Die Krise des Westens

Ranziges antiwestliches Ressentiment und westlicher Selbsthass machen die Luft nicht besser.

taz, August 2023

Unlängst haben wieder ein paar Schrullis für „den Frieden“ demonstriert, es wurden die obligatorischen russischen Fahnen geschwenkt, und einer hielt ein Schild hoch, in dem er anregte, Russland möge endlich Atomwaffen einsetzen. Das erinnerte mich an die Episode vor etwa zehn Jahren, als in Syrien die al-Nusra-Front (das waren seinerzeit die „gemäßigten Terroristen“), eine Handvoll UN-Blauhelme als Geiseln nahm und erklärte, sie würde sie nur freilassen, wenn sie von der UN-Terrorliste gestrichen würden. Genau mein Humor.

Heute ist viel von der „Krise des Westens“ die Rede. Es gibt so ein paar Begriffe, die kommen praktisch fix nur in Kombination mit dem Attribut „Krise“ vor.

Eine ewige Kompliziertheit ist es mit dem Westen: Er steht für die Idee der Freiheit, zugleich aber auch für Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit. In Hegels Auffassung von der Geschichte der Philosophie wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, wo er dann zu finaler Reife gelangt. Eine Selbstfeier von Aufklärung und Universalismus ist das, aber voller Überlegenheitsgefühle, was dann wiederum den Universalismus in Frage stellt. Also irgendwie westlich und antiwestlich zugleich. Aufklärung, Egalitarismus und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür. Die Krise des Westens weiterlesen

Nieder mit der Heizung!

Die Spinner nicht reizen? Über die ewig komplizierte Dialektik von Mäßigung und Radikalität.

taz, das Schlagloch. Juni 2023

Häufig kursieren in den Sozialen Medien lustige Memes von der Art: „>Viele Zitate im Internet sind erfunden< (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben. Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und kein Keynes-Diktum. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich in den letzten Jahren der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. Jeden Sinnspruch legt er in Trümmer, gelegentlich schafft er aber auch die zweifelsfreie Beurkundung des ungefähr Bekannten. So fand er für ein bisher mehr vom Hörensagen kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der „Salzburger Nachrichten“ vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Nieder mit der Heizung! weiterlesen

Die Königin des Undergrounds

Mark Braudes packendes Porträt von Kiki de Montparnasse ist eine große Zeitreise an eine Brutstätte der zeitgenössischen Künste.

taz, Mai 2023

Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt? In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann. All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren mit dem gesellschaftlichen Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie, umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen.

Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris der 20er Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es schaffte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Underground gekürt. Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschichts-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße aus den bürgerlichen Bildungsschichten entsprangen. Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen wurde. Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein Modell. Die Königin des Undergrounds weiterlesen

Lob der Umerziehung

Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen ist nicht „überheblich“, im Gegenteil.

Das Schlagloch, taz, März 2023

Den Linken wird heute häufig vorgeworfen, sie würden die Menschen gerne „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit rabiaten Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt sogar die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest dessen freundlichere Schwester, der Paternalismus. Von der Art: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, wenngleich natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht hätten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf dem ersten Blick. Denn die Linken haben einerseits eine große Geschichte darin, andererseits auch das Selbstbild, auf der Seite der ganz normalen, einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren sind, die nicht in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir das mal mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen diesen Leuten, im Grunde ist es „nicht okay, wie ihr seid“. Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, den Machismo, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Werte von Männlichkeit, von hergebrachten Vorstellungen von Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von sehr viel Leid ist, etwa des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing usw. ausgesetzt sind. All das führt nun dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, „ihr seid nicht okay“. Und dann kommen die Rechten daher, und sagen genau diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“

Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritiken an Lebensstilen und Werthaltungen. Lob der Umerziehung weiterlesen

Überfluss und Erschöpfung

Zeitgefühl in Begriffe gefasst: Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender.

taz, das Schlagloch, Februar 2023

Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch mit Schlagworten versorgt, die einen großen Beiklang hatten, einen Überschuss und Obertöne, die in uns etwas zu Schwingen bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die einfach ungehemmten Egoismus ausleben wollen, andererseits, weil aus eben diesem Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „Floskel des Jahres“. Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter Ambiguitäten.

Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin zu freien Wahlen. Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, ein lebenskultureller Laissez-Faire, die Befreiung aus Konformismus und Konventionen, dieses ganze Zeug von Bohème über Hippies bis Punk. Nach den erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner rebellieren lässt („Geben sie Gedankenfreiheit, Sire!“) als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den Neoliberalismus und seine Sachzwänge. Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der Staatrechter Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. Wir haben das Problem mit Minderheitenschutz, ein paar Sicherungen gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von Freiheit“ kennen, und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit, und schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. Ersteres ist packend, zweiteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne viel Heldentum. Überfluss und Erschöpfung weiterlesen

Schocktherapie

Nur mit gemäßigten Aktionen kann man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht.

Meine Schlagloch-Kolumne aus der taz vom Dezember

Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der „abstrakte Expressionismus“ als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop-Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warholls Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben. Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht einmal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schock-Strategien der Aktionskunst. „All Art ist Propaganda“, bemerkte schon George Orwell und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so irgendwie.

Natürlich kann man gegen die Attacken gegen Kunstwerke einiges einwenden, obwohl natürlich nicht Kunstwerke zerstört werden, sondern bisher vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befinden. Ein Einwand wäre: Sie zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, das ohnehin knapp ist, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich ja nicht nur irgendwelchen Spießern auf, die sowieso keine Protestaktionen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens so eine Spur einer kausalen Assoziationskette kann sicherlich nicht schaden.

Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. Schocktherapie weiterlesen

Eine Krise der Kritik

Wenn radikale Rechte und Verschwörungstheoretiker Systemkritik und Fanatismus paaren, können Linke in die Affirmationsfalle stolpern.

Das Schlagloch, August 2022

Der Systemkritiker hat die Eliten und ihrer Herrscher-Netzwerke unter Generalverdacht, und er macht sich, von diesem Verdacht ausgehend, auf Entdeckungstour. Er recherchiert, stöbert in den unterdrückten Nachrichten, kommt unbekannten Verbindungen auf die Spur, verdeckten Geheimnissen, über die man in den Konzernmedien der herrschenden Mächte niemals lesen würde. Er sieht, wie das alles zusammenhängt, wie die Etablierten ihre Macht absichern, die normalen Menschen ausbeuten, er entschließt sich, Widerstand zu leisten und ihre Machenschaften aufzudecken. Der Systemkritiker ist erregt ob seiner Entdeckungen, fühlt sich aber auch erhaben, weil er ein Wissen hat, das die anderen nicht haben, die Angepassten, die von der Macht gegängelt sind, die in einem raffinierten Kokon von Komplizenschaft gefangen sind, der die Unterdrückten noch zu Kumpanen ihrer eigenen Unterdrückung macht. Ein bisschen ist der Systemkritiker wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äußerst lustvolle Tätigkeit. Dass die Täter unentdeckt bleiben, ist übrigens gänzlich ausgeschlossen, was ein glückliches Ende der Unternehmung von vorneherein garantiert. Die Täter werden immer entlarvt, und es sind nicht zu wenige, mal heißen sie Merkel, mal Scholz, mal Gates und immer Soros. Die aktiveren Gesellen unter den Systemkritikern gründen Anti-Mainstream-Medien, in denen all die Stimmen und Fakten ausgebreitet werden, die die herrschende Macht zu unterdrücken versucht.

Krise und Kritik sind eng miteinander verbunden, das wissen schon die Etymologen, die gerne auf den gemeinsamen Wortstamm der beiden Begriffe hinweisen, auf das griechische Krisis, was so viel wie „unterscheiden“, „trennen“ aber auch „zuspitzen“ heißen kann. Philologie beiseite: Erstens, Kritik ist sowieso immer gut und wichtig. Zweitens: In der Krise ist die Kritik besonders notwendig. Denn drittens: Eine Krise wird nur überwunden werden, wenn kritikwürdige Umstände dem Säurebad der Subversion ausgesetzt werden. Kritik ist aber nicht nur die Antwort auf die Krise, sondern kann selbst in die Krise geraten, und dann haben wir: Die Krise der Kritik. Eine Krise der Kritik weiterlesen

Eine Ära der Konterrevolution

Von Putin bis zum US-Höchstgericht: Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren zurückzudrehen.

taz, Juli 2022

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt.

Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit mir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe.

Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Angst macht sich breit. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik und Gereiztheit ein, plus: Hilflosigkeit. Diese Angst lähmt, gerade in eine Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

Scheißzeit.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den vergangenen fünfzig, sechzig Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer – aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die auch nicht einfach so geschieht, sondern von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also. Eine Ära der Konterrevolution weiterlesen

„No Pasaran“ oder „die Waffen nieder“?

Meine taz-Kolumne vom März 2022

Der vierundzwanzigste Februar hat die ganze Existenz verdüstert. Gut, mögen sie jetzt einwenden, diese war auch vorher nicht besonders sonnig, an den Peripherien jenseits unserer vielgepriesenen „Friedensordnung“ waren Gewalt, Massenmord, Krieg, Elend und Instabilität Alltag. Alles wahr, ändert aber dann doch nichts daran, dass wir anderntags in einer neuen Welt und einer neuen Existenz aufgewacht sind. Mit Meinungen und Emotionen, die sich dauernd widersprechen und sich wechselseitig ins Wort fallen.

Ein paar Sachen sind klar: Ein sadistischer Tyrann und seine Kamarilla haben beschlossen, ein unabhängiges, demokratisches Land zu überfallen. Die eine Seite hat von Grozny bis Aleppo schon bewiesen, was sie bereit ist, anzurichten, ist überdies eine waffenstrotzende Atommacht, die andere Seite ist überfallen worden und wird bombardiert, während die Bürger und Bürgerinnen in den Kellern zittern. Putin senkt über die Bürger*innen Russlands selbst eine Despotie hinab, die die letzten Halme von Freiheit zertritt. „Both Sides“ können sich die Schlaumeier da sonstwohin stecken.

Der Zufall wollte es, dass ich diese Woche Konstantin Wecker zu einem lange geplanten TV-Talk in Bruno Kreiskys Wohnzimmer empfangen konnte, den Poeten und Liedermacher und Friedensbewegungsveteranen. Die einen singen seine Lieder mit feuchten Augen mit, kennen jede Zeile, andere halten ihn für eine naive Kitschschleuder, tut hier aber gerade nichts zur Sache. Kürzlich hat er eine neue Platte rausgebracht, „Utopia“ heißt sie, der Name selbst ist natürlich schon Programm, und der Titelsong beginnt mit diesen Zeilen: „Stellt Euch einmal unsere Welt vor / Ohne Krieg ohne Gewalt.“

Das ist der pazifistische Traum, aber natürlich sind die meisten Linken da sowieso nie konsequent gewesen. Man konnte an einem Tag „Die Waffen nieder!“ skandieren, und am nächsten linken Guerilleros die Daumen drücken, die gegen Diktatoren kämpften und „No Pasaran“ brüllen.

Wer überfallen wird, muss und soll sich wehren können. Wahnsinnige oder auch zynisch-rationale Aggressoren und Diktatoren kriegt man nicht durch gutes Zureden zur Vernunft, aber zugleich gerät man dann so leicht in ein Fahrwasser, in dem nur mehr die militärische Lösung zählt, die Logik der Militarisierung. „No Pasaran“ oder „die Waffen nieder“? weiterlesen

Meinungsfreiheit und Faktenfreiheit

Es ist Realitätsflucht, mit Fakten so umzugehen, als handele es sich um Meinungen.

John Maynard Keynes, dem legendären Ökonomen, wurde gelegentlich vorgeworfen, er sei ein Flip-Flopper, der mal das, mal jenes vertrete. Sein Konter ist bis heute berühmt: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Was würden Sie tun?“ Die Botschaft: Wer seine Haltungen überprüft, wenn die Umstände sich ändern, ist klug. Wer stur bei seinem Standpunkt bleibt, ist ein Trottel.

Die Meinungshaberei steht heute hoch im Kurs, ganze Berufsgruppen leben von der Meinung. Autor*innen von Kommentaren wie diesem sind in der Meinungsbranche aktiv, und besonders beliebt sind die meinungsstarken Meinungen, bei denen man sich aufregen kann, wenn man eine andere Meinung hat. Das Meinungshaben ist Teil der Erregungskultur, des Entertainments und der Social-Media-Blödmaschinerie. Im Fernsehen kommen dauernd Leute vor, die eine Meinung haben. Talentarme Autor*innen können ihre Bekanntheit schneller steigern, indem sie besonders durchgeknallte Meinungen äußern. Das Verhältnis von Fakten und Meinungen ist prekär. Hannah Arendt hat es eine der Erscheinungsformen von „Realitätsflucht“ bezeichnet, „mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen“. Meinungsfreiheit und Faktenfreiheit weiterlesen

Rücktritt auf Raten

Der demontierte Ex-Kanzler sitzt als Klubchef im Parlament und sinnt auf Revanche. Wie soll da noch regiert werden können?

Mein Leitartikel in die tageszeitung, Berlin

Noch am Vortag hatten die Parteigranden und Minister der Volkspartei peinliche Treuebekundungen und Durchhaltepamphlete unterschrieben, doch am Samstag Abend war Sebastian Kurz dann nicht mehr zu halten. Der einstige Strahlemann trat als Bundeskanzler zurück, um seiner Partei die Regierungsführung und die Koalition mit den Grünen zu retten und will sich jetzt auf die Rolle des Fraktionsvorsitzenden im Parlament zurückziehen.

Es ist die Flucht aus dem Amt in ein anderes, um den völligen Untergang doch noch vermeiden zu können.

Sebastian Kurz sitzt jetzt im Fraktionsvorsitz um hier die Korruptionsermittlungen gegen ihn und seine sinistren Netzwerke auszusitzen und irgendwann als Kanzler wieder zu kommen. Heute liegt schon genug am Tisch, die Chats, die er mit seinen Günstlingen austauschte, offenbaren einen Abgrund an Niedertracht und Staatsfeindschaft und schierer krimineller Energie. Kurz ist Beschuldigter in verschiedenen Verfahren, bei denen es mittlerweile auch um Untreue und Bestechlichkeit geht.

Wie soll da eine Regierung arbeiten können, mit einem Strohmann, den der Pate nach Mafiaart im Kanzleramt installiert? Wie soll der Staat überhaupt noch funktionieren, wenn ein als Kanzler Demontierter im Fraktionsvorsitz verbleibt, und hier auf Rache und Revanche sinnt, nicht zuletzt gegenüber dem grünen Koalitionspartner? Kurz versucht, die Fäden in den Händen zu behalten. Rücktritt auf Raten weiterlesen

Aufreizende Vertrotteltheit

Das System Kurz: Gigantomanisches Selbstbild des Anführers, der Führerkult der Günstlinge und kriminelle Energie der gesamten Bande.

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz, Oktober 2021

Manche Leute haben Pech beim Denken. Christoph Ploß, der Hamburger CDU-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete, pries gerade im ARD-Fernsehen Sebastian Kurz und seine ÖVP als leuchtendes Vorbild für die Union an. Richtung „rohe Bürgerlichkeit“ habe es zu gehen. Pech für Ploß, dass Sebastian Kurz‘ Herrschaft nun wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Die nächsten Tage wird er kaum mehr überstehen.

Mittwoch wurden wir mit der Schlagzeile vom Frühstück hochgeschreckt, dass gerade Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt und in der ÖVP-Zentrale stattfänden. Klar, wir Ösistaner*innen heben bei solchen Nachrichten gerade noch die Augenbrauen. Ein gewisser Gewöhnungseffekt lässt sich nicht leugnen.

Mittlerweile ist Sebastian Kurz in einigen unterschiedlichen – aber miteinander verbundenen – Verfahren als Beschuldigter geführt, die Delikte, deretwegen gegen ihn ermittelt wird, reichen von falscher Zeugenaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nun auch über Beihilfe zur Bestechlichkeit bis zur Untreue. Für die „Zerstörung der ÖVP“ braucht es bei uns keinen Rezo, das erledigt schon Sebastian Kurz selbst. Der hat auch die Haare schön. Aufreizende Vertrotteltheit weiterlesen