Das Glück, Kommunist zu sein

Ein ewiger Optimist: Antonio Negri, Opa der Autonomen, brillanter Denker der italienischen radikalen Linken, ist mit 90 Jahren gestorben.

Falter, Dezember 2023

Der alte Revolutionär ist auf seltsame Weise schön, das Lächeln scheu, der Körperbau, die Arme, die Finger – feingliedrig. Am rechten Handgelenk trägt Toni Negri ein geflochtenes Freundschaftsband, als er 2003 im Wiener Universitätscampus spricht. Grazil ist die Gestik, und der melodische Klang seines Italienisch hat einen eigenen Sound. Man könnte ohne Ende zuhören, auch wenn man kein Wort versteht. „Das Kapital hat seine materielle Fähigkeit verloren, zu befehlen“, flüsterte Negri. „Es herrscht nur mehr auf rein parasitäre Weise. Wir können uns radikal neu organisieren. Wir gehen einfach weg. Wir bauen neue Strukturen für die Singularitäten.“

Damals war Antonio Negri gerade 70 Jahre alt. Vergangene Woche ist der radikale linke Denker mit 90 Jahren gestorben.

Zwanzig Jahre ist das schon wieder her und es war seinerzeit das womöglich sensationellste Comeback seit Lazarus. Negri hatte um die Jahrtausendwende mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt den Theoriebestseller „Empire“ herausgebracht. Das Buch schlug in den Diskursen und akademischen Seminaren wie eine Bombe ein. Kurios: Ein siebzigjähriger Veteran der radikalen Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre wurde mit einem Mal zum Jungbrunnen einer radikalen Linken für das 21. Jahrhundert.

Wenn Ihnen die Texte gefallen und Sie meine publizistische Arbeit unterstützen und damit freien Journalismus befördern wollen, freue ich mich sehr über über Spenden:

Robert Misik, IBAN    AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW

Das Glück, Kommunist zu sein weiterlesen

Der rote Münchhausen

Toni Negri, der italienische Philosoph und linksradikale Denker, ist mit 90 Jahren gestorben. Vor zwanzig Jahren habe ich im „Falter“ über seine Rückkehr ins Leben geschrieben.

From the Archive:

Mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse denken. Antonio Negri, der vielleicht paradoxeste Linksradikale unserer Tage, erzählt im Word-Rap über sein bewegtes Leben.

Eines, zumindest, versteht der Mann: zu verstören. „In Momenten der Angst fange ich an, an die Jungfrau Maria zu denken. Eine Art Aberglaube“, gesteht Toni Negri, „den ich habe, seit ich klein war.“ Wer hatte das gedacht: Der seltsamste Linksradikale der letzten Jahrzehnte sendet in schwachen Augenblicken Stoßgebete gegen den Himmel. Zu lesen ist das in einer sonderbaren Art von Autobiographie, dem feinfühligen Interviewband „Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens“, in dem Negri der französischen Journalistin Anne Dufourmantelle kluge Fragen über sein Leben und Denken beantwortet, dieser Tage im Campus-Verlag erschienen.

Negris „Rückkehr“ in die Gegenwart ist tatsächlich so etwas wie das vielleicht sensationellste Comback seit Lazarus. Nach Gefängnis, Exil, abermaligen Gefängnis gelang ihm mit dem Theoriewälzer „Empire“ ja (gemeinsam verfasst mit dem amerikanischen Literaturwissenschafter Michael Hardt) ein Weltbestseller. Ein Buch, nein ein Ereignis, das Einschlug in Proseminaren und in Rebellenzirkeln. Der rote Münchhausen weiterlesen

„Lasst tausend Nationen blühen“

Quinn Slobodians Entdeckungsreise in die irre Welt der radikalen Libertären.

Falter, Dezember 2023

Quinn Slobodian nimmt uns auf eine Entdeckungsreise in weitgehend unbekannte Welten mit: In die Vorstellungswelt des radikalsten Flügels der „Neoliberalen“, also den irren Gedankenkosmos staatsfeindlicher, autoritärer Libertärer. Und in Freihandelsräume, Vertragshäfen, Sonderwirtschaftszonen, Steueroasen, insgesamt über 5000 Pseudo-Staaten, in denen keine oder ganz andere Regeln gelten als in den sie umgebenden Nationen.

Das Buch beginnt mit Peter Thiel, den Tech-Milliardär, bei dem Sebastian Kurz als „Global Strategist“ angeheuert hat. Schon 2009 proklamierte Thiel: „Ich glaube nicht länger, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind.“ In der Demokratie neigt die Politik zur „Einmischung in anderer Leute Leben ohne ihre Zustimmung“. Letztlich vertritt Thiel eine elitäre, rassistische und anti-demokratische Ideologie, von der sein Biograf einmal sagte, sie „grenze an Faschismus“. „Lasst tausend Nationen blühen“ weiterlesen

Empathielosigkeit für Malträtierte

Queers für Hamas – wie gibt’s denn sowas? Yascha Mounks neues Buch kommt zur rechten Zeit.

Falter, November 2023

„Wokeness“ und „Identitätspolitik“ sind zu einer Modeerscheinung geworden, und ähnlich modisch wurde zuletzt auch die Kritik daran. Die Begriffe selbst sind unscharf und polemisch kontaminiert. Zuletzt nahm die Kritik auch noch einmal extra Fahrt auf, nachdem sichtbar wurde, wie einige ideologische und theoretische Prämissen ins Abseits und Bizarre führen. Wenn die Welt in Schwarz-Weiß geteilt wird, wenn bekundet wird, dass „der Unterdrückte“ immer Recht hat, dann kann man sogar bei einer kritiklosen Unterstützung von Gemetzel der Hamas landen und bei Empathielosigkeit für Malträtierte. Da kommt Yascha Mounks Buch gerade recht, der sich ohne Polemik, dafür mit umso besonnenerer Kritik die theoretischen Grundlagen einer Ideologie vorknöpft, die er mit dem Begriff „Identitätssynthese“ charakterisiert. Empathielosigkeit für Malträtierte weiterlesen

Freundschaft als Methode

Künstler, Kämpfer, Denker – die Poetikvorlesungen von Milo Rau, Europas spannendstem Regisseur.

Kritiker haben ihn schon den „einflussreichsten“ (Die Zeit) und den „kontroversesten“ Theaterkünstler unserer Zeit genannt – den aus der Schweiz stammenden Autor und Regisseur Milo Rau. Anfang dieses Jahres wurde er in einem spektakulären Mutanfall der Verantwortlichen zum neuen Intendanten der Wiener Festwochen gekrönt, die vergangenen Jahre schuftete Rau als Leiter des Niederländischen Theaters in Gent. Seine „Antigone im Amazonas“ riss bei den jüngsten Festwochen das Burgtheaterpublikum zu Ovationen auf die Beine. Im dichten Stakkato haut er auch Bücher und Großessays heraus. Eben wurde die „Rückeroberung der Zukunft“ ausgeliefert. Milo Rau wirbelt durch die Welt, gefühlt ist er jede Woche auf einem anderen Kontinent. Freundschaft als Methode weiterlesen

Einfallstor zur Tyrannei

Martin Wolf, der einflussreichste Wirtschaftsjournalist der Welt, untersucht die Krise des demokratischen Kapitalismus.

Falter, Oktober 2023.

Er sei, schreibt Martin Wolf in den Eröffnungspassagen seines neuen Buches, stets ein Pessimist gewesen, was ihn einerseits vor negativen Überraschungen bewahrt, und gelegentlich unerwartete Freuden beschert habe – dann nämlich, wenn sich die Dinge besser entwickelten als befürchtet. „Die Demokratie ist in der Vergangenheit untergegangen. Es wäre dumm anzunehmen, dass das nicht wieder geschehen könnte“, schreibt Wolf. Der Chefkommentator und Co-Herausgeber der „Financial Times“ ist so etwas wie der global bedeutendste Wirtschaftsjournalist. 77 Jahre ist Wolf heute, der in London als Sohn jüdischer Wiener Flüchtlinge geboren wurde. Sein Vater arbeitete als Theaterautor, Dramaturg, später TV-Macher, vor der Emigration beispielsweise mit Max Reinhardt am Wiener „Volkstheater“.

Martin Wolf, in seinen politischen Ansichten ein Liberaler, in seinen wirtschaftspolitischen am ehesten ein Sozialdemokrat, umkreist sorgenvoll die autoritären Versuchungen und die Krisen der westlichen Demokratie. Seine Grundthese: „Wirtschaftliche Enttäuschungen sind die Hauptursache“ unserer Kalamitäten. Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik und einem Wirtschaftssystem Prosperität, zumindest einigermaßen erfreuliche Zukunftsaussichten. Schleicht sich chronische Unsicherheit ein und Abstiegsangst dann öffnet sich ein „Einfallstor zur Tyrannei“. Einfallstor zur Tyrannei weiterlesen

Senkt die Zinsen!

Wegen der Inflation drehen den Zentralbanken wild an der Zinsschraube. Damit verschärfen sie noch das Problem, kritisiert Maurice Höfgen.

Wir alle ächzen unter der Teuerung, beklagen die Inflation. Aber was ist das eigentlich – „Inflation“ – und was hilft dagegen? Diesen Fragen geht Maurice Höfgen in seinem neuen Buch nach. Höfgen, Ökonom, Betriebswirt, Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestags, ist ein bisschen so etwas wie das neue Wunderkind der progressiven Ökonomie. 27 Jahre ist er gerade alt geworden, „Deutschlands spannendster Nachwuchs-Ökonom“ nennt ihn die „Berliner Zeitung“.

Inflation kann viele Ursachen haben. Preisveränderungen gibt es auch in völlig normalen Zeiten. Dann gibt es die klassische Inflation: Wenn die Wirtschaft brummt, die Konsumnachfrage anzieht, wenn die Unternehmen an ihren Kapazitätsgrenzen produzieren, wenn Vollbeschäftigung herrscht und die Beschäftigten kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen können. Gerne spricht man dann davon, dass die Wirtschaft „überhitzt“.

Senkt die Zinsen! weiterlesen

Wirtschaftsdemokratie

Axel Honneth über den Geist der Demokratie und den Ungeist von Herumkommandiererei.

Falter, Juni 23

Die Vielen sind in unserer Gesellschaft nominell der oberste Souverän, zugleich aber faktisch verdammt machtlos. Erlebt wird diese Machtlosigkeit nicht selten als „Ohnmacht des kleines Mannes“, der empfindet, keine Stimme zu haben, nicht vertreten zu sein, also sich nicht wirksam im demokratischen System artikulieren zu können. Wirtschaftsdemokratie weiterlesen

Die Glamouröse

Susan Sontag, bis heute strahlendes Role-Model einer Intellektuellen, würde dieser Tage 90 Jahre alt. Anna-Lisa Dieter widmet ihr packende hundert Seiten.

Falter, Jänner 2023

Susan Sontag, das ist so eine, an der kann man sich sowieso nicht sattlesen. Neunzig Jahre würde die amerikanische Autorin und Intellektuelle dieser Tage. Aus diesem Anlass brachte die Münchener Literaturwissenschaftlerin Anna-Lisa Dieter in der 100-Seiten-Reihe des Reclam-Verlags einen schmalen biografischen Essay heraus. Dabei gelingt es ihr, wie die „Süddeutsche“ bewundernd anmerkte, auf „knappsten Raum eine echte Essenz von Sontags Werk zu präsentieren“. Tatsächlich, es ist eine fesselnde Lektüre, die sowohl Einsteiger ins Sontag-Fantum begeistern kann und auch Sachkundige und alte Fahrensleute dieses Metiers mit Freude erfüllt.

Susan Sontag ist ja eine Role-Model für die unabhängige, literarisch operierende Intellektuelle, die sich für die gesamte Welt interessiert. Und besonders war und ist sie bis heute ein solches Vorbild für Frauen und queere Personen. Aber sie ist zugleich auch ein Fall für sich. Werk und Person, das lässt sich in Sontags Fall noch viel weniger trennen, als es sich sonst nicht trennen lässt.

„Ich will mit vielen Leuten schlafen. Ich gedenke nicht, mich von meinem Verstand dominieren zu lassen“, notierte sie einmal. Sexuelle Beziehungen und Begegnungen – „mit vielen Leuten“ –, da ging es wahrscheinlich nicht primär um Sex und Geilheit, sondern darum, möglichst viele Menschen intensiv kennen zu lernen. Ohnehin ist kaum ein Begriff so zentral bei Sontag wie der der „Intensität“. Sie setzte sich aus, gierte nach Intensität, erfand sich stets neu, und dabei hatte sie auch eine skurrile pedantische Note. „In der Zeit, die in diesem Notizbuch wiedergegeben wird, werde ich wiedergeboren“, notierte sie in das Tagebuch, das sie seit ihrem 14. Lebensjahr führte. Die Kunst, sie diente ihr auch zum „Entwurf der Person, die sie sein will“ (Dieter). Sontag führte Listen, der Bücher, die sie lesen müsse, von Kinofilmen, von allem. Das hatte etwas rührend Streberhaftes. Die Glamouröse weiterlesen

Bescheiden, intellektuell, integer

Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer, Erfinder des Eurokommunismus, war ein Gigant der Linken. Eine neue Biografie erinnert an diese packende Figur.

Es ist ein ergreifendes TV-Dokument: Die letzte Rede von Enrico Berlinguer, 1984 in Padua. Selbstlosigkeit und Verantwortungsgefühl hatten den Anführer der Kommunistischen Partei Italiens stets ausgezeichnet, es waren diese Charaktereigenschaften, die den scheuen Berlinguer zum populärsten Politiker Italiens machten. Und so ist auch diese letzte Wahlkampfrede: Berlinguer wird blass, ringt auf der Bühne nach Luft. Das Auditorium merkt, dass etwas nicht stimmt. Berlinguer greift nach einem Glas Wasser und müht sich, die Rede zu Ende zu führen. Er fühlt sich fürchterlich, hält sich aber diszipliniert aufrecht und bricht nicht ab. Berlinguer hat auf offener Bühne eine Gehirnblutung erlitten, erfüllt seine Aufgabe aber dennoch bis zum Ende. Als er fertig gesprochen hat, wird der gerade einmal 62jährige von der Bühne geführt, bricht zusammen und fällt ins Koma. Zu seinem Begräbnis kommen 1,5 Millionen Menschen. Die größte Trauerprozession in der italienischen Geschichte.

Bescheiden, intellektuell, integer weiterlesen

Du sollst (nicht) lügen!

Nach der Wahrheit: Lars Svendsen hat eine schlaue und geistreiche „Philosophie der Lüge“ geschrieben.

Die meisten Menschen sind die meiste Zeit weitgehend ehrlich, dennoch kommt kaum jemand ohne kleinere Lüge durch den Tag. Extrovertierte Menschen lügen mehr als introvertierte, und nicht nur, weil sie sowieso häufiger Aussagen treffen. Männer und Frauen lügen in etwa gleich oft, jedoch lügen Frauen häufiger, um Gefühle anderer zu schonen und Männer mehr, um die eigene Vortrefflichkeit hervorzuheben. Die allermeisten Leute haben bei solchen Lügen ein schlechtes Gefühl – das Gewissen rührt sich –, finden aber immer gute Gründe, um die Lügen zu rechtfertigen. Womit wir schon bei schwierigen ethischen Abwägungsfragen wären und somit mittendrin in Lars Svendsens „Philosophie der Lüge“. Der norwegische Philosoph schließt damit an kluge Abhandlungen der vergangenen Jahre an, so hat er beispielsweise auch schon eine „Philosophie der Einsamkeit“ und eine „Philosophie der Langeweile“ vorgelegt.

„Fast jeder ist der Meinung, dass es prinzipiell falsch ist zu lügen“, bemerkt Svendsen. Selbst jene, die die Lüge für rechtfertigbar halten. Man baucht keine Begründung, um die Wahrheit zu sagen, jedoch einen Grund, um zu lügen. Was die privaten Seiten des Lebens betrifft: Ganz ohne Lügen kommt man ohnehin nicht durchs Leben und absolute Ehrlichkeit gilt sogar als verpönt. Jemand, der in jeder Gesellschaft stets die absolute Wahrhaftigkeit pflegt, wird wohl bald zu keiner Zusammenkunft mehr eingeladen. Sogar Selbstbetrug und Gigantomanie kann nützlich sein, da sie Menschen dazu bringen, Dinge zu versuchen, die sie bei realistischem Selbstbild niemals wagen würden. Und auch die Flunkerei wird durchaus gerechtfertigt, wenn sie dazu dient, andere vor etwaigen seelischen Verwundungen zu bewahren oder Gruppen von Menschen (oder eine ganze Gesellschaft) vor negativen Entwicklungen. Von Kant bis John Stuart Mill wurde aber auch der Einwand vorgebracht, dass der Preis der Lüge stets ihren kurzfristigen Nutzen übersteigt, da die Unehrlichkeit das Misstrauen sät, nicht nur eine Person etabliert, die einmal lügt, sondern die in einem existenziellen Sinne „ein Lügner“ ist. Die Lüge kann überhaupt nur existieren, weil die Menschen sich im Allgemeinen vertrauen, gerade dieses Vertrauen wird aber durch die Lüge verraten und zerstört. Du sollst (nicht) lügen! weiterlesen

Plädoyer für den Kompromiss

Miteinander trotz Dissens: Die Philosophin Véronique Zanetti und ihre „Spielarten des Kompromisses“.

Der Kompromiss hat einen schlechten Ruf. Der Kompromiss würde alles verwässern, von guten Ideen bleiben in „lauen Kompromissen“ nichts als ein paar Fußnoten übrig, so die Klage. Kompromisse sorgen für Schneckentempo, wo es eigentlich schnell voran gehen müsste. Noch schlimmer sind die „faulen Kompromisse“, bei denen alle Seiten ihre Werte aufgeben, nur um einen kleinen, nichtssagenden Vorteil zu ergattern. Menschen gehen sogar Kompromisse mit sich selbst ein: Sie haben vielleicht bestimmte Werte, es ist aber unbequem, diese „kompromisslos“ zu verfolgen. Und dann tun sie Dinge, die mit ihren Werten nicht leicht in Übereinstimmung zu bringen sind. „Wenn es um Kompromisse geht, taucht das Wort ‚faul‘ fast schon reflexartig auf“, formulierte vor einigen Jahren die „Süddeutsche Zeitung“.

Kompromisse lassen sich leicht anklagen. Beispiel: Wenn die Grünen mit einer weit nach rechts abgebogenen ÖVP eine Regierung bilden – und dann auch bei schwerem Wetter am Regierungspakt festhalten. Oder: Soll man mit einem bewaffneten Gewaltherrscher wie Wladimir Putin noch verhandeln und einen Kompromiss suchen, um vielleicht „noch Schlimmeres“ zu verhindern – oder muss bei einem Regime, das so sehr das Böse verkörpert, einfach entschlossen dagegengehalten werden?

Diesen und ähnlichen Fragen stellt sich die Bielefelder Philosophieprofessorin Véronique Zanetti in ihrem Buch „Spielarten des Kompromisses“. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen: der Kompromiss und die Frage, wie labile Einigungen entstehen, seien in der Philosophie bisher weitgehend ignoriert worden.

Zanettis Buch kulminiert in ein „Plädoyer für den Kompromiss“. Dabei macht es sich die Autorin keineswegs leicht. Sie weiß, dass „große soziale Veränderungen“ meist von jenen Menschen vorangetrieben wurden, „die sich kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben“.

Aber zugleich sind diese Veränderungen in Kompromissen verwirklicht worden. Mehr noch: Der Kompromiss ist selbst eine Tugend: er lebt von der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Vom Respekt füreinander. Und auch von der Anerkennung des Vorrangs einer friedlichen Lösung. Plädoyer für den Kompromiss weiterlesen