Krieg der Erzählungen

Hundert Jahre Gewalt und Eskalationslogik: Rashid Khalidis Geschichte des Palästina-Konfliktes.

Falter, August 2024

Die zionistische Kolonisation Palästinas war eine friedliche Besiedelung kargen Landes durch europäische Juden, die dieses erst urbar und bewohnbar machten; eine Besiedlung, die durch den Naziterror und den Holocaust beschleunigt wurde; ab der Staatsgründung Israels 1948 sah sich die junge Nation fanatischer Gegnerschaft ihrer Nachbarn ausgesetzt, verteidigte sich aber heldenhaft gegen deren Vernichtungsfantasien. Palästinenser gab es in diesem „Land ohne Volk“ sowieso keine, die seien eine Erfindung arabischer Israelfeinde. Ausgestreckte Hände haben die Araber immer zurückgewiesen, anstelle dessen auf Terror und hinterhältige Arglist gesetzt. Wenn gelegentlich auch Israel Blutbäder anrichtet, dann seien die letztlich auch seinen Gegnern zuzuschreiben, da ein kleines, verletzliches Land sich ja nur existenzieller Gefahr erwehre.

So in etwa lautet das jahrzehntealte PR-Narrativ, das heute dröhnend die Debatten dominiert.

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Rashid Khalidi, der palästinensischstämmige Historiker und Professor an der New Yorker Columbia-Universität erzählt in „Der hundertjährige Krieg um Palästina“ die Gegengeschichte. Schon die Kolonisation ab 1917 – nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches –, war vom Geist der Zeit getragen: jüdische Siedler brachten die indigene Bevölkerung um ihr Land, hinter sich hatten sie die bewaffneten Truppen des britischen Imperiums, das Palästina besetzt hielt. Dass die Europäer „den Wilden“ den Fortschritt bringen, war sowieso Zeitgeist. Enteignung und Vertreibung nahmen später mit der Staatsgründung Israels rasante Fahrt auf, die sofort zu ethnischen Säuberungen führte. Die „Nakba“ („Katastrophe“), die Vertreibung und Beraubung von Hab und Gut, ist das große palästinensische Trauma. Rashid Khalidi, Nachkomme einer bedeutenden palästinensischen Notabelfamilie, dekliniert diese Geschichte über ihre Stationen hinweg: den Suezkrieg, den Sechstagekrieg, die Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlandes, die illegalen Siedlungstätigkeiten, das Erwachen eines palästinensischen Nationalbewusstseins und die Gründung der PLO bis zur Intifada, den gescheiterten Friedensinitiativen und in die Jetztzeit. Khalidi zeichnet ein Panorama von Aggression und Entrechtung durch Israel, das immer verbunden war mit schlauer PR-Politik, den Anstrengungen, die Palästinenser „unauslöschlich mit Terrorismus und Hass in Verbindung zu bringen“. Die Ereignisgeschichte ist für ihn untrennbar verbunden mit einem Krieg der Narrationen, mit „geschickter, verzerrender Propaganda“ Israels. Ein endloser „Strom von Gräueltaten“.

Khalidi setzt dem Schwarz-Weiß der Netanjahu-Propaganda eine Gegengeschichte entgegen, die freilich auch ein wenig mit dem Holzhammer zurechtgeklopft ist, und für Ambiguitäten wenig Platz hat. Dabei geht Khalidi auch mit den verschiedenen palästinensischen Organisationen hart ins Gericht. Eskalationsstrategien seien dafür verantwortlich, dass Israel als „Opfer irrationaler, fanatischer Peiniger“ dastehe. Heute gäbe es nun einmal „zwei Völker in Palästina, unabhängig davon, wie sie entstanden sind“, die beide legitime Rechte auf Selbstbestimmung haben und einen Kompromiss finden müssen. Damit hat es sich schon weitgehend mit den Ambivalenzen, letztendlich strickt auch Khalidi an einem „Mythos palästinensischer Nationalgeschichtsschreibung“ (Süddeutsche Zeitung).

Dennoch ist Khalidis Buch höchst lesenswert. Einerseits als Gegengeschichte zur heute dominanten Erzählung: Entsprechend der Maxime, dass niemand die ganze Wahrheit hat, aber jeder einen Teil davon. Andererseits weil es in den Krieg der Phrasen Fakten und Nüchternheit bringt: Inwiefern ist der Begriff des „Siederkolonialismus“ brauchbar? Was meint er überhaupt? Inwiefern ist der Begriff der „Apartheid“ anwendbar auf zerklüftete Geografien, in denen auf Menschen verschiedener Herkunft unterschiedliche Rechtssysteme wirken – die einen also mehr Rechte haben als die Anderen? Die Kritik, die Khalidi vorträgt, wird heute viel zu schnell als „antisemitisch“ verleumdet.

Zugleich: Ein bisschen einseitig ist das freilich alles, das Tragische und Ambivalente wird bei Khalidi ein wenig sehr vereindeutigt. Kurzum: Die Übung, in einer tragischen Konstellation, in der beide Seiten oftmals auf ihre Weise recht haben, jeweils mit den Augen der Anderen zu sehen, die muss der Leser und die Leserin selbst aufbringen.

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