso wichtiger wäre eine Regierung, die ihre Beschlüsse überzeugend erklärt und die sich weniger um Parteitaktik und mehr um ein Wir-Gefühl und einen Geist der Gemeinsamkeit Gedanken machen würde. Aber so eine Regierung haben wir nicht. Wie schrieb Falter-Herausgeber Armin Thurnher unlängst in seiner Seuchenkolumne: „Dieser Kanzler ist kein Einheitskanzler, er ist ein Egokanzler und als solcher in der Krise unbrauchbar.“

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