Bahnmanager Christian Kern wird höchstwahrscheinlich nächster österreichischer Regierungschef. Weil im diskreditierten Polit-System nur mehr Leute von Außen die Chance haben, den Karren herumzureißen. Zeit-Online, Mai 2015
Nahezu täglich könnte man den Nachrichten aus Österreich dieser Tage die Floskel voran stellen: „Das hat es noch nie gegeben…“ Zuerst erreicht der Kandidat der rechtsradikalen Populisten bei der Bundespräsidentenwahl 35 Prozent. In der Stichwahl steht er dem früheren Parteichef der Grünen gegenüber. Die Kandidaten der Regierung, die man heute nur mehr aus Konvention „große Koalition“ nennt, kommen gerade einmal noch knapp über 10 Prozent. Der Parteichef und Kanzler der Sozialdemokraten wird von seinen eigenen Funktionären am 1. Mai von der Rednertribüne gebuht. Zehn Tage später tritt er dann als Kanzler und Parteivorsitzende zurück, noch ehe sich seine Partei auf einen Nachfolger verständigen konnte. Da die größere Regierungspartei gerade keinen Regierungschef zur Hand hat, darf der Vizekanzler jetzt ein paar Tage Kanzler spielen.
Jetzt castet die einstmals stolze Sozialdemokratie ihr neues Spitzenpersonal: Außenseiterchancen hat Gerhard Zeiler, früher RTL-Chef, heute Chef von CNN-International. Der Top-Kandidat, dem die Kanzlerschaft wohl auch nicht mehr zu nehmen ist, ist der bisherige CEO der Staatsbahn ÖBB, Christian Kern.
Kann das denn sein, fragt man sich da aus der Ferne? Ist die Politik so diskreditiert, dass man sich scheinbar nur mehr an politikferne, technokratische Macher halten kann?
Doch diese Frage führt ein wenig auf die falsche Fährte.
Denn zunächst einmal gelten beide Kandidaten, Kern wie Zeiler, seit Jahren schon als Personalreserve ihrer Partei. Zeiler war Sprecher und Alter Ego des SPÖ-Bundeskanzlers, bevor er ins Mediengeschäft wechselte, Kern wiederum werkte im SPÖ-Parlamentsklub. Beide hatten schon ein paar der üblichen Sprossen des Polit-Aufstiegs genommen, bevor sie die Abzweigung in die Wirtschaft machten.
Vor allem aber verkörpern sie, insbesondere der Favorit Kern, die Hoffnung auf eine Politisierung, also eine grundsatzorientiertere, aber zugleich moderne sozialdemokratische Politik. Kern ist somit gerade keine „unpolitische, nur pragmatische Ansage“. Österreich sucht den Super-Kanzler weiterlesen