From the Archives: Diesen Text habe ich 2005 zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre für „profil“ geschrieben. Der Aufwiegler & Großintellektuelle & Wegweiser zur Entwicklung eines authentischen Selbst.
Es war wohl eine Begegnung der bizarreren Art, 1974, im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim. Jean-Paul Sartre, der Weltliterat, der den Nobelpreis abgewiesen, der sich zum Sprachrohr der Entrechteten gemacht hatte, der Archetypus des französischen Intellektuellen (Jean Améry), war zu Besuch bei Deutschlands Staatsfeind Nummer eins, Andreas Baader, der Zentralfigur der Roten Armee Fraktion (RAF). Hier der Dichter, der Denker, der mit dem Existenzialismus eine veritable Modephilosophie begründete dort der Existenzialist der extremen Art, der seine Vision der Welt mit Waffengewalt umgesetzt hatte. Öffentlich unterstützte Sartre tapfer die Forderung der inhaftierten Linksradikalen nach besseren Haftbedingungen. Zurück im Auto, lehnte sich der 69-Jährige erschöpft zurück und meinte nur: Ein Arschloch, dieser Baader.
Heute ist Baader eine Popfigur, eine schillernde Chiffre für heroische Gesten und ein Rebellentum, das keine Grenzen kennt - er ist, wie etwa die viel beachtete RAF-Ausstellung in Berlin zeigte, gewissermaßen in Mode. Und Sartre? An ihn erinnert man sich jetzt wieder, weil er am 21. Juni seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Aber er ist nicht nur seit ziemlich genau 25 Jahren tot und nicht nur ein wenig in Vergessenheit geraten - er wurde nach seinem Ableben geradezu aggressiv weggeschoben. Sartres Pathos, sein Habitus des engagierten Intellektuellen, der nicht nur Spezialist für alles, sondern auch Gewissen der Welt sein will, die Figur des autokratischen Großdenkers und sein aufklärerischer Glaube, mit der Kraft des Wortes könne in die Weltläufe eingegriffen werden - all das wirkt heute verstaubt und wird bestenfalls belächelt. Sartres Romane werden kaum mehr gelesen, seine Stücke nur mehr selten aufgeführt. Was soll man mit so einem schwerfälligen Mythos im Zeitalter der Totalironie anfangen?