Die große Erschöpfung

Unsere Gesellschaft leidet an Überlastungsstress. Die „Polarisierung“ ist selbst schon eine Erschöpfungs-Ursache.

Einer der charakteristischen Gemütszustände unserer Zeit ist das Gefühl der Erschöpfung. 61 Prozent der Arbeitnehmer, so ergab jüngst eine Studie in Deutschland, befürchten ein Burnout, 21 Prozent empfinden sich als so erschöpft, dass sie diese Gefahr als „hoch“ einstufen. Das ist nicht nur eine Folge von Belastungen im Job, sondern von einem generellen Überforderungsgefühl. Gründe sind die Nachwirkungen der Pandemie, bei der alle die Zähne zusammengebissen haben, um den Überlastungsstress auszuhalten. Und hinterher kamen ja gleich die nächsten Krisen: Krieg, Inflation, ökonomische Sorgen. Belastung erschöpft, und Angst erschöpft erst recht. Viele Menschen empfinden, dass sie einen täglichen Hochseilakt vollführen. Die Gereiztheiten, die das auslöst, verstärken auch den politischen und gesellschaftlichen Hader. Dieses gesellschaftliche Klima trägt dann wiederum selbst zur Überforderung und zum Stress bei. Die Polarisierung wird in Umfragen als eine zentrale Erschöpfungs-Ursache angegeben.

Skurril: Die Erschöpfung führt zu Gereiztheit und die Dauergereiztheit erschöpft dann erst recht.

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Ich hatte das große Vergnügen, vor einigen Wochen mit zwei exzellenten deutschen Soziologen zu sprechen, die gerade eine große Studie über Polarisierung und Konflikt in Deutschland gemacht haben – dem Berliner Universitätsprofessor Steffen Mau und seinem Kollegen Linus Westheuser. Dabei haben sie mit 2500 repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern Interviews gemacht und dann noch 100 aus dieser Gruppe zu intensiven Diskussionen gebeten, die Fachleute nennen das dann „Fokus-Gruppen“.

Ihre Forschungsergebnisse: Die Gesellschaft ist gar nicht so gespalten, wie alle tun. Bei den großen gesellschaftlichen Reizthemen – wie Migration, Geschlechtergerechtigkeit, Klima, aber auch Themen wie die soziale Ungleichheit – gibt es zwar laute Ränder, aber die breite Mitte der Gesellschaft hat sehr balancierte Meinungen. Dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind, ist absolut akzeptiert. Alle wissen, wir brauchen Zuwanderung für Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben und dass Menschen mit verschiedenem Herkommen zusammenleben, daran haben sich alle gewöhnt. Wer sich anstrengt und integriert ist willkommen, aber wer das nicht tut, wird abgelehnt. Die allermeisten sind weder für völlig offene Grenzen noch für Festungen mit hochgezogenen Zugbrücken. Auch dass allen Respekt zusteht, dass Frauen gleiche Rechte haben sollen, Minderheiten, Homosexuelle, wer auch immer, nicht diskriminiert werden sollen – darüber gibt es große Einigkeit. Aber dass das alles mit Maß und Ziel verfolgt werden soll, ohne radikale Übertreibungen, das wird auch von den meisten geteilt. Leben und leben lassen ist so in etwa die Maxime der Mehrheit. Aber es gibt in unserer Gesellschaft etwas, was die Autoren mit dem schönen Wort der „Veränderungserschöpfung“ beschreiben.

Und: Es gibt aber neben dieser breiten Einigkeit ein paar „Triggerpunkte“, die viele Leute aufregen. Die berühmten Gendersternchen, Bandenkriminalität, gefühlte oder echte Zurücksetzung, und diese „inflammatorischen Detailfragen“ (so die Autoren), können dann von „Polarisierungsunternehmern“ ausgenützt werden, um auch gemäßigte Geister aufzuregen. Also: Die Polarisierung kommt von Politikern, die sich durch Aufganselei einen Vorteil versprechen, oder von Medien, die mit Aufregerthemen Auflage machen oder Klicks im Internet generieren.

Die meisten Menschen haben recht vernünftige Ansichten, und selbst wenn sie sich uneinig sind, sind sie nicht soweit auseinander, dass sie sich nicht verständigen können.

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