Amerika lügt, Amerika ist ein Hochstapler

Michael Harriot hat eine zornige, lustige, schnoddrige und böse Geschichte des schwarzen Amerika geschrieben.

Falter, Literaturbeilage, Oktober 2024

„Würde man aus Vergangenheit und Gegenwart Amerikas ein fühlendes Wesen erschaffen wollen“, eines, das die dunklen Wahrheiten, die Geschichte, die Identität der Vereinigten Staaten verkörpert, ätzt Michael Harriot, „es wäre wie Donald Trump.“ Es würde alle hassen, die nicht weiß sind. Es würde sich für ein einzigartiges mental stabiles Genie halten. „Donald Trump ist Amerika.“

„Er lügt… genau wie Amerika lügt.“ Die Geschichte der Nation, ihrer Bedeutsamkeit, dass sie ein Leuchtturm des Guten sei, all das ist „das Hirngespinst einer kollektiven weißen Fantasie. Amerika ist ein Hochstapler.“ Amerika lügt, Amerika ist ein Hochstapler weiterlesen

Lob der Identitätspolitik

Im Kulturkrieg um die „Wokeness“ bringt Karsten Schubert eine Menge guter Argumente vor – und auch ein paar fragwürdige.

Falter, Literaturbeilage, Oktober 2024

Die „Identitätspolitik“ hat heute einen schlechten Ruf, man möchte beinahe meinen, sie kommt nur mehr als Injurie vor. „Woke“ ist zu einem regelrechten Schimpfwort geworden, und nicht nur Konservative reagieren hysterisch, wenn benachteiligte Bevölkerungsgruppen Forderungen aufstellen. Auch Weltverbesserer mit „universalistischem“ Anspruch beklagen, mit der Identitätspolitik würde ein Tribalismus einziehen, also eine Art neues Stammesdenken; gemäßigte Linke sehen die Freiheit und den vernünftigen Diskurs bedroht, wenn nicht mehr zählt, ob ein Argument plausibel ist, sondern allein, wer es vorbringt; Identitätspolitik führt, so die Klage, zu Spaltungen und einem Gegeneinander, wo eigentlich Bündnisse angesagt wären; etwas wohlwollendere Einwände lauten, dass die Identitätspolitik benachteiligter Gruppen viel zu leicht in Übertreibungen eskaliert, sodass Theorien, die Richtiges zur Sprache bringen, ins Konfrontative oder Verrückte ausarten. Lob der Identitätspolitik weiterlesen

Wie Gesellschaften entgleisen

Der Dramatiker Thomas Köck hat eine politische Chronik des Wahljahres geschrieben und ist dabei in eine Art Depression gefallen.

Falter, August 2024

„Wir nennen das ab jetzt den herbertkomplex. Die fortlaufende Untersuchung der Gegenwart“, schreibt Thomas Köck lapidar. „Der herbertkomplex ist der Rechtsruck, der kein Ruck mehr ist, sondern eine jahrzehntelange Verschiebung sämtlicher demokratischer Grundprinzipien“. Kein Ruck, sondern „Rechtserdrutsch“.

„herbertkomplex“, das steht für die Gesellschaftskrankheit, deren Symptom Herbert Kickl ist, der „herbert“, der durchgehend nur in Kleinschreibung vorkommt, um ihn nicht zu groß zu machen. In der „Chronik der laufenden Entgleisungen“ hat der österreichische Stückeschreiber und Theatermacher eine Art Buchführung der Gegenwart vollbracht. Chronik, Tagebuch, mit Eintragungen über ein Jahr. Sammlung der Niederträchtigkeiten. Soziologie des Alltäglichen. Wie Gesellschaften entgleisen weiterlesen

Krieg der Erzählungen

Hundert Jahre Gewalt und Eskalationslogik: Rashid Khalidis Geschichte des Palästina-Konfliktes.

Falter, August 2024

Die zionistische Kolonisation Palästinas war eine friedliche Besiedelung kargen Landes durch europäische Juden, die dieses erst urbar und bewohnbar machten; eine Besiedlung, die durch den Naziterror und den Holocaust beschleunigt wurde; ab der Staatsgründung Israels 1948 sah sich die junge Nation fanatischer Gegnerschaft ihrer Nachbarn ausgesetzt, verteidigte sich aber heldenhaft gegen deren Vernichtungsfantasien. Palästinenser gab es in diesem „Land ohne Volk“ sowieso keine, die seien eine Erfindung arabischer Israelfeinde. Ausgestreckte Hände haben die Araber immer zurückgewiesen, anstelle dessen auf Terror und hinterhältige Arglist gesetzt. Wenn gelegentlich auch Israel Blutbäder anrichtet, dann seien die letztlich auch seinen Gegnern zuzuschreiben, da ein kleines, verletzliches Land sich ja nur existenzieller Gefahr erwehre.

So in etwa lautet das jahrzehntealte PR-Narrativ, das heute dröhnend die Debatten dominiert. Krieg der Erzählungen weiterlesen

Mit den Augen der Anderen sehen

Onur Erdurs großartige Studie über die (post-)kolonialen Wurzeln der französischen Nachkriegstheorie.

Falter, Juli 2024

Im Debatten-Getöse über „Wokeness“ oder „Postkolonialismus“ wird gerne genörgelt, amerikanische Simplifizierungen würden zu uns herüber schwappen. In den USA wiederum ist häufig zu hören, der radikale Manichäismus sei Folge des „postmodernen“ französischen Denkens, quasi eine Pariser Krankheit.

Blöde versimpelt ist beides. Doch in diesen aktuellen Kontext hinein liest sich Onur Erdurs brillante und elegante Studie „Schule des Südens“ mit noch mehr Gewinn. Der Berliner Kulturwissenschaftler legt eine wenig beachtete Geschichte frei – nämlich die Bedeutung der kolonialen Erfahrung für die legendären Begründer des französischen Nachkriegsdenkens, von Bourdieu, Barthes, Lyotard, Foucault, Balibar und vielen anderen. Mit den Augen der Anderen sehen weiterlesen

Das Wissen der Beherrschten

Haben Ausgegrenzte einen „kognitiven Vorteil“ gegenüber Privilegierten? Ja, sagt Daniel Loick.

Falter, Juni 2024

„Brav gearbeitet, wackerer Maulwurf“, heißt es in Hegels „Geschichte der Philosophie“, was Karl Marx später im Aufruf „Gut gewühlt, alter Maulwurf“ aufgriff, weshalb das Wühltier bei linken Gruppen als Comic-Figur so beliebt ist. Nicht die Hochwohlgeboren, die Helden, nicht die Fabrikanten und auch nicht die Privilegierten sorgen für den Fortschritt in der Geschichte, sondern die Unten – die, die die Wühlarbeit vollbringen. Das Wissen der Beherrschten weiterlesen

Durch die Berge ins Exil

Uwe Wittstock erzählt in einer packenden Episodendokumentation, wie ein verwegener US-Beamter hunderte Künstler vor den Nazis rettete.

Falter, April 2024

Für die „Süddeutsche“ ist es die „große Erzählung der deutschen Exilgeschichte“, für Florian Illies in der „Zeit“ ist es schon das wichtigste Buch der Saison: Uwe Wittstocks atemberaubende Geschichtserzählung „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“.

Auf atemberaubende Weise rekonstruiert der Autor und Literaturkritiker Wittstock die verzweifelten Rettungsaktionen der europäischen Dichter, Künstler, Avantgardisten aus Frankreich, nachdem die Nazi-Armeen die Republik gleichsam überrannt hatten und politische Dissidenten, jüdischen Geflüchteten und antifaschistischen Künstler in einer lebensbedrohenden Falle saßen. Es ist das Who-is-Who der europäischen Kunstwelt, das sich panisch in den Südwesten Frankreichs geflüchtet hat, in den Internierungslagern des Vichy-Regimes eingesperrt war – und dessen Überleben davon abhing, es innerhalb kurzer Zeit über Spanien und Portugal nach Übersee zu schaffen. Durch die Berge ins Exil weiterlesen

Das Glück, Kommunist zu sein

Ein ewiger Optimist: Antonio Negri, Opa der Autonomen, brillanter Denker der italienischen radikalen Linken, ist mit 90 Jahren gestorben.

Falter, Dezember 2023

Der alte Revolutionär ist auf seltsame Weise schön, das Lächeln scheu, der Körperbau, die Arme, die Finger – feingliedrig. Am rechten Handgelenk trägt Toni Negri ein geflochtenes Freundschaftsband, als er 2003 im Wiener Universitätscampus spricht. Grazil ist die Gestik, und der melodische Klang seines Italienisch hat einen eigenen Sound. Man könnte ohne Ende zuhören, auch wenn man kein Wort versteht. „Das Kapital hat seine materielle Fähigkeit verloren, zu befehlen“, flüsterte Negri. „Es herrscht nur mehr auf rein parasitäre Weise. Wir können uns radikal neu organisieren. Wir gehen einfach weg. Wir bauen neue Strukturen für die Singularitäten.“

Damals war Antonio Negri gerade 70 Jahre alt. Vergangene Woche ist der radikale linke Denker mit 90 Jahren gestorben.

Zwanzig Jahre ist das schon wieder her und es war seinerzeit das womöglich sensationellste Comeback seit Lazarus. Negri hatte um die Jahrtausendwende mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt den Theoriebestseller „Empire“ herausgebracht. Das Buch schlug in den Diskursen und akademischen Seminaren wie eine Bombe ein. Kurios: Ein siebzigjähriger Veteran der radikalen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre wurde mit einem Mal zum Jungbrunnen einer radikalen Linken für das 21. Jahrhundert.

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Der rote Münchhausen

Toni Negri, der italienische Philosoph und linksradikale Denker, ist mit 90 Jahren gestorben. Vor zwanzig Jahren habe ich im „Falter“ über seine Rückkehr ins Leben geschrieben.

From the Archive:

Mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse denken. Antonio Negri, der vielleicht paradoxeste Linksradikale unserer Tage, erzählt im Word-Rap über sein bewegtes Leben.

Eines, zumindest, versteht der Mann: zu verstören. „In Momenten der Angst fange ich an, an die Jungfrau Maria zu denken. Eine Art Aberglaube“, gesteht Toni Negri, „den ich habe, seit ich klein war.“ Wer hatte das gedacht: Der seltsamste Linksradikale der letzten Jahrzehnte sendet in schwachen Augenblicken Stoßgebete gegen den Himmel. Zu lesen ist das in einer sonderbaren Art von Autobiographie, dem feinfühligen Interviewband „Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens“, in dem Negri der französischen Journalistin Anne Dufourmantelle kluge Fragen über sein Leben und Denken beantwortet, dieser Tage im Campus-Verlag erschienen.

Negris „Rückkehr“ in die Gegenwart ist tatsächlich so etwas wie das vielleicht sensationellste Comback seit Lazarus. Nach Gefängnis, Exil, abermaligen Gefängnis gelang ihm mit dem Theoriewälzer „Empire“ ja (gemeinsam verfasst mit dem amerikanischen Literaturwissenschafter Michael Hardt) ein Weltbestseller. Ein Buch, nein ein Ereignis, das Einschlug in Proseminaren und in Rebellenzirkeln. Der rote Münchhausen weiterlesen

„Lasst tausend Nationen blühen“

Quinn Slobodians Entdeckungsreise in die irre Welt der radikalen Libertären.

Falter, Dezember 2023

Quinn Slobodian nimmt uns auf eine Entdeckungsreise in weitgehend unbekannte Welten mit: In die Vorstellungswelt des radikalsten Flügels der „Neoliberalen“, also den irren Gedankenkosmos staatsfeindlicher, autoritärer Libertärer. Und in Freihandelsräume, Vertragshäfen, Sonderwirtschaftszonen, Steueroasen, insgesamt über 5000 Pseudo-Staaten, in denen keine oder ganz andere Regeln gelten als in den sie umgebenden Nationen.

Das Buch beginnt mit Peter Thiel, den Tech-Milliardär, bei dem Sebastian Kurz als „Global Strategist“ angeheuert hat. Schon 2009 proklamierte Thiel: „Ich glaube nicht länger, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind.“ In der Demokratie neigt die Politik zur „Einmischung in anderer Leute Leben ohne ihre Zustimmung“. Letztlich vertritt Thiel eine elitäre, rassistische und anti-demokratische Ideologie, von der sein Biograf einmal sagte, sie „grenze an Faschismus“. „Lasst tausend Nationen blühen“ weiterlesen

Empathielosigkeit für Malträtierte

Queers für Hamas – wie gibt’s denn sowas? Yascha Mounks neues Buch kommt zur rechten Zeit.

Falter, November 2023

„Wokeness“ und „Identitätspolitik“ sind zu einer Modeerscheinung geworden, und ähnlich modisch wurde zuletzt auch die Kritik daran. Die Begriffe selbst sind unscharf und polemisch kontaminiert. Zuletzt nahm die Kritik auch noch einmal extra Fahrt auf, nachdem sichtbar wurde, wie einige ideologische und theoretische Prämissen ins Abseits und Bizarre führen. Wenn die Welt in Schwarz-Weiß geteilt wird, wenn bekundet wird, dass „der Unterdrückte“ immer Recht hat, dann kann man sogar bei einer kritiklosen Unterstützung von Gemetzel der Hamas landen und bei Empathielosigkeit für Malträtierte. Da kommt Yascha Mounks Buch gerade recht, der sich ohne Polemik, dafür mit umso besonnenerer Kritik die theoretischen Grundlagen einer Ideologie vorknöpft, die er mit dem Begriff „Identitätssynthese“ charakterisiert. Empathielosigkeit für Malträtierte weiterlesen

Freundschaft als Methode

Künstler, Kämpfer, Denker – die Poetikvorlesungen von Milo Rau, Europas spannendstem Regisseur.

Kritiker haben ihn schon den „einflussreichsten“ (Die Zeit) und den „kontroversesten“ Theaterkünstler unserer Zeit genannt – den aus der Schweiz stammenden Autor und Regisseur Milo Rau. Anfang dieses Jahres wurde er in einem spektakulären Mutanfall der Verantwortlichen zum neuen Intendanten der Wiener Festwochen gekrönt, die vergangenen Jahre schuftete Rau als Leiter des Niederländischen Theaters in Gent. Seine „Antigone im Amazonas“ riss bei den jüngsten Festwochen das Burgtheaterpublikum zu Ovationen auf die Beine. Im dichten Stakkato haut er auch Bücher und Großessays heraus. Eben wurde die „Rückeroberung der Zukunft“ ausgeliefert. Milo Rau wirbelt durch die Welt, gefühlt ist er jede Woche auf einem anderen Kontinent. Freundschaft als Methode weiterlesen