Uwe Wittstock erzählt in einer packenden Episodendokumentation, wie ein verwegener US-Beamter hunderte Künstler vor den Nazis rettete.
Falter, April 2024
Für die „Süddeutsche“ ist es die „große Erzählung der deutschen Exilgeschichte“, für Florian Illies in der „Zeit“ ist es schon das wichtigste Buch der Saison: Uwe Wittstocks atemberaubende Geschichtserzählung „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“.
Auf atemberaubende Weise rekonstruiert der Autor und Literaturkritiker Wittstock die verzweifelten Rettungsaktionen der europäischen Dichter, Künstler, Avantgardisten aus Frankreich, nachdem die Nazi-Armeen die Republik gleichsam überrannt hatten und politische Dissidenten, jüdischen Geflüchteten und antifaschistischen Künstler in einer lebensbedrohenden Falle saßen. Es ist das Who-is-Who der europäischen Kunstwelt, das sich panisch in den Südwesten Frankreichs geflüchtet hat, in den Internierungslagern des Vichy-Regimes eingesperrt war – und dessen Überleben davon abhing, es innerhalb kurzer Zeit über Spanien und Portugal nach Übersee zu schaffen.
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Heinrich Mann und sein Neffe Golo, Hannah Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher, Lion Feuchtwanger, Marc Chagall, Marcel Duchamp, der antistalinistische Kommunist Victor Serge, Walter Benjamin, Anna Seghers, die Millionärin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim, der Surrealist André Breton, Alma Mahler, Franz Werfel, Politiker wie Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, und viele andere mehr – ganze Bataillone der Geisteswelt – wurden entweder auf abenteuerliche Weise gerettet, oder scheiterten auf tragische Weise und kamen zu Tode.
Es wird üblicherweise etwas salopp davon gesprochen, dass die Vertriebenen und Bedrohten „ins Exil gingen“. Aber das ist eine sehr unpräzise Formulierung. Man musste es schaffen, und das war nicht einfach. Und selbst Weltstars waren in einer Lage der Hilflosigkeit.
Die Zentralfigur in Wittstocks packender, wie eine Art Tagebuch gebauter Episodendokumentation, ist deshalb Varian Fry, ein amerikanischer Intellektueller, der die verdeckte Operation zur Rettung der europäischen Intellektuellen leitete. Er stand vor Ort in Marseille dem US-„Emergency Rescue Commitee“ vor, das faktisch direkt dem Weißen Haus unter Franklin D. Roosevelt unterstellt war. Wobei es die First Lady, Eleanor Roosevelt war, der die Rettungsaktionen besonders am Herzen lagen. Fry, einmal im Einsatz, entwickelte extreme Energie, scheute keine illegalen Aktionen. Das US-Außenministerium, das sich nicht von einer First Lady in die Geschäfte hineinregieren lassen wollte, behinderte die Arbeit wo immer möglich. In der großen Kriegstragödie gibt es auch noch die Geschichte des Kleinkrieges einander befehdender Institutionen.
Es sind unglaubliche Episoden, die Wittstock zusammenträgt. Lion Feuchtwanger sitzt im Internierungslager, ist abgemagert, vom Tode bedroht. Seine Frau Marta macht sich zum US-Konsulat auf, wo unzählige Wartende stehen. Sie reicht dem Portier einen Zettel, und wird, zu ihrer Überraschung, sofort vorgerufen, als wäre sie längst erwartet worden. Wittstock: „Tatsächlich ist das Konsulat von allerhöchster Stelle, von Präsident Roosevelt persönlich, aufgefordert worden, Feuchtwanger mit allen Mitteln zu unterstützen.“ Die zuständigen Konsularbeamten „vermuten, dass Eleanor Roosevelt ihren Mann dazu gedrängt hat.“
Frys engste Mitstreiter waren zwei verwegene junge Leute, Albert O. Hirschman, später einer der berühmtesten amerikanischen Sozialhistoriker und Ökonomen, und Stephane Hessel, später Diplomat, der Jahrzehnte danach, schon in seinen Neunzigern, mit „Empört Euch“ einen Weltbestseller landen würde.
Wittstock hat eine Hand dafür, Monate von verdichteter Geschichte so zu erzählen, als wäre das lesende Publikum unmittelbar dabei.
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. C. H. Beck Verlag, München, 2024. 26,80.- €