Der menschliche Faktor

Aus den Regierungsverhandlungen dringt kaum ein Detail nach draußen. Das ist ein gutes Zeichen.

Jetzt verhandeln die Spitzen von ÖVP, SPÖ und Neos schon seit Wochen über eine Regierung – bis jüngst hießen die Treffen offiziell „Sondierungen“ – und im medialen Kommentatorenkreis wird herumgenörgelt, dass das alles zu langsam gehe. Faktum ist jedenfalls, dass wir nicht wissen, wie der Stand der Gespräche ist. Allerdings: Das ist schon einmal ein sehr gutes Zeichen. Ganz offensichtlich halten die Beteiligten still und lassen nichts nach draußen dringen. Sie wahren die Vertraulichkeit. Und auch wenn das für das aufgeregte Keppler im Fernsehen langweilig ist, ist es doch vor allem erfreulich. Wenn die künftigen Regierenden ein Vertrauensverhältnis haben, dann kann das nämlich für uns alle nur gut sein.

Der menschliche Faktor in der Politik wird gerne unterschätzt, dabei ist er oft eine der wichtigsten Sachen überhaupt. Natürlich gibt es immer ideologische Unterschiede, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien und einfache Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteien und deren Spitzenpolitikern. Aber der menschliche Faktor entscheidet, wie mit diesen Differenzen umgegangen wird. Ob man Kompromisse sucht oder sich wechselseitig erpresst. Ob man sich ausredet, bis ein Konsens da ist, oder sich ein Bein stellt. Ob man die beste Lösung für komplexe Probleme sucht oder die beste schnelle Schlagzeile, damit man wie ein toller Hecht dasteht.

In Deutschland ist bekanntlich gerade die Regierung von Olaf Scholz zerbrochen, und primär ist das dem menschlichen Faktor zuzuschreiben, also vor allem dem Anführer der liberalen FDP, Christian Lindner. Der ist charakterlich so gestrickt, dass er immer falsch spielt und überhaupt die Konflikte in der Regierung als ein „Spiel“ ansieht, bei dem er unbedingt als Gewinner dastehen muss. Wahrscheinlich ist die Ampel weniger an grundsätzlichen Kontroversen, und mehr an diesen Charaktereigenschaften zerbrochen. Lindner hat seine Partner so lange genervt, bis es gereicht hat.

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Deswegen ist es eben auch wichtig, dass Karl Nehammer, Andi Babler und Beate Meinl-Reisinger persönlich und atmosphärisch einen guten Draht zueinander finden. Dass sie miteinander können, damit sie trotz Unterschiede die nächsten Jahre an einem Strang ziehen.

Es geht da nicht nur um Polit-Beziehungskitsch, im Grunde berührt das zentrale Fragen unserer Gesellschaft. Denn unsere Gesellschaften sind heterogen geworden, es gibt nicht „die große Mehrheit“ von Leuten, die alle gleich ticken, ähnlich denken. Moderne Gesellschaften sind Puzzles unterschiedlicher Gruppen, die alle auf ihre Weise Minderheiten sind. Das ist im Alltagsleben so, und das ist dann auch im politischen System so. Niemand kann für die Mehrheit sprechen, alle nur für einen Teil, viele nur für Kleingruppen. Also braucht es den Konsens und die Kooperationsfähigkeit. Das hat seine Vorteile und Nachteile. Dass niemand diktieren kann, ist gut. Dass aber die Suche nach Kompromissen oft lähmend lange dauert, ist schlecht. Wenn jemand starke Überzeugungen hat, ist das gut. Aber wenn er dennoch die Argumente der Gegenseite berücksichtigen muss, weil er sie für Mehrheitsentscheidungen braucht, ist das oft sogar noch besser. Weil man dann auch das einbauen muss, was an den Ansichten der anderen plausibel ist. Vorschnell ist gern von „faulen Kompromissen“ die Rede. Aber Kompromisse können oft schlauer sein als die Ausgangspositionen vor dem Kompromiss. Auch deshalb sind Regierende, die einander vertrauen, für alle besser als Spitzenpolitiker, die nur gegeneinander intrigieren.

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