Der Dramatiker Thomas Köck hat eine politische Chronik des Wahljahres geschrieben und ist dabei in eine Art Depression gefallen.
Falter, August 2024
„Wir nennen das ab jetzt den herbertkomplex. Die fortlaufende Untersuchung der Gegenwart“, schreibt Thomas Köck lapidar. „Der herbertkomplex ist der Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien“. Kein Ruck, sondern „Rechtserdrutsch“.
„herbertkomplex“, das steht für die Gesellschaftskrankheit, deren Symptom Herbert Kickl ist, der „herbert“, der durchgehend nur in Kleinschreibung vorkommt, um ihn nicht zu groß zu machen. In der „Chronik der laufenden Entgleisungen“ hat der österreichische Stückeschreiber und Theatermacher eine Art Buchführung der Gegenwart vollbracht. Chronik, Tagebuch, mit Eintragungen über ein Jahr. Sammlung der Niederträchtigkeiten. Soziologie des Alltäglichen.
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Es ist ein Buch zum Wahljahr, zur Europawahl, zur hiesigen Nationalratswahl, zur deutschen Landtagswahl-Saison, die allesamt das Zeug dazu haben, die Demokratien vollends in Brand zu setzen. Köck dokumentiert, wie wir uns alle an das Unerträgliche gewohnt haben. Er hält die Geschehnisse des politischen Alltags fest, die jeder kennt, und die wir so schnell vergessen, die Entgleisungen der Höckes und des Kickl.
„Ich war eigentlich immer froh, wenn ich von Österreich nichts gehört habe, nichts gesehen und mich niemand genötigt hat, mich damit zu beschäftigen“, schreibt Köck gleich zu Beginn. Aber jetzt beschäftigt er sich damit, und auch mit sich, mit seiner Herkunft aus der oberösterreichischen Arbeiterklasse, mit diesem Österreich und seinen Spaltungen. „Gekränkte Männer waren schon immer die größte Gefahr für alle Beteiligten.“
Die Spaltungen produzieren Verwundungen. Der Rechtsextremismus plustert sich zur Partei des kleinen Mannes auf, ist zugleich Lobby der Hochnäsigen. „Ich kann Klasse riechen – und so leid es mir tut, aber ich kann auch die Muster riechen, wie sich diese Klasse reproduziert, wie sie Raum einnimmt“. Ohne ökonomische Untersuchungen kommt man nicht weiter, zugleich, bemerkt Köck, tue er sich mittlerweile schwer, „wieder eine ökonomische Begründung herbeizuzitieren, again and again. Ich glaube der herbertkomplex sitzt wesentlich tiefer.“
Haider, Strache, herbert, „toxische Männlichkeit in Reinform“, halb Schlägerbande mit Wodka-Red-Bull, „und es ist natürlich alles vermengt mit so einer spezifischen österreichischen Oberschicht, Pullover um die Schultern, Rolex und Mittelscheitel am Wörthersee“.
Klasse, Ungleichheit, Rassismus, Männlichkeit, Wutbewirtschaftung, österreichische innenpolitische Irrwitzigkeit („man stelle sich vor, der deutsche Kanzler würde in einem Weinkeller stehen und armutsbetroffenen Menschen unter lautem Gejohle von seinesgleichen empfehlen, sie mögen doch Hamburger essen gehen“), Thomas Köck umkreist Anekdoten, Symptome, Tiefendynamiken, er spinnt Fäden, die das alles verbinden, meist in einem lapidaren Sound, meist zugleich in einem Gestus des Dringlichen. Und er schreibt sich über das Jahr wund.
„Diese endlos sich auskotzende Gegenwart, diese Abstumpfung vor den Ereignissen, es erschöpft mich, die Zusammenhänge herzustellen.“ Kult der Härte, Ethnonationalismus, die Anbetung der Winner, sie „vermengen sich zum neoliberalen Faschismus im österreichischen Hauptabendprogramm“. Empört man sich, spielt man ihnen schon in die Hände, und tut, was sie erhoffen, generiert Aufmerksamkeit. Bekämpft man sie „inhaltlich“, läuft man ihren „Inhalten“ hinterher.
Was immer man tut, der „herbertkomplex“ leckt sich die Finger.
Köck will das Unheil aufhalten und fürchtet zunehmend, „dass es vielleicht einfach kommen wird, wie es kommen muss.“ Seine Montage – „eine Art Countdown“ – stellt neue Verbindungen her, und doch tut sich kein endlich gefundener Ausweg auf, „ich habe immer gedacht, ich finde hier irgendetwas, am Ende…“, schreibt Köck, – „Und ich dachte immer, ich komme damit auf irgendetwas“.
Thomas Köck: Chronik der laufenden Entgleisungen. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2024. 368 Seiten. 26,80.- €