Das Gewalt-Dilemma

Zwischen „Die Waffen nieder!“ und „gerechter Krieg“ – Pazifismus und Anti-Militarismus in Kriegszeiten.

Hohe Luft, Magazin, Mai 2022

Nach dem Einmarsch von Wladimir Putins Invasionstruppen in die Ukraine versammelten sich viele hunderttausende Leute in den westlichen Metropolen zu „Friedensdemonstrationen“, aber die glichen manchmal einem Aufmarsch der Verwirrten. „Die Waffen nieder“ stand auf Plakaten, aber es wehte auch ein blau-gelbes Fahnenmeer und viele Aufrufe standen unter dem Hashtag-Slogan „Stand with Ukraine“. Ein paar alte Parolen wurden aus der Rumpelkammer geholt, wie „Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin“. Passt irgendwie immer und auch nicht. „Wenn Russland aufhört zu kämpfen, endet der Krieg. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, gibt es keine Ukraine mehr“, stand auf einem Poster der großen Berliner Anti-Kriegs-Demonstration.

Zyniker können anmerken: Die Ansicht, dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden sollen, der Pazifismus also, das funktioniert prima, solange es keinen Krieg gibt. Aber wie steht es um den Pazifismus, wenn ein Aggressor ein kleines, demokratisches Land überfällt? Und was ist das überhaupt: „Pazifismus“?

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So richtig definiert ist das Wort nicht. Klar, es gibt den rigorosen Pazifismus, der aber eher nur zur individuellen Werthaltung taugt, die Gewissensentscheidung des Einzelnen, niemals, wie immer die Umstände liegen, zur Waffe zu greifen.

Was so landläufig als eine „pazifistische“ Haltung historisch wirkmächtig wurde, waren die Anti-Kriegs-Überzeugungen, die ursprünglich in eher bürgerlich-liberalen, demokratischen Milieus aufkamen und im 19. Jahrhundert in den verschiedenen „Friedensligas“ in Europa und den USA an Zuspruch gewannen. 1889 tagte in Paris der erste Weltfriedenskongress, die „Deutsche Friedensgesellschaft“ wurde 1892 in Berlin gegründet. Eine der legendären Figuren dieser historischen Friedensbewegung war etwa Berta von Suttner, die 1889 den Roman „Die Waffen nieder!“ herausbrachte, die Verheerungen der Kriege aus dem Blick der Opfer, der Toten, der Mütter, die um ihre Söhne trauerten, anprangerte. Später erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis. Um den Frieden zu sichern, plädierten diese Friedensgesellschaften für Abrüstung, den Zusammenschluss der Nationen in Europa, für die Einsetzung internationaler Schiedsgerichte und die Gründung von internationalen Institutionen, von der Art der sehr viel später etablierten „Vereinten Nationen“.

Wofür sich dieser „Pazifismus“ einsetzte, war eine gewaltfreie (oder: gewaltfreiere) Konfliktlösung imperiale Großmächte. Suttner etwa war vom Russisch-Osmanischen-Krieg bewegt. Die Kriege, die Europa in dieser Zeit drohten, waren Kriege zwischen autokratischen Imperien wie dem Deutschen Reich, der österreichischen Monarchie, Russland, Konflikten von Kolonialreichen wie Frankreich und England.

Verwandt, aber nicht identisch war der linke Antimilitarismus, eine weniger pazifistische Spielart der Kriegsgegnerschaft. Sozialisten und Kommunisten waren ja nicht unbedingt gegen bewaffnete Aufstände, aber gegen die Kriege der Imperien und Mächtigen, die die popularen Klassen unterdrückten, ausbeuteten und auch noch als Kanonenfutter in die Schlachten schickten. Diese Kriegsgegnerschaft war bis 1914 in den sozialistischen Bewegungen Konsens, bis viele Parteien dann vor der Kriegsstimmung in ihren Ländern einknickten. Der linke Antimilitarismus, der danach in den radikaleren Zirkeln überlebte, wurde von Leuten wie Karl Liebknecht in die Parole kondensiert: „Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land.“ Der militärisch-kapitalistische Komplex etabliere in jedem Land eine „Kriegspartei“, und die Revolutionäre müssten folgerichtig den Kampf gegen die jeweiligen „heimischen Imperialisten“ richten. Lenin ging dann noch einen Schritt weiter und agitierte dafür, den Weltkrieg in einen „revolutionären Weltbürgerkrieg“ zu verwandeln, quasi in einen Krieg gegen die Kriegsführer.

Wenn autokratische Imperien gegeneinander kämpfen, ist eine antimilitaristische Kriegsgegnerschaft und Äquidistanz natürlich näherliegender, als in Zeiten, in denen die Weltkonflikte um Ideologien gehen, oder wenn Demokratien gegen Diktaturen stehen. Das wirft für Linke, für Sozialdemokraten, unabhängige Progressive, für Liberale und Demokraten andere moralische Dilemmata auf als für Konservative oder gar für Rechtsradikale. Die Linken im allerweitesten Sinne sind praktisch immer Antimilitaristen, weil im Militär der Kommandoton herrscht und Länder mit starken Armeen auch zur Militarisierung neigen, eine Generals- und Offizierskaste ausbilden, die selbst zur Bedrohung der Demokratie werden. Und weil die Militärs mit der Rüstungsindustrie und damit dem skrupellosesten Teil des Kapitals unter einer Decke stecken. So standen die Progressiven in der Weimarer Republik etwa entschieden gegen Militärkaste, gegen deren imperialen Revanchismus, kamen auch dem Pazifismus nahe, wie etwa Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky, diese wortmächtigen Gegner der Soldateska.

Doch auch solch ein linker Antimilitarismus sah manche Kriege als nötig an: im spanischen Bürgerkrieg schlug das Herz für die Verteidiger der demokratischen Republik gegen Francos Putschisten, und spätestens im Zweiten Weltkrieg wäre man mit der generalisierten Haltung, dass der Hauptfeind im eigenen Land stünde, ziemlich blöde dagestanden. „Pazifismus reicht nicht aus, um ihn (Hitler) zu besiegen“, so Ernst Toller, der linke Sozialist und vormalige Anführer der Münchner Räterepublik.

Die Dilemmata des Pazifismus ziehen sich durch die Geschichte: Einerseits ist man aus guten Gründen leidenschaftlich gegen den Krieg, da Menschen auf das Schlachtfeld geschickt werden, die nichts gegeneinander haben – und andererseits führt prinzipielle Gewaltfreiheit gegen Mordbrennern nur dazu, dass die Mordbrenner gewinnen.

Die „Friedensbewegung“ der achtziger Jahre proklamierte „Frieden schaffen ohne Waffen“, setzte sich für Abrüstung und eine Friedensgeneigtheit in Ost und West ein – obwohl einzelne Protagonisten zeitgleich für „Waffen für El Salvador“ sammelten, und intuitiv schon merkten, dass das vielleicht nicht völlig zusammen geht.

In der Welt nach 1989 taten sich plötzlich andere Zielkonflikte auf, die den Pazifismus alt aussehen ließen. Ein paar historische Augenblicke lang schienen Demokratie und Menschenrechte als universale Prinzipien triumphiert zu haben. Dass Gewaltherrschern das Handwerk gelegt werden könnte, indem mit kriegerischen Mitteln demokratische Regimes installiert werden – das schien nicht mehr völlig abwegig. Es kam eine Haltung auf, die später etwas abschätzig „Menschenrechts-Bellizismus“ genannt wurde. Heute wird gerne vergessen, dass diese Haltung auch eine Folge von Gräueltaten war, denen nicht militärisch begegnet wurde. Das Genozid in Ruanda ließ man geschehen, was als schwerer Fehler angesehen wurde. Im Bosnien-Krieg sah man den Gemetzeln jahrelang zu, weil Militärs meinten, man könne nicht eingreifen. Als dann die USA einige Tage serbische Stellungen bombardierten, war ein Waffenstillstand und das Abkommen von Dayton ganz schnell möglich. Es war diese Ära, in der ehemalige Friedensbewegungsaktivisten wie der Grüne Ludger Volmer (ab 1998 Staatsekretär im Außenministerium) in luziden Abhandlungen erklärten, dass ein gesinnungsethischer Pazifismus „handlungsunfähig“ sei, ein „politischer Pazifismus“ dagegen Antworten auf Bedrohungen finden müsse. In der Sache plausibel, schrammte Volmer damals knapp davor vorbei, einen „kriegerischen Pazifismus“ zu erfinden.

Das Dilemma des Pazifismus besteht darin, dass er ignorieren muss, dass es Kriege gibt, die allgemein als „gerecht“ angesehen werden müssen, beginnend beim Krieg der Alliierten gegen Hitler-Deutschland, aber auch der bewaffnete Widerstand unterdrückter Nationen gegen Besatzer. Das Dilemma des Menschenrechts-Bellizismus dagegen besteht darin, dass er schmerzhaft lernen musste, dass die Versuche, Gewalt und Tyrannei militärisch zu beenden, oft „gescheiterte Staaten“ produzieren (wie etwa in Libyen), die dann erst recht in Gewalt versinken. Kurzum: dass die Orientierung an Werten einfach an realpolitische Grenzen stößt. Rigorosen Pazifisten wird gerne „Naivität“ vorgeworfen, aber es liegt zugleich nahe, dass eine Welt, in der die Forderung nach Gewaltfreiheit als Anliegen von Spinnern verlacht wird, nicht unbedingt eine bessere Welt sein wird. Eine militärische Eskalation führt immer dazu, dass die große Idee einer gewaltfreien Welt in den Hintergrund gerät (was keine erfreulichen Nebenfolgen haben wird), zugleich ist der Ratschlag an das potentielle Folteropfer, es möge sich dem Folterknecht ergeben, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, moralisch völlig deplatziert. Eine Art pragmatischer Pazifismus, den etwa der Berliner Philosophieprofessor Olaf L. Müller zu rekonstruieren versucht („suche immer nach friedfertigen Alternativen zum geplanten Militäreinsatz“) ist wohl weniger weltfremd als der Bellizismus, wenngleich auch das Plädoyer für Verhandlungen und gewaltfreie Konfliktlösungen die unschöne Tatsache achten muss, dass es sich mit bewaffneten Gangstern bequemer verhandelt, wenn man selbst bewaffnet ist.

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