Mehr als ein „Rechtsruckerl“. Die Europawahlen zeigen die ganze Hilflosigkeit der hergebrachten Linken gegenüber der radikalen Rechten.
Die Zeit, 10. Juni 2024
Unlängst begegnete ich einem alten Bekannten aus Griechenland, der seinerzeit in der linken Syriza-Regierung vor bald zehn Jahren eine große Nummer war. „Weißt Du“, sagte der einstige akzentuierte Links-Funktionär, „wir müssen die rechte Welle bremsen. Bremsen, denn stoppen können wir sie eh nicht.“ Eine bemerkenswerte Aussage für einen, der seinerzeit die Meinung vertreten hat, das Problem der zeitgenössischen moderaten Linken sei, dass sie keinen Plan mehr für die die Verbesserung der Welt habe, sondern nur mehr „das Schlimmste verhindern“ wolle.
Die rechte Woge schwappt durch Europa. Es ist das, was Soziologen und Polit-Analysten einen „populistischen Moment“ nennen. Unzufriedenheit mit Regierenden, eine „gegen-das-System“-Stimmung, Wutbewirtschaftung durch politische und mediale Empörungsunternehmer, Atmosphären der Frustriertheit – das ist der Cocktail, der im Augenblick jedenfalls die politischen Leidenschaften bestimmt und damit auch Wahlergebnisse produziert.
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Am Morgen nach den Europawahlen verzieht sich der Nebel und manche atmen sogar ein wenig auf: Es ist in ganz Europa ein „Rechtsruckerl“ geworden, ein kleiner Hüpfer nach rechts, nicht der große Erdrutsch nach rechts. Richtet man den Fokus allein auf die Fraktionen im Europaparlament und die Mandatsverschiebungen, dann ist das zweifelfrei der Fall: Die Christdemokraten haben etwas zugelegt, die zwei rechtspopulistischen und rechtsextremen Fraktionen haben etwas mehr als zehn Mandate hinzugewonnen, und stehen jetzt bei etwa 130 Mandaten. Sozialdemokraten, Grüne, Linke und Liberale haben verloren. Kleine Verschiebungen, keine großen Beben. Für alle Fraktionen gilt: In dem einen Land legt man zu, im anderen verliert man, sodass die Zusammensetzung des EP über die Jahre erstaunlich stabil bleibt. Die informelle „Koalition“, auf die sich Ursula von der Leyen stützte – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale – ist stabil geblieben und hat weiter eine Mehrheit.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere: Viele Nationen erlebten einen regelrechten rechtsextremen und rechtspopulistischen Durchmarsch. In Deutschland ist die AfD mit knapp 16 Prozent zweitstärkste Partei. Die Parteien der Ampel-Regierung sind dagegen in einem erbarmungswürdigen Zustand. In Österreich ist die ultrarechte Freiheitliche Partei (FPÖ) erstmals stärkste Partei. Dass der Erstplatzierte und die konservative Volkspartei (ÖVP) sowie Sozialdemokraten faktisch Kopf-an-Kopf zwischen 23,3 und 25,5 Prozent liegen, wird angesichts schlimmerer Erwartungen mit einem Aufatmen quittiert. In Frankreich: Ein Erdrutsch zu Marine Le Pen, ein Debakel für die Macron-Partei „Renaissance“, und der Präsident schreibt gleich auch – panisch, oder doch taktisch gefuchst? – Parlamentswahlen für kommendes Monat aus. Italien: Giorgia Melonis „Fratelli di Italia“ marschiert durch, auch wenn der gesamte Mandatsanteil der ultrarechten Parteien unverändert blieb und der sozialdemokratische „Partito Democratico“ mit 26 Prozent durchaus einen Achtungserfolg hinlegte.
Eines der Dilemma der Linken sei, dass sie die „Kapitalismuskritik den Faschisten“ überlassen habe, meint Lea Ypi im Zeit-Interview, und zudem ist der Ausgang dieser Wahl dem Umstand zuzurechnen, dass Europa ein technokratisches Elitenprojekt sei, für das sich nur smarte, neoliberale Winnertypen begeistern können.
Aber wie tragfähig sind solche Analysen? Dass es markant eine Unzufriedenheit mit dem Spirit der Europäischen Union sei, die den dauernden Rechtsrutsch erkläre, darf bezweifelt werden. Schließlich sieht es bei Wahlen in der rein nationalen oder gar regionalen Arena auch nicht anders aus: in Österreich liegt die FPÖ seit bald eineinhalb Jahren auf Platz eins der Umfragen, in Deutschland ist die AfD ein gewichtiger Faktor geworden, im Osten dominiert sie faktisch; Meloni ist schon Ministerpräsidentin, Marine Le Pen ist in Frankreich zielstrebig Richtung Wahlerfolg unterwegs. In den Niederlanden hat die Partij vor de Vrijheid von Gert Wilders zuletzt in einem Ausmaß die Wahlen gewonnen, das nicht einmal von den Prognosen erwartet worden war. Schweden, Finnland, kippten bei den jüngsten nationalen Urnengängen stärker nach rechts als jetzt bei den EU-Parlamentswahlen (bei denen sich die Linke behaupten konnte). Kurzum: Es sind kaum „europapolitische“ Motive, die den Rechtsruck erklären. Es sind die Stimmungen in den nationalen Öffentlichkeiten. Auch bei den Europawahlen votieren die Wählerinnen und Wähler ja selbstverständlich primär aus nationalen Motiven – weil sie die eine Partei innenpolitisch stärken, die andere schwächen wollen, weil sie unzufrieden oder frustriert sind, weil sie die Regierung abstrafen wollen. Speziell europäische Beweggründe – sie motivieren eher selten die Stimmabgabe.
Viele Mitgliedsstaaten der Europäischen Union kippen also nach rechts, manche rasanter, manche allmählicher. Da und dort behaupten sich auch Linksparteien, oder das traditionelle Gefüge bleibt eher intakt – etwa in Spanien und Portugal; anderswo verlieren die Rechten sogar – in Polen, neuerdings auch in Ungarn. Aber grosso modo gilt: In vielen EU-Mitgliedsstaaten ist die radikale Rechte am Vormarsch, und die Linken haben darauf noch überhaupt keine Antwort gefunden.
Im Grunde kursieren seit Jahren drei Rezepturen, wie dem Aufstieg extremer Nationalisten begegnet werden sollte.
Rezept eins: Die Linken müssen nach links rücken, und dabei zugleich „nach unten“, im Sinne – weniger Elitenpartei, mehr Stimme der einfachen Leute. Unzufriedenheit und Systemkritik müssen sie wieder stärker artikulieren, um eine echte Alternative darzustellen. Ob das wirklich funktionieren kann, dafür fehlen aber bisher glaubwürdige Tests. Das Corbyn-Experiment in Großbritannien hatte keine besonders eindrucksvollen Resultate. Ein Hoffnungsträger dieser Linie ist in Österreich Andreas Babler. Die SPÖ hat sich bei den Europawahlen ganz passabel geschlagen, um Platz eins gibt es, trotz der FPÖ-Gewinne, faktisch einen Dreikampf. Doch auch die Chancen eines solchen Modells sind limitiert: die meisten Sozialdemokratien sind Traditionsparteien mit einer gewissen Schwerfälligkeit, bei markanten Kurswechseln gibt es gleich innere Konflikte, und streitende Parteien gewinnen üblicherweise schwer Wahlen. Und in einer Ära, in der die identitätsgetriebenen Kulturkämpfe die hysterischen politischen Debatten befeuern, können auch „proletarischere“ Linksparteien nicht so leicht Wählerinnen und Wähler von den Rechten zurück holen.
Rezept zwei: Das berühmte „dänische Modell“, also ein harte, restriktive Migrationspolitik, um der populistischen und extremen Rechten ihr Thema Nummer 1, die Probleme mit Zuwanderung und Integration wegzunehmen. Die dänischen Sozialdemokraten unter Mette Frederiksen, die das Aushängeschild dieses Modells sind, stürzten aber regelrecht ab. 15,4 Prozent bei den EU-Wahlen. Schlimmer noch: Ihre Partei und ihre Regierungskoalition implodiert gerade auch in den nationalen Umfragen für die Parlamentswahlen.
Rezept drei: Das traditionelle sozialdemokratische Konzept einer maßvollen Vernünftigkeit, pragmatisch, technokratisch, nicht zu links, vielleicht aufgemöbelt durch eine neue Sprache – direkter, mehr outspoken, weniger Polit-Sprech. Die Annahme lautet: In einer Zeit des verallgemeinerten Irrsinns, von Hader, Fake-News und Empörungsbewirtschaftung wird einer Großteil der Wählerinnen und Wähler die Insel der Vernunft in einem Meer von Wahnsinn schon goutieren.
Keines dieser Rezepte ist völlig erfolglos. Aber bis dato ist auch keines außergewöhnlich erfolgreich.
Vor allem: Die extreme Rechte hat eine Geschichte zu erzählen. Stoppen und bremsen der Migration; dafür braucht sie nicht einmal besonders rassistische Propaganda, es reicht der Hinweis auf Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften, zukunftslose junge Flüchtlinge und Kriminalität verbunden mit der Botschaft, dass es einfach ein Zuviel an Zuwanderung gibt und dieses Zuviel die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften überfordert. Dazu: Gegen die Eliten, gegen „die da oben“, gegen „das System“, Stimme der „einfachen Leute“.
Das Bemerkenswerteste an diesem EU-Wahlkampf war, dass die Mitte-Links-Parteien überhaupt keine „Story“ zu erzählen hatten. Die klassischen Traditionsparteien nicht (das sind meist die Sozialdemokraten), die „Grünen“ meist auch nicht, die akzentuierteren Linksparteien auch nur selten. Sie alle sind in einer Gemütslage der Defensive, und je stärker die Rechtsparteien werden, umso mehr verschärft sich dieses Problem. Was ist dem Publikum denn an eindrucksvollen Botschaften dieses Wahlkampfes hängen geblieben? Es fällt einem wenig ein. Mehr oder weniger beschränkte es sich auf: „Wählt uns, um die Rechten zu stoppen.“ Wählt uns, damit die liberale, pluralistische Demokratie eine solche bleibt. Das ist aber zu wenig, weil es weder die Frustrationen und Unzufriedenheiten adressieren kann, die ja real vorhanden und auch gut begründet sind – und weil es letztlich auf ein „weiter so“ hinausläuft, das kaum irgendwelche Leidenschaften mobilisieren kann. Ein bisschen ist es fast so als würde man antreten mit der impliziten Botschaft: „Wählt uns, mit uns wird es langsamer schlechter…“
Man muss sich nur die Plakatslogans zur EU-Wahl ansehen: „Europa fair gestalten“, plakatierte die SPÖ. Und: „Schluss mit den Steuerschlupflöchern“. In Deutschland: „Besonnen handeln. SPD wählen.“ Oder: „Frieden sichern. SPD wählen.“
Nicht, dass Plakatslogans so entscheidend wären, aber das ist eher als Symptomatik interessant. Symptom dafür: Es fällt einem nicht einmal mehr selbst ein, wofür man gewählt werden möchte.
Jedenfalls. Mit solchen Botschaften könnte man sich das Plakatekleben gleich ganz sparen. Wer soll einem wegen so etwas wählen?