Philosophie der Einsamkeit

Martin Hecht hat einen klugen Großessay über „die Einsamkeit des modernen Menschen“ geschrieben.

Falter, August 2021

Einsamkeit ist schon seit einigen Semestern der letzte heiße Scheiß. Sie sei eine „Epidemie im Verborgenen“ wird konstatiert, Sozialpsychologen schreiben populäre Bücher darüber, es wird beschrieben, dass sie unter Studierenden genauso grassiert wie unter alleinlebenden Rentnern und Rentnerinnen, sogar in schlecht funktionierenden Paarbeziehungen macht sie sich breit, wenn sich Menschen nur mehr anschweigen. Existenzielle Einsamkeit kann das ganze Dasein unterminieren und Mediziner haben nachgewiesen, dass sie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele andere Pathologien auslösen kann. Kaum eine Zeitung, die sich nicht dem „Lebensgefühl unserer Zeit“ („profil“) gewidmet hat. In Großbritannien haben sie sogar eine Regierungsbeauftragte gehabt, die dann als global erste „Einsamkeitsministerin“ für Schlagzeilen sorgte, und durch die Corona-Maßnahmen wurde das Thema noch einmal virulenter. Ende Juni waren dem „Spiegel“ die verschiedenen Aspekte der Einsamkeit eine fette 6-Seiten-Story wert.

Man kann also getrost das Urteil abgeben, dass zum Thema „Einsamkeit“ schon viel gesagt ist. Und Dennoch ist es dem deutschen Sachbuchautor und Journalisten Martin Hecht gelungen, ein Buch über „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ zu schreiben, das über das tägliche Geplapper hinaus geht. Denn mit soziologischen Kategorien alleine, etwa über die Zunahme von Single-Haushalten, die heutige Mobilität, die sehr viele Leute in Städte verschlägt, in denen sie niemanden kennen, über den Zerfall der Familie und die daraus folgende Einsamkeit der Alten ist es bei dem Thema nicht getan. Hecht hat eine Art „Philosophie der Einsamkeit“ geschrieben. Einsamkeit, so konstatiert er, ist „eine Art soziales Virus, das kollektiv über die gesamte Gesellschaft gekommen ist“.

Die Moderne ist eine Geschichte der Individualisierung und das heißt zunächst: das entwickelte Individuum, das seine Freiheit lebt, seine Talente entwickelt, wird zu einem hohen gesellschaftlichen Wert. Zugleich werden alte traditionelle Bindungen zersetzt, im Dorf, in überschaubaren Kollektiven, in der Familie. „Alles Ständische und Stehende verdampft“, hatte schon Karl Marx proklamiert. Zunächst entstehen damit noch neue Bindungen und Solidaritäten, in den Stadtvierteln, durch die Arbeiterbewegung, in Parteien, Vereinen, was auch immer. Aber mit den zweiten Individualisierungsschüben gehen auch diese Bindewirkungen verloren. „Mach Dein Ding“, wird zum Zeitgeist. All das ist hochgradig ambivalent. Der legendäre Soziologe Georg Simmel hat schon vor hundert Jahren beschrieben, wie uns etwa die moderne Geldwirtschaft befreit: Wir müssen uns mit dem Bäcker nicht mehr anfreunden, er gibt uns Brot, wenn wir ihm für ein „Bitte“ und „Danke“ ein paar Münzen auf dem Tresen legen. In den modernen Städten können wir nebeneinander her leben, sind befreit von sozialer Kontrolle.

Die alte Enge in der kuhwarmen Küche, sie war bedrückend, und die Menschen hatten ihre Gründe, aus ihr auszubrechen. Millionen Menschen haben bewusst die Freiheit der Individualisierung gewählt, und über Millionen andere kam sie, gewissermaßen via sozialen Wandel, von selbst. Der Preis ist aber existenzielle Einsamkeit.

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Eine Einsamkeit, die man durchaus in Gesellschaft empfinden kann. Auch Fabrikarbeiter können sie erleben, wenn allen klar ist, es gibt zwar Kollegengeist, aber zugleich auch Entsolidarisierung und letztendlich laufen alle nur um das eigene Überleben.

Hinzu kommen die Ich-Ideologie und seine Ausformungen, das Posertum, die Statuskonkurrenz. Aber bei all dem machen wir – die Menschen in einer solchen Gesellschaft – auch mit, halb freiwillig, halb unfreiwillig, mal bedachter, mal undurchdachter. Es gibt zugleich ein Begehren, zugleich eine Lust– und eben auch ein Leiden daran. Wir wollen als Individuen etwas „Besonderes“ sein, also uns von anderen absetzen, zugleich aber natürlich in unserer „Besonderheit“ anerkannt, wenn nicht gar bewundert sein, wofür wir die Anderen wiederum unbedingt benötigen. Das einsame Ich macht Selfies, stellt sie auf Instagram, ersehnt die Anerkennung anderer Ichs, und ist zugleich noch viel einsamer, wenn es sich deren scheinbar glückliche Leben in seiner Timeline ansieht.

Die Einsamkeit ist etwas gänzlich anderes als das Alleinsein. Schon der Begriff selbst ist eigentümlich. Etymologisch ist er ein ulkiger Zwitter aus „Eins“ und „Gemeinsam“. Fraglich ist, ob die peinigende, chronische Einsamkeit tatsächlich heute zunimmt. Belastbare Daten, die eine Zunahme krank machender Einsamkeit nahelegen, sind eher rar. Sehr stark geplagt von Einsamkeit sind in den verschiedensten Ländern, die darüber längere Datenreihen erhoben, zwischen 1-2 Prozent der Bevölkerung, stark geplagt rund 3-5 Prozent. Das würde bedeuten, dass rund 5-7 Prozent der Bevölkerung Einsamkeit als chronische Belastung erleben ziemlich konstant. Schlimm genug. Aber drastische Zunahme zeigen die Daten keine. Vertrauen darf man solchen Daten sowieso nur begrenzt, wie der deutsche Forscher Janosch Schobin herausgefunden hat. In solchen Surveys, so Schobin, erkennt man, „dass sehr kleine Veränderungen im Fragelaut, aber auch in der Fragetechnik zu unglaublich großen Unterschieden führen.“ Fragt man tausend Menschen in direkten Interviews, sind nicht sehr viele einsam. Nähert man sich ihnen in Online-Umfragen, sind es sehr viel mehr. Das kann daran liegen, dass man im direkten Gespräch nicht sehr gerne zugibt, einsam zu sein. Die Ursache könnte aber auch sein, dass man gleich weniger einsam ist, wenn einem ein Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen befragt.

Auch wer eingewoben ist in Fäden und Netze des Sozialen, hat oft eher Bekannte als enge Freunde. Man driftet durch oberflächliche Begegnungen. Sogar Partnerschaften sind flüchtig. Martin Hecht beschreibt all das geistreich und klug. Der Einsame ist „ein bedürftiger Mensch“, schreibt er zu Beginn und es wird klar: die Einsamen sind nicht irgendwelche Anderen, sondern wir selbst. Heute bedrohe dieser Hyperindividualismus schon die Demokratie, da sich unverbundene Vereinzelte nur mehr schwer langfristig für gemeinsame Anliegen einsetzen können und unsere Ansprüche an das glückliche Ich zu programmierten Frustrationen und Wut führen.

Martin Hecht: Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht. Dietz Verlag, Bonn, 2021. 203 Seiten, 18 Euro.

3 Gedanken zu „Philosophie der Einsamkeit“

  1. Guten Tag!
    Die Zeit Nr.34 19.08.2021 Österreich— 100 Jahre Burgenland
    Misik reist durch das BGLD. Wirklich durch das ganze???…
    Oder ist BGLD. Am Sieggrabener Sattel zu Ende???…PianoDuo Kutrowatz, Liszt Festival Raiding. Buz Neutal,
    Bad Tatzmannsdorf, Gymnasium Oberschützen, Htbl Pinkafeld, Stahlbau Unger international., Weinidylle Eisenberg., Wochenmarkt Oberwart, Kellerviertel Heiligenbrunn und unzählige Betriebe, die beim Aufschwung mit dabei waren. OHNE Parteibuch der „Bluathaberer“ unter der Führung des Landesfürsten KERY….
    Vieles wurde über Jahrzehnte von einer Koalition,mit Handschlagqualität, aus SP u. VP geschaffen.
    Ihr Bericht entspricht nicht dem von Portisch empfohlenen Grundsatz: Check, Recheck..Bericht (schlecht recherchiert!)
    Zum Glück lesen nur wenige DIE ZEIT.
    Gerhard Böhm
    In dritter Generation Unternehmer in Bernstein.
    Wäre, wegen Edelserpentinvorkommen— Verarbeitung,
    Felsenmuseum noch erwähnenswert. Aber ist ja nicht Stinatz.

    1. Lieber Herr Böhm, ich war an so vielen Stellen im Burgenland, was dann gar nicht reinpasste, in Oberwart, am Geschriebenstein, in Rechnitz, ich habe da die Geschichte des Massakers und der Gedenkstätte etc recherchiert, und ganz viel mehr… und am Ende hat man dann halt nicht Platz für alles und muss eine Auswahl treffen. So ist das im wirklichen Leben, eine Zeitung ist ja schließlich kein Lexikon oder Telefonbuch. Liebe Grüße, Robert Misik

  2. Glaube, das hat auch zu tun mit dem destruktiven Zeitgeist. Heute glaubt man überall, Fortschritt bestünde im blindwütigen Zerstören des Bestehenden, ohne Alternativen aufzubauen.
    „Heute bedrohe dieser Hyperindividualismus schon die Demokratie, da sich unverbundene Vereinzelte nur mehr schwer langfristig für gemeinsame Anliegen einsetzen können und unsere Ansprüche an das glückliche Ich zu programmierten Frustrationen und Wut führen.“
    Treffer versenkt. Vielleicht liegt hier ja auch die Chance zur Verbesserung. Gerade die beschriebene Entwicklung produziert zuverlässig die Krisen, die sich dann nur noch kollektiv lösen lassen (nicht jedoch kollektivistisch).

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