Das Wissen der Beherrschten

Haben Ausgegrenzte einen „kognitiven Vorteil“ gegenüber Privilegierten? Ja, sagt Daniel Loick.

Falter, Juni 2024

„Brav gearbeitet, wackerer Maulwurf“, heißt es in Hegels „Geschichte der Philosophie“, was Karl Marx später im Aufruf „Gut gewühlt, alter Maulwurf“ aufgriff, weshalb das Wühltier bei linken Gruppen als Comic-Figur so beliebt ist. Nicht die Hochwohlgeboren, die Helden, nicht die Fabrikanten und auch nicht die Privilegierten sorgen für den Fortschritt in der Geschichte, sondern die Unten – die, die die Wühlarbeit vollbringen.

Beherrschte Gemeinschaften bilden ihre eigenen Kulturen. Wo Herrschaft ist, ist auch Widerstand. Dieser Widerstand ist die produktive Kraft der Geschichte. Teleologische Gewissheiten erhöhen diese Gedankenreihen zu einem romantischen Fortschrittsgesetz der Geschichte, das selbst auch fragwürdig ist. Es war wieder Hegel, der das in eine wirkmächtige Erzählung fasste: Nicht der Herr ist Triebfeder der Geschichte, sondern der Knecht. Der Knecht bearbeitet die Welt, er ist produktiv. Der Herr braucht den Knecht – ohne ihn ist er nichts –, er braucht dessen Anerkennung. Der Knecht benötigt all das umgekehrt nicht. Der Knecht macht Erfahrungen, die dem Herrn entgehen.

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In den historischen Revolutionsschriften werden die privilegierten Klassen oft als philisterhaft, engstirnig, in Konventionen erstarrt, spießig-kleingeistig beschrieben, denen nicht nur Zugang zu Weltwissen fehlt, sondern die sich die Welt schönlügen. Wohingegen den Unterprivilegierten, mag ihnen oft auch Zugang zu formaler Bildung fehlen, die Fähigkeit offen ist, über Konventionen hinauszudenken. Lässt sich das theoretisch und auch praktisch untermauern?

Dieses verwegene Programm verfolgt Daniel Loick. „Die Überlegenheit der Unterlegenen“, hat er seine „Theorie der Gegengemeinschaften“ genannt. Gegengemeinschaften, das sind Subkulturen, marginalisierte Communities, widerständische Milieus – und auch wieder nicht. Nicht jede Subkultur ist eine solche „Gegengemeinschaft“ im pathetischen Sinn, und schon gar nicht jedes radikalisierte Grüppchen mit überspannten Ansichten, dessen Protagonisten sich gegenseitig hochschaukeln. Unterdrücktheit führt nicht automatisch zu Überlegenheit in der Welterkennung. Unterdrückte können autoritären Führern nachhängen, faschistischen Ideen oder islamistischen Wahnkonzepten. „Ist eine bestimmte Gruppe ‚unterdrückt‘ genug, ist sie ‚Gemeinschaft‘ genug und genug ‚dagegen‘?“ beschreibt Loick nur einige der Fragen, mit denen man sich bei der Behandlung des Themas herumschlagen muss.

Gegengemeinschaften sind für die hegemonialen Herrschaftskulturen oft schwer zu verstehen, sie werden als Clans, Gangs, Jugendkulturen oder politische Bewegungen beschrieben. Die gesellschaftskritische Theorie und die avantgardistische Literatur wiederum ist voll von Beschreibungen, dass die Nicht-Integriertheit in die bürgerliche Lebensform „den Ausgeschlossenen Zugang zu anderen Quellen der Vitalität und des Glücks ermöglicht“.

Die marginalisierte Person lebt einerseits innerhalb der hegemonialen Kultur und unter deren ideologischen Maximen, bleibt aber in Distanz zu dieser – sie kennt die dominanten Werte und den Habitus der Privilegierten, aber sie macht sie sich nicht zu eigen. Zugleich ist sie verwoben in die Wissensbestände, sozialen Normen und Codicis der arbeitenden Klassen, der ausgegrenzten Subkulturen usw. Während die Angehörigen der Herrschaftsmilieus immer wieder kognitiven Irrtümern erliegen (wegen ihrer Engstirnigkeit und ihrer Nichtkenntnis von großen Teilen der sozialen Welt), haben die Dissoziierten, die Ausgegrenzten, die Grenzgänger einen „kognitiven Vorteil“. Loick: „Marginalisierte Gruppen wissen etwas, das dominante Gruppen nicht wissen.“

Daniel Loick: Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Berlin, 2024. 297 Seiten, 24,70.- €

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