Räuberischer Jude, verschlagener Araber

Wie jahrhundertealte Stereotypisierung die Konflikte um Israel, die Hamas und den Gazakrieg vergiften.

Das Schlagloch, meine Kolumne aus der taz, Mai 2024

Weder bei kleinen noch den ganz großen existenziellen Fragen und Konflikten sollte man die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das eine und sein exaktes Gegenteil richtig sein kann. Früher nannte man das eine tragische Konstellation, so wie etwa Kreon und Antigone zugleich recht hatten, wenngleich sich deren Maximen auch in keiner Weise in einen „Kompromiss“ auflösen ließen. Heute spricht man gerne von Ambiguitäten, die bitte ausbalanciert werden sollen.

So ist einerseits wahr, dass der Begriff des „Antisemitismus“ heute zur proisraelischen Kriegspropaganda missbraucht wird, dazu, andere Stimmen einzuschüchtern und zu diffamieren, während zugleich wahr ist, dass es Antisemitismus gibt, und dass auch die Kriegskritik von Antisemitismus vergiftet sein kann. Die Netanjahu-Propagandaschleudern haben den Begriff aber sinnentleert und unbrauchbar gemacht. Räuberischer Jude, verschlagener Araber weiterlesen

Die Arbeit hoch

Arbeit, Moral und Kitsch: Heute werden „die Fleißigen“ gegen „die Faulen“ aufgehusst.

Mein taz-Essay zum 1. Mai 2024

„Kampftag der Arbeiterklasse“ ist der 1. Mai, seit er 1890 als internationaler Tag der Sozialisten ausgerufen wurde. Schnell war der Maifeiertag auch eine Art Hochamt. Parole: „Die Arbeit hoch!“ Arbeitsleid und Schinderei wurden zwar angeprangert, zugleich auch das Pathos der Arbeit beschworen. Der Stolz auf die Arbeit war keine Erfindung der Arbeiterführer, der stammt aus den Handwerker- und frühen Facharbeitermilieus: Stolz auf die eigenen Fertigkeiten und dass man mit der eigenen Anstrengung die Familie durchbringt.

Maskulin geprägt war das, in den Bilderfundus ging eher der männliche Arbeiter ein. Das eigene „Können“ gab Respekt und Selbstrespekt, genauso wie die Tatsache, dass die Arbeit mit Anstrengung verbunden war. Das waren gewissermaßen die Werte der arbeitenden Klassen: dass man „anpackt“, keine „Spleens“ hatte. Die Arbeit hoch weiterlesen

Erinnerung an eine Irrsinnigkeit

Sollen die Corona-Maßnahmen „aufgearbeitet“ werden? Die erschreckende Befürchtung ist, dass vernünftige Diskurse gar nicht mehr möglich sind.

Das Schlagloch, meine Kolumne aus der taz

Eines der eigenartigsten Phänomene der Geschichte ist, wie wenig die „spanische Grippe“ 1918-1920 Eingang in Erinnerungsliteratur, Geschichtsschreibung, oder Populärkultur gefunden hat. Immerhin war sie das größte Desaster des 20. Jahrhunderts mit höchstwahrscheinlich rund 50 Millionen Opfern. Aber schon in der zeitgenössischen Publizistik war sie nur eine Randnotiz, kam gar nicht vor zwischen den Leitartikeln zu Revolution, Sturz von Kaiserhäusern, Kriegsende, Bolschewismus oder dem Ringen zwischen Demokratie und Reaktion. Hinterher war das Massensterben schnell verdrängt. Dass dieses Desaster so frappierend wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis fand, führen kluge Köpfe daher auch auf folgende Tatsache zurück: Es gibt so wenige Episoden, die erlauben, sich darüber Heldengeschichten zu erzählen. Im Gegenteil, die Menschen mochten nicht, was die Epidemie aus ihnen machte: Egoisten nämlich, die nur überleben wollen. Seuchen sind keine Schule der Solidarität.

Man kann das heute etwas besser nachvollziehen. Jens Spahn, während der Covid-Jahre Gesundheitsminister, ist ja nicht für besonders intellektuelle Heldentaten berühmt, aber er hat am Höhepunkt der Pandemie einen tiefsinnigen Satz gesagt: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Erinnerung an eine Irrsinnigkeit weiterlesen

Wir, die Guten – gegen die Bösen

Ein manichäisches Weltbild gewürzt mit Selbstgerechtigkeit wird die Krise des Westens nur verschärfen.

taz, Jänner 2024

Nicht wenige werden der Meinungen sein, Bernard Hénri-Levy sei mit seiner Eitelkeit, seiner Showmanhaftigkeit und seiner outrierten Theatralik ein leichtes Opfer für Polemik. Ich hingegen neige zu Charaktergüte und schätze bei einigermaßen fähigen Leuten mit den einigermaßen richtigen Reflexen primär die Stärken, und pflege deren Schwächen gegenüber Milde walten zu lassen. Meine Voreingenommenheit gegen BHL hält sich deshalb in Grenzen. Der Mann hat Meriten. Komisch sind wir alle auf unsere Weise. Möglicherweise wird meine Milde auch durch die Bereitschaft verstärkt, mir Schmeicheln zu lassen, schrieb BHL doch vor ein paar Jahrzehnten meinen Namen und den von einer Reihe von Mitstreiterinnen, Freundinnen und Großliteratinnen, um dann hinzuzufügen: „Die Namen und Vornamen Wiens. In diesen Namen und Vornamen die Spur jenes Identitätsmosaiks: des Wiens von Hermann Broch, Arthur Schnitzler und Karl Kraus.“ Denkbar, dass ich ohne diesen kleinen Zucker- und Kitschguss eine Spur strenger wäre. Wir, die Guten – gegen die Bösen weiterlesen

AfD, oder: Abschwung für Deutschland

Wirtschaftssorgen stärken Ultrarechte – doch Ultrarechte schaden mittlerweile auch der Wirtschaft.

taz, September 2023.

Eine keineswegs falsche, aber auch etwas zu simple Diagnose lautet so: Trudelt die Wirtschaft, frisst sich Unsicherheit in das Leben vieler Menschen ein, fühlt sich die Mittelschicht von Abstiegsängsten bedroht, so wächst der Rechtsextremismus.

Weniger gängig, aber ebenso richtig ist: Wächst der Rechtsextremismus, dann geht es auch mit der Wirtschaft bergab. AfD, oder: Abschwung für Deutschland weiterlesen

Der Staat, der schützt

Das allgemeine Unsicherheitsgefühl ist das Einfallstor zur Tyrannei. Diese Unsicherheit ist die Pathologie unserer Zeit.

taz, Das Schlagloch, September 2023

Jüngst begegnete ich einem Freund und Mitstreiter, der vor wenigen Jahren Spitzenfunktionen in einer kämpferischen Linksregierung in Südeuropa bekleidete. Wir plauderten ein paar Minuten über die Misslichkeiten in diesen und jenen Nationen, und dann sagte er einen Satz, der mir sehr zu denken gab. „Wir müssen versuchen, die rechte Welle wenigstens zu bremsen. Stoppen können wir sie nicht, aber bremsen wäre gut.“ Es gab mir deshalb sehr zu denken, da er – und ich – es vor einigen Jahren als eine der Schwächen der europäischen Linken charakterisiert hätten, dass man dauernd nur „das Schlimmste verhindern“ wolle. Von der Art: „Wählt uns, damit es langsamer schlechter wird…“. Wir hätten also genau dieses Mindset dafür verantwortlich gemacht, dass die radikalisierten Konservativen und extremistischen Rechten leichtes Spiel haben.

Ich stellte aber fest, dass ich seine deprimierende Botschaft nicht sofort intuitiv ablehnte, sondern dass sie mich ins Grübeln brachte. Was, wenn er recht hat? Wenn wir in einem dystopischen Moment leben, in dem schon einiges gewonnen ist, wenn wir die Machtübernahmen autoritärer Rechter verhindern, Pluralismus und Demokratie intakt halten, bis irgendwann wieder hellere Zeiten kommen? Der Staat, der schützt weiterlesen

Verachtung des Proletariats

Eine Wagenknecht-Partei könnte die AfD kleinhalten, und „Die Linke“ endlich wieder aufblühen, hoffen manche. Aber wie realistisch ist das?

taz, August 2023

Linke sind voller Krisenbewusstsein. Es gibt ja ein paar Begriffe, die sehr häufig im Zusammenhang mit dem Wort „Krise“ gebraucht werden, und der Begriff „Linke“ ist da Top. Wenn die Linke stark ist, aber hinter ihren ambitionierten Zielen zurückbleibt, diskutiert sie „die Krise der Linken“. Ist sie schwach, dann erst recht. Man kommt problemlos durch ein linkes Leben, indem man von Debatte zu Debatte über die „Krise der Linken“ hüpft. Die herkömmliche Linksperson macht dennoch das Beste daraus. Die Krise, so hofft sie, könnte ja der Moment der Genesung sein. Bertolt Brecht wollte einmal eine Zeitschrift gründen, deren erste Nummer „Die Begrüßung der Krise“ als Generalthema haben sollte. Leider war die Krise schneller, und es wurde nichts draus. In der Medizin markiert die Krisis die notwendige Verschärfung der Malaise, auf die, sofern der Sieche sie überlebt, die Heilung folgt. Im Notfall halten wir uns an Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“

Gefahr ist gerade genug. Die SPD in Umfragen bei 18 Prozent, die Grünen bei 14. Die AfD bei 23 Prozent. Die Partei „Die Linke“ im existenzbedrohlichen Flügelkampf. In den Ost-Bundesländern könnten die Rechtsextremen stärkste Kraft werden. In Thüringen, wo nächstes Jahr gewählt wird, ist die Höcke-AfD in manchen Umfragen bei 34 Prozent, Bodo Ramelow, immerhin einziger Linke-Ministerpräsident, kommt mit seiner Partei gerade auf 18 Prozent (Ramelow selbst hat persönliche Zustimmungswerte von 52 Prozent). Das Land rutscht.

Und wo wächst jetzt „das Rettende auch“? Verachtung des Proletariats weiterlesen

Die Krise des Westens

Ranziges antiwestliches Ressentiment und westlicher Selbsthass machen die Luft nicht besser.

taz, August 2023

Unlängst haben wieder ein paar Schrullis für „den Frieden“ demonstriert, es wurden die obligatorischen russischen Fahnen geschwenkt, und einer hielt ein Schild hoch, in dem er anregte, Russland möge endlich Atomwaffen einsetzen. Das erinnerte mich an die Episode vor etwa zehn Jahren, als in Syrien die al-Nusra-Front (das waren seinerzeit die „gemäßigten Terroristen“), eine Handvoll UN-Blauhelme als Geiseln nahm und erklärte, sie würde sie nur freilassen, wenn sie von der UN-Terrorliste gestrichen würden. Genau mein Humor.

Heute ist viel von der „Krise des Westens“ die Rede. Es gibt so ein paar Begriffe, die kommen praktisch fix nur in Kombination mit dem Attribut „Krise“ vor.

Eine ewige Kompliziertheit ist es mit dem Westen: Er steht für die Idee der Freiheit, zugleich aber auch für Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit. In Hegels Auffassung von der Geschichte der Philosophie wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, wo er dann zu finaler Reife gelangt. Eine Selbstfeier von Aufklärung und Universalismus ist das, aber voller Überlegenheitsgefühle, was dann wiederum den Universalismus in Frage stellt. Also irgendwie westlich und antiwestlich zugleich. Aufklärung, Egalitarismus und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür. Die Krise des Westens weiterlesen

Nieder mit der Heizung!

Die Spinner nicht reizen? Über die ewig komplizierte Dialektik von Mäßigung und Radikalität.

taz, das Schlagloch. Juni 2023

Häufig kursieren in den Sozialen Medien lustige Memes von der Art: „>Viele Zitate im Internet sind erfunden< (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben. Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und kein Keynes-Diktum. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich in den letzten Jahren der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. Jeden Sinnspruch legt er in Trümmer, gelegentlich schafft er aber auch die zweifelsfreie Beurkundung des ungefähr Bekannten. So fand er für ein bisher mehr vom Hörensagen kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der „Salzburger Nachrichten“ vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Nieder mit der Heizung! weiterlesen

Die Königin des Undergrounds

Mark Braudes packendes Porträt von Kiki de Montparnasse ist eine große Zeitreise an eine Brutstätte der zeitgenössischen Künste.

taz, Mai 2023

Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt? In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann. All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren mit dem gesellschaftlichen Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie, umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen.

Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris der 20er Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es schaffte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Underground gekürt. Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschichts-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße aus den bürgerlichen Bildungsschichten entsprangen. Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen wurde. Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein Modell. Die Königin des Undergrounds weiterlesen

Lob der Umerziehung

Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen ist nicht „überheblich“, im Gegenteil.

Das Schlagloch, taz, März 2023

Den Linken wird heute häufig vorgeworfen, sie würden die Menschen gerne „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit rabiaten Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt sogar die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest dessen freundlichere Schwester, der Paternalismus. Von der Art: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, wenngleich natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht hätten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf dem ersten Blick. Denn die Linken haben einerseits eine große Geschichte darin, andererseits auch das Selbstbild, auf der Seite der ganz normalen, einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren sind, die nicht in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir das mal mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen diesen Leuten, im Grunde ist es „nicht okay, wie ihr seid“. Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, den Machismo, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Werte von Männlichkeit, von hergebrachten Vorstellungen von Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von sehr viel Leid ist, etwa des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing usw. ausgesetzt sind. All das führt nun dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, „ihr seid nicht okay“. Und dann kommen die Rechten daher, und sagen genau diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“

Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritiken an Lebensstilen und Werthaltungen. Lob der Umerziehung weiterlesen

Überfluss und Erschöpfung

Zeitgefühl in Begriffe gefasst: Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender.

taz, das Schlagloch, Februar 2023

Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch mit Schlagworten versorgt, die einen großen Beiklang hatten, einen Überschuss und Obertöne, die in uns etwas zu Schwingen bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die einfach ungehemmten Egoismus ausleben wollen, andererseits, weil aus eben diesem Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „Floskel des Jahres“. Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter Ambiguitäten.

Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin zu freien Wahlen. Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, ein lebenskultureller Laissez-Faire, die Befreiung aus Konformismus und Konventionen, dieses ganze Zeug von Bohème über Hippies bis Punk. Nach den erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner rebellieren lässt („Geben sie Gedankenfreiheit, Sire!“) als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den Neoliberalismus und seine Sachzwänge. Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der Staatrechter Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. Wir haben das Problem mit Minderheitenschutz, ein paar Sicherungen gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von Freiheit“ kennen, und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit, und schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. Ersteres ist packend, zweiteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne viel Heldentum. Überfluss und Erschöpfung weiterlesen