Eine sehr gutgemeinte Warnung an die SPÖ

Warum die Sozialdemokratie gut beraten ist, auch eine Stichwahl durch die Mitglieder durchzuführen.

Die SPÖ hat jetzt eine Mitgliederbefragung beschlossen und ein paar Nebel haben sich gelichtet – etwa, wer die aussichtsreichen Kandidaten sind, wie in etwa das Verfahren ablaufen soll. Aber nach einer Reihe an Hoppalas droht die SPÖ in die nächste Falle zu torkeln. Die sollte unbedingt vermieden werden, deshalb diese sehr freundliche Warnung: Wenn es keine Stichwahl durch die Mitglieder gibt, kann die Sache äußerst böse ausgehen. Ich will kurz schildern, warum.

Bei der Mitgliederbefragung werden einige Mitglieder antreten – wieviele, ist noch unklar, denn Kandidaten müssen bis Freitag 30 Unterstützungsunterschriften beibringen –, aber es werden mindestens drei sein: Pamela Rendi-Wagner, Hans-Peter Doskozil und Andreas Babler. Möglich, dass bei der Befragung eine der antretenden Personen eine absolute Mehrheit bekommt, dann wäre ja alles gut. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Die formal endgültige Entscheidung muss ein Parteitag treffen. Wie aber kann die Entscheidung der Mitglieder respektiert und als einigermaßen verbindlich behandelt werden? Eine sehr gutgemeinte Warnung an die SPÖ weiterlesen

„Anpacken“ – ein Gespräch mit Andreas Babler

Andreas Babler ist jetzt als aussichtsreicher dritter Kandidat in den Wettbewerb um den SPÖ-Parteivorsitz eingestiegen. Die meisten von Euch kennen ihn ja. Wer ihn noch näher kennen lernen mag: Vor einigen Wochen führte ich im Wiener Bruno Kreisky Forum dieses Gespräch ein langes Gespräch mit Andreas Babler über seine Grundsätze, seine Politik etc.

Anti-Pizza-Koalition

Die ÖVP verrät in Niederösterreich ihre Wähler und koaliert mit fanatischen Rechtsextremisten.

Es war ein schwarzer Tag für Niederösterreich – und für Österreich insgesamt – als Johanna Mikl-Leitner und Udo Landbauer ihre Koalition verkündet hatten. Beide hatten vorher versprochen, mit dem jeweils anderen niemals paktieren zu wollen. Es ist eine Koalition der Lügner. Aber mehr noch: Mikl-Leitner hat auch noch aktiv Wähler mit der Botschaft umworben, indem man sie stärke, stimme man gegen die FPÖ. Eine gewisse Flunkerei ist man von Machtpolitikern ja gewohnt, aber ein solcher Verrat an den Wählern schrammt schon sehr nah an Wahlbetrug heran. Sogar vor den Corona-Obskuranten, Pferdemittel-Werbern und Anti-Wissenschafts-Spinnern macht Mikl-Leitner ihren Kotau und stößt alle brutal vor den Kopf, die während der Pandemie auf andere Rücksicht genommen haben. Es ist eine Schande, ein Abgrund des Betruges.

Erst umgarnt sie Wähler und Wählerinnen der Mitte, und dann koaliert sie mit den fanatischesten Rechtsextremisten, die selbst die FPÖ aufzubieten hat. Mit Landbauer, mit dem Kinder-Beleidiger Gottfried Waldhäusl, mit Leuten, die vor ein paar Jahren noch stolz den Hitlergruß zeigten, mit einer Partei, die an vielen Stellen in Neonazi- und Identitären-Netze verwoben ist. Hatte Sebastian Kurz seinen türkis-grünen Pakt noch das „Beste aus beiden Welten“ genannt, so haben wir hier mit dem Widerwärtigsten aus beiden Welten zu tun: einer unehrlichen ÖVP, die in ihrer Machtgier keine Hemmungen kennt, und einer FPÖ der verbohrten Radikalinskis. Anti-Pizza-Koalition weiterlesen

Der Skandal der Ungleichheit

Es braucht endlich einen entschlossenen Kampf gegen die neue soziale Schieflage.

Die wachsende Ungleichheit bewegt die Menschen, das zeigen immer wieder Umfragen. Dabei ist gar nicht so klar, was sie daran bewegt. Als Begriff ist „wachsende Ungleichheit“ so etwas wie ein anderer Ausdruck für „Ungerechtigkeit“, und die erleben viele Menschen einfach in ihrem Alltag. Dass die Reichen immer reicher werden, während die normalen Menschen oft nicht einmal mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, das erleben wir aber in unserem Alltag nur beschränkt. Denn wie die Superreichen, Gewitzten und Glücksritter leben, wissen wir nur so ungefähr, und dass ihre Vermögen sehr viel schneller steigen als der allgemeine Wohlstand, das ist eine Tatsache, für die wir kein Erfahrungswissen haben. Wir erhaschen ja selten einen Blick in ihre Traumvillen, aber nie sehen wir die Entwicklung ihrer Kontostände, ihrer Aktien- und sonstigen Vermögensportfolios. Das ist jenseits unseres Wissens, sogar jenseits eines „Gefühlswissens“. Denn selbst wenn wir wüssten, der Herr Mustermann aus dem Kreis der Obersten Zehntausend hat seine Vermögensstände von 120 Millionen auf 140 Millionen Euro erhöht, dann ist das letztlich nur eine abstrakte Zahl. Wir haben keine Ahnung, wie es sich mit 120 Millionen lebt, und die Steigerung auf 140 Millionen lässt uns emotional relativ kalt, da es für uns schon keinen Unterschied mehr macht. Unvorstellbar ist einfach beides. Der Skandal der Ungleichheit weiterlesen

„Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt“

200 Jahre moderne Kunst – in 20 Minuten.

In zwanzig Minuten einige wichtige Inhalte aus meinem Buch „Das Große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution“, zu erzählen, das war die Aufgabe, die mir Stefan Wally in der Salzburger Robert-Jungk-Bibliothek stellte. Hier das Gespräch auf Youtube:

George Orwell: Der Großmeister der Wahrhaftigkeit

George Orwell, ein Gigant. Warum wir den eigenwilligen Linken und Meister des „einfachen Stils“ unbedingt wieder entdecken sollten. Ein biografisch-literarischer Großessay.

„Die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa erscheinen mir als das einzige erstrebenswerte politische Ziel unserer Zeit.“ – George Orwell

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Unlängst stand ich mit zwei Bekannten in der Bar des Schauspielhauses am Tresen, davor hatte ich das Stück „Faarm Animaal“ von Tomas Schweigen gesehen, eine famose Improvisation über George Orwells „Animal Farm“, die die berühmte Parabel in eine Satire über die Conditio Humana umformt. Grob gesprochen handelt die Inszenierung von einer Selbsterfahrungsgruppe, in die sich sofort Privilegierungen, Hierarchie, Mobbing, Vermachtung einschleichen, mitsamt aller Scheußlichkeiten wie Demütigungsritualen, welche sich zu allem Überdruss als Übungen in einfühlender Sprache und Achtsamkeit tarnen. Der Schuss Passivaggression, der heute zum guten Ton gehört, fehlte auch nicht.

Irgendwann sagte ich so salopp dahin, ich fände es traurig, dass Orwell heute primär wegen seiner zwei schwächsten Bücher berühmt ist – „Animal Farm“ und „1984“ –, während der Großteil der Schriften dieses Giganten zu sehr in Vergessenheit geraten ist. Ich erntete ein erstauntes „Ach, wirklich?“, und es hätte mich nicht wundern dürfen, denn wer kennt schon relevante Teile von Orwells Werk abseits der beiden berühmtesten Bücher? Nun, legen sie meine Worte bitte nicht zu sehr auf die Waagschale, vielleicht ist es auch übertrieben, diese beiden dystopischen Erzählungen gleich Orwells „schlechteste Bücher“ zu nennen, vielleicht haben die auch nur wenig in mir zum Klingen gebracht, einerseits, weil man bei Klassikern dieser Art ja schon vor dem Lesen weiß, was drin steht, andererseits weil ich sie seit meiner Schulzeit auch als „Jugendliteratur“ im Kopf abgespeichert habe, ich mir möglicherweise eine gewisse Voreingenommenheit in irgendwelche Synapsenverschaltungen eingelagert habe, die man dann hinterher nicht los kriegt. Andererseits habe ich immer Orwell gelesen, auch in meiner Jugend, über „Mein Katalonien“ („Homage to Catalonia“) habe ich sogar in Englisch abituriert. Ist auch schon eine geraume Weile her.

Ich habe an Orwell immer seine Präzision bewundert, seine Schonungslosigkeit, seine absolute Ehrlichkeit gegenüber dem Material, das er vorfand – also der Wirklichkeit –, und vor allem seinen sprachlichen Stil, den Stil der Einfachheit, und auch die eingestreute, lapidare Ironie, wie er politische Themen in Romanen, Reportagen, in Essays und Kommentaren in eine Kunstform verwandelt hat. Das soll nicht vermessen klingen: Aber als politischer Autor fühlte ich mich ihm immer verwandt, und würde das jetzt nicht wieder zu pathetisch klingen, würde ich sagen, er war mir immer ein Vorbild und Lehrmeister, so wie mir das scharfe Florett von Kurt Tucholsky, der polemische Schwung von Karl Marx, die intellektuelle Wachheit und apodiktische Meinungsstärke von Susan Sontag stets etwas waren, dem ich mit meinen bescheidenen Mitteln nacheiferte. Man nimmt, wenn man nicht bloß schreiben, sondern besser schreiben will, Maß an den Großen, versucht sich an ihnen zu modellieren. Alles andere wäre ja auch absurd: Man misst sich ja nicht mit Zwergen, wenn man etwas lernen will. George Orwell: Der Großmeister der Wahrhaftigkeit weiterlesen

Man beleidigt keine Kinder

Leute wie der FPÖ-Waldhäusl sollten sich erst einmal selbst integrieren.

Die FPÖ ist jetzt wieder obenauf, zumindest gefühlt, und ihre Drahtzieher und Spitzenleute rennen schon mit aufgeblasener Brust herum. Wenn sie in ihrer arroganten Selbstgefälligkeit daherkommen, hat man den Eindruck, sie hätten in Niederösterreich eine satte absolute Mehrheit erhalten. Dabei waren es 24,1 Prozent, was man nicht kleinreden soll. Aber das haben die Herrschaften ja schon mehrmals vorgeführt: Hochmut kommt vor dem Fall.

Dennoch: die Zustimmungsraten sind erschreckend hoch. Kickl mit seiner Fundamentalopposition und seinem „Wir gegen alle“ zieht jene Landsleute an, die aus irgendwelchen Gründen unzufrieden sind (es können die unterschiedlichsten Gründe sein), und verwandelt die Unzufriedenheit in Wut und die Wut in Raserei und Hass. Darin ist er gut, ohne Zweifel. Man beleidigt keine Kinder weiterlesen

Die Faschisten ernst nehmen

Diagnosen wie „Rechtspopulismus“ werden den Mechanismen der Selbstradikalisierung und des extremistischen Überbietungswettbewerbs nicht gerecht.

Sollen wir den politischen Zustand unserer Öffentlichkeiten und politischen Systeme beschreiben, dann rauchen schnell die Köpfe und so manche flüchten sich flott ins Ungefähre. Die westlichen Gesellschaften – nicht nur diese, aber diese eben auch – sind polarisiert, was aber auch schon eine etwas unterkomplexe Beschreibung ist. Denn eine Polarisierungsdiagnose unterstellt ja zumindest eine Akzentuierung politischer „Pole“, während in der Realität der Mainstream Links der Mitte heute weitgehend moderat ist, während sich zugleich der Mainstream Rechts der Mitte radikalisiert. „Radikale sozialistische Regierungen“ hat man in entwickelten Demokratien ja zuletzt eher selten gesehen, radikale rechte Regierungen eher häufiger. Die Polarisierung geht also weitgehend von einer Seite aus.

Wir behelfen uns auch gerne mit verschämten Hilfsvokabeln wie „ultrarechts“ – im Englischen gerne mit Far-Right oder Hard-Right –, hierzulande auch bevorzugt mit „harte Rechte“ oder gar dem sanften „Rechtspopulismus“. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, wenn damit die Realität nur einigermaßen akkurat beschrieben würde.

Mit dem Aufstieg von extrem rechten Parteien oder der Verwandlung ehemals weitgehend moderater Rechtsparteien in radikale Rechtsparteien (das beste Beispiel sind die US-amerikanischen Republikaner) zieht zunächst eine Re-Ideologisierung politischer Diskurse ein, aber auch eine Wut-Bewirtschaftung, die das Zornpotential in einer Gesellschaft hebt, so dass etwa amorphe Unzufriedenheit in rabiates Dagegensein, und das Dagegensein dann in Gewaltbereitschaft verwandelt wird, bis selbst Staatsstreiche nicht mehr als No-Go angesehen werden. Die Faschisten ernst nehmen weiterlesen

The left and freedom

Democratic socialists must take back the concept of freedom from the libertarians.

My Column for Social Europe.

‘Freedom’ is back as a slogan but often in a very peculiar way. It has become a distorted term whose hollowness is all too obvious.

Neoliberals have for decades been reducing the concept to mere ‘economic’ freedom, their worldview one in which individuals exist only as isolated atoms, each looking out for their own self-interest in antagonism to one another. ‘Freedom’ then paradoxically becomes the right of the strongest to prevail in a Hobbesian war of all against all.

Call it ‘anarcho-conservatism’: this simple-minded libertarianism is quite common among today‘s radicalised figures on the right. Even at the height of the pandemic, radical right-wingers, esoteric minds and sundry other critics of the public-health measures presented themselves as fighters for ‘freedom’, as if that meant unrestrained egocentricity.

At the turn of the year, two German writers hence declared ‘freedom’ to be the meaningless ‘phrase of the year’ in 2022—although this triggered uproar: how could one degrade such a basic value of democratic civilisation to a ‘phrase’? Occasionally, Karl Marx was quoted as saying that ‘no man fights against freedom; he fights at most against the freedom of others’. Marx meant that what masquerades as advocacy of freedom in general is often nothing more than the desire for privilege at the expense of others.

Stalinist mentality

If it is grotesque when radical right-wingers parade this slogan—their political family having regularly trampled on freedom historically—it is just as dubious when some left-wingers dismiss ‘bourgeois’ freedom as ideology, a deceptive manoeuvre. ‘What good is freedom of the press to an illiterate? What use is the right to vote to the starving?’ asked Oskar Lafontaine, former leader of the German Left party. He thus encapsulated a not-uncommon claim: all these democratic freedoms are inconsequential. This is today’s fading form of the disregard for civil liberties inherent in the Stalinist mentality. The left and freedom weiterlesen

Ficken als Bildungsprogramm

Der Boom des autofiktionalen Schreibens von Annie Ernaux bis Edouard Louis. „Ich will mit vielen Leuten schlafen“, notierte sich Susan Sontag, so wie wenn man sich vornimmt, der eigenen Persönlichkeitsverfeinerung wegen viele Bücher lesen zu wollen.

Die Künste sind, heute vielleicht mehr denn je, auf der Suche nach der „Relevanz“. Überall wird über die „Relevanz“ gegrübelt. Relevanz für das Leben, Relevanz in Hinblick auf gesellschaftliche Themen, und dabei schwingt „politische Relevanz“ zumindest mit. Auch die Entwicklung neuer Formensprachen und Sprachformen ist „politisch“, insofern sie Empfindungsweisen revolutioniert, neue Seh-, Sprech- und Wahrnehmungsformen einführt, vielleicht sogar zu Neudefinitionen beiträgt, was Kunst ist (und was nicht), und damit die Zeit aufnimmt und auf sie zugleich einwirkt. Künstlerische Produktionen können bekanntlich politisch sein im Sinne einer prononcierten Aussage oder der Behandlung von Thematiken, die im Kern politisch sind, aber auch jede persönliche, private Geschichte kann eine gesellschaftliche Relevanz haben, sofern sie exemplarisch für Problematiken des Ich ist, die nicht aus dem Inneren, sondern aus der Gesellschaft wachsen. Der gegenwärtige Boom der „autofiktionalen Literatur“ ist in diese Sehnsucht nach Relevanz eingebettet. Übersehen werden darf auch nicht, dass die Artikulation des „Problems der Relevanz“ mindestens unterschwellig getragen ist von dem Verdacht, dass es um die Relevanz möglicherweise nicht so gut bestellt ist. Ohne dieses Verdachtes wäre die Relevanz kein Thema.

Autofiktion – eine literarische Mode?

Der Boom des Autofiktionalen ist heute beglaubigt durch den Nobelpreis für Annie Ernaux, deren Schreiben die Entwicklung ihrer Person über „die Jahre“ (so einer ihrer gefeierten Titel) verwebt mit den Geschehnissen der Zeit und dem Wandel an Konventionen und aufkommenden Leitideen, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, durch die die autofiktionale Erzählerin über weite Strecke nur am Rande gleitet. Didier Eribon, der mit „Rückkehr nach Reims“ einen Sensationserfolg landete, gehört auch in dieses Bild, obwohl oder besser: weil dieses Buch Teils politisches Sachbuch ist, Teils Soziologie, Teils die Geschichte des (schwulen) Jungen erzählt, der in der industriellen Arbeiterklasse aufwächst, sich aus den Konformismen seines Milieus herausarbeitet, sich aber damit auch seiner Herkunft entfremdet, sich ihrer schämt – und sich, und das ist Wesentlich, auch dieser Scham schämt. Zur Eigenart des Genres gehört unmittelbar die Frage, was daran überhaupt Fiktion ist, da sie von der Authentizität lebt, also von der Empfindung des Lesers und der Leserin, dass daran eben gar nichts Fiktion ist, womit auch ein Angebot zur Identifikation einher geht. Zugleich wissen wir immerzu, dass das Reale mit dem Fiktiven auf irgendeine Weise immer verwoben ist, und sei es bloß das Fiktive der Geradlinigkeit einer Biografie. Ficken als Bildungsprogramm weiterlesen

Die Königin des Undergrounds

Kiki de Montparnasse, Man Ray und die Urgründe moderner Seh- und Wahrnehmungsformen.

Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt – und wie ein eminenter Geist der Erneuerung, von Verwandlungszeiträumen? Diese Frage gehe ich ja unter anderem in meinem Buch „Das große Beginnergefühl – Moderne, Zeitgeist, Revolution“ nach. In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen, etwa in der Poesie, im Roman, in sonstigen erzählerischen Formen, beginnend mit dem realistischen Roman, oder etwa mit der Formensprache einer Dichtung, in der der Text gleichsam zum Text spricht, musikalisch, rhythmisch, mit Klangzauber. In den bildenden Künsten geht es von der naturalistischen Darstellung über zur bildnerischen Gestaltung dessen, was der Künstler und die Künstlerin sieht, nicht die Wirklichkeit wird dargestellt, sondern bereits die Wahrnehmungsweise des Künstlers.

Impressionistisches „Flimmern“, das auch schon die neuen Empfindungen einer beschleunigten Welt, den Schock der Plötzlichkeit, den Blitz des schnellen Eindrucks wiedergibt. Weiter geht es auf dem Weg in die Abstraktion, über den Kubismus in die völlige Gegenstandslosigkeit. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann. Die Kunst wird geistiger, lebt von der Idee, ein Kunstwerk wird nicht geschaffen, man denkt sich quasi eines aus. Das Pathos der geraden Linien und geometrischen Formen wandert von der bildenden Kunst im engeren Sinne in die Architektur, mit Bauhaus, International Style, klassischer Moderne und durchdringen somit auch den Alltag. Feedbackschleifen verbinden die Kunstrevolutionen mit Erneuerungen der Geisteswelt, etwa der Psychoanalyse oder dem Stil der Introspektion des Subjektes, das nicht nur nach Draußen schaut, sondern mit viel Aufmerksamkeit nach Innen hört. Die Königin des Undergrounds weiterlesen

Der „angewandte Surrealismus“ des Milo Rau

Kampf der Saturiertheit: Der wohl verwegendste Theatermacher der Gegenwart übernimmt die Wiener Festwochen.

Die Bestellung Milo Raus zum künstlerischen Leiter der Wiener Festwochen ist die beherzteste und spannendste kulturpolitische Entscheidung seit langem, womöglich seit den mitreißenden Zeiten einer Ursula Pasterk. Ich will auch gleich sagen, warum.

Milo Rau ist eine Kraftnatur, der die Dinge, die er sich vornimmt, auf den Boden bringt – oft genug Projekte, die man eigentlich nicht für möglich hält. Dieses Energetische ist auch ein Element, das man nicht ignorieren sollte, denn was bringt der innovativste Kopf, wenn er von den Mechanismen der Beharrung zerrieben wird;

zweitens ist Milo Rau ein radikaler politischer Künstler, der auch eine diebische Freude daran hat, wenn seine Produktionen aufregen, was nicht heißt, dass er den Skandal sucht – explizit sagt er sogar, dass die Strategie der Skandalisierung eine Sackgasse ist, weil der Kunstskandal selbst leicht zur Berechnung und damit zum Üblichen, Erwartbaren werden kann –, sondern dass er diese Extrameter geht, die notwendig sind, damit eine künstlerische Produktion irritiert, die Gewohnheiten verrückt, Debatten auslöst, auch weh tut und über die Kulturszene hinaus strahlt;

drittens ist er gerade erst 46 Jahre alt geworden, und damit nicht mehr total jung, aber auch noch nicht alt und in Bahnen der Routine, er eilt seit gut 14 Jahren von Triumph zu Triumph und findet immer neue Formensprachen und Darstellungsweisen. Er ist, im besten Sinne, noch nicht „bewährt“;

viertens braucht die Kunst generell und braucht die Wiener Kulturszene in besonderem einen neuen Schwung, dass die Dinge durcheinander geraten, dass etwas geschieht, das neue Spuren in die Zukunft hinterlässt. Was gestern innovativ war, ist heute ja überholt und eine Gewohnheitssache, und wenn man sich erinnert, wie vor 40 Jahren die gegenkulturelle Öffnung der Festwochen, wie vor 35 Jahren auch das Burgtheater von Claus Peymann, das künstlerische Milieu rund um Jelinek usw., wie all das und noch viel mehr eine Brutstätte des Neuen etabliert hat, dann muss man zugleich auch kritisch konstatieren: da ist es in den vergangenen Jahren etwas lahm geworden. Niemand soll das übrigens als Vorwurf verstehen: Die Verhältnisse haben sich verändert, die alten Schlachten sind geschlagen, von dissidenten Haltungen und Bühnenprovokationen lässt sich niemand mehr so leicht aus der Ruhe bringen (weshalb das saturierte Publikum, das früher buhte, heute applaudiert, und die „Kunstfalle“ – wie Heiner Müller das nannte – daher zuschnappt).

Kurzum: Die Stadt braucht mal wieder jemanden, der tiefer bohrt, der auch die Stadt prägt, ihr einen Stempel aufdrückt, einen Patron der allernächsten Generation, deren Biss und Beginnertaumel, und Milo Rau ist das zuzutrauen, auch weil er als Kommunikator und Genie des Fädenspinnens die Fähigkeit besitzt, gute Leute um sich zu scharen, die begeistert ein bisschen mehr wollen, als das, was alle wollen. Der „angewandte Surrealismus“ des Milo Rau weiterlesen