Wir, die Guten – gegen die Bösen

Ein manichäisches Weltbild gewürzt mit Selbstgerechtigkeit wird die Krise des Westens nur verschärfen.

taz, Jänner 2024

Nicht wenige werden der Meinungen sein, Bernard Hénri-Levy sei mit seiner Eitelkeit, seiner Showmanhaftigkeit und seiner outrierten Theatralik ein leichtes Opfer für Polemik. Ich hingegen neige zu Charaktergüte und schätze bei einigermaßen fähigen Leuten mit den einigermaßen richtigen Reflexen primär die Stärken, und pflege deren Schwächen gegenüber Milde walten zu lassen. Meine Voreingenommenheit gegen BHL hält sich deshalb in Grenzen. Der Mann hat Meriten. Komisch sind wir alle auf unsere Weise. Möglicherweise wird meine Milde auch durch die Bereitschaft verstärkt, mir Schmeicheln zu lassen, schrieb BHL doch vor ein paar Jahrzehnten meinen Namen und den von einer Reihe von Mitstreiterinnen, Freundinnen und Großliteratinnen, um dann hinzuzufügen: „Die Namen und Vornamen Wiens. In diesen Namen und Vornamen die Spur jenes Identitätsmosaiks: des Wiens von Hermann Broch, Arthur Schnitzler und Karl Kraus.“ Denkbar, dass ich ohne diesen kleinen Zucker- und Kitschguss eine Spur strenger wäre. Wir, die Guten – gegen die Bösen weiterlesen

AfD, oder: Abschwung für Deutschland

Wirtschaftssorgen stärken Ultrarechte – doch Ultrarechte schaden mittlerweile auch der Wirtschaft.

taz, September 2023.

Eine keineswegs falsche, aber auch etwas zu simple Diagnose lautet so: Trudelt die Wirtschaft, frisst sich Unsicherheit in das Leben vieler Menschen ein, fühlt sich die Mittelschicht von Abstiegsängsten bedroht, so wächst der Rechtsextremismus.

Weniger gängig, aber ebenso richtig ist: Wächst der Rechtsextremismus, dann geht es auch mit der Wirtschaft bergab. AfD, oder: Abschwung für Deutschland weiterlesen

Der Staat, der schützt

Das allgemeine Unsicherheitsgefühl ist das Einfallstor zur Tyrannei. Diese Unsicherheit ist die Pathologie unserer Zeit.

taz, Das Schlagloch, September 2023

Jüngst begegnete ich einem Freund und Mitstreiter, der vor wenigen Jahren Spitzenfunktionen in einer kämpferischen Linksregierung in Südeuropa bekleidete. Wir plauderten ein paar Minuten über die Misslichkeiten in diesen und jenen Nationen, und dann sagte er einen Satz, der mir sehr zu denken gab. „Wir müssen versuchen, die rechte Welle wenigstens zu bremsen. Stoppen können wir sie nicht, aber bremsen wäre gut.“ Es gab mir deshalb sehr zu denken, da er – und ich – es vor einigen Jahren als eine der Schwächen der europäischen Linken charakterisiert hätten, dass man dauernd nur „das Schlimmste verhindern“ wolle. Von der Art: „Wählt uns, damit es langsamer schlechter wird…“. Wir hätten also genau dieses Mindset dafür verantwortlich gemacht, dass die radikalisierten Konservativen und extremistischen Rechten leichtes Spiel haben.

Ich stellte aber fest, dass ich seine deprimierende Botschaft nicht sofort intuitiv ablehnte, sondern dass sie mich ins Grübeln brachte. Was, wenn er recht hat? Wenn wir in einem dystopischen Moment leben, in dem schon einiges gewonnen ist, wenn wir die Machtübernahmen autoritärer Rechter verhindern, Pluralismus und Demokratie intakt halten, bis irgendwann wieder hellere Zeiten kommen? Der Staat, der schützt weiterlesen

Verachtung des Proletariats

Eine Wagenknecht-Partei könnte die AfD kleinhalten, und „Die Linke“ endlich wieder aufblühen, hoffen manche. Aber wie realistisch ist das?

taz, August 2023

Linke sind voller Krisenbewusstsein. Es gibt ja ein paar Begriffe, die sehr häufig im Zusammenhang mit dem Wort „Krise“ gebraucht werden, und der Begriff „Linke“ ist da Top. Wenn die Linke stark ist, aber hinter ihren ambitionierten Zielen zurückbleibt, diskutiert sie „die Krise der Linken“. Ist sie schwach, dann erst recht. Man kommt problemlos durch ein linkes Leben, indem man von Debatte zu Debatte über die „Krise der Linken“ hüpft. Die herkömmliche Linksperson macht dennoch das Beste daraus. Die Krise, so hofft sie, könnte ja der Moment der Genesung sein. Bertolt Brecht wollte einmal eine Zeitschrift gründen, deren erste Nummer „Die Begrüßung der Krise“ als Generalthema haben sollte. Leider war die Krise schneller, und es wurde nichts draus. In der Medizin markiert die Krisis die notwendige Verschärfung der Malaise, auf die, sofern der Sieche sie überlebt, die Heilung folgt. Im Notfall halten wir uns an Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“

Gefahr ist gerade genug. Die SPD in Umfragen bei 18 Prozent, die Grünen bei 14. Die AfD bei 23 Prozent. Die Partei „Die Linke“ im existenzbedrohlichen Flügelkampf. In den Ost-Bundesländern könnten die Rechtsextremen stärkste Kraft werden. In Thüringen, wo nächstes Jahr gewählt wird, ist die Höcke-AfD in manchen Umfragen bei 34 Prozent, Bodo Ramelow, immerhin einziger Linke-Ministerpräsident, kommt mit seiner Partei gerade auf 18 Prozent (Ramelow selbst hat persönliche Zustimmungswerte von 52 Prozent). Das Land rutscht.

Und wo wächst jetzt „das Rettende auch“? Verachtung des Proletariats weiterlesen

Die Krise des Westens

Ranziges antiwestliches Ressentiment und westlicher Selbsthass machen die Luft nicht besser.

taz, August 2023

Unlängst haben wieder ein paar Schrullis für „den Frieden“ demonstriert, es wurden die obligatorischen russischen Fahnen geschwenkt, und einer hielt ein Schild hoch, in dem er anregte, Russland möge endlich Atomwaffen einsetzen. Das erinnerte mich an die Episode vor etwa zehn Jahren, als in Syrien die al-Nusra-Front (das waren seinerzeit die „gemäßigten Terroristen“), eine Handvoll UN-Blauhelme als Geiseln nahm und erklärte, sie würde sie nur freilassen, wenn sie von der UN-Terrorliste gestrichen würden. Genau mein Humor.

Heute ist viel von der „Krise des Westens“ die Rede. Es gibt so ein paar Begriffe, die kommen praktisch fix nur in Kombination mit dem Attribut „Krise“ vor.

Eine ewige Kompliziertheit ist es mit dem Westen: Er steht für die Idee der Freiheit, zugleich aber auch für Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit. In Hegels Auffassung von der Geschichte der Philosophie wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, wo er dann zu finaler Reife gelangt. Eine Selbstfeier von Aufklärung und Universalismus ist das, aber voller Überlegenheitsgefühle, was dann wiederum den Universalismus in Frage stellt. Also irgendwie westlich und antiwestlich zugleich. Aufklärung, Egalitarismus und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür. Die Krise des Westens weiterlesen

Nieder mit der Heizung!

Die Spinner nicht reizen? Über die ewig komplizierte Dialektik von Mäßigung und Radikalität.

taz, das Schlagloch. Juni 2023

Häufig kursieren in den Sozialen Medien lustige Memes von der Art: „>Viele Zitate im Internet sind erfunden< (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben. Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und kein Keynes-Diktum. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich in den letzten Jahren der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. Jeden Sinnspruch legt er in Trümmer, gelegentlich schafft er aber auch die zweifelsfreie Beurkundung des ungefähr Bekannten. So fand er für ein bisher mehr vom Hörensagen kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der „Salzburger Nachrichten“ vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Nieder mit der Heizung! weiterlesen

Die Königin des Undergrounds

Mark Braudes packendes Porträt von Kiki de Montparnasse ist eine große Zeitreise an eine Brutstätte der zeitgenössischen Künste.

taz, Mai 2023

Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt? In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann. All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren mit dem gesellschaftlichen Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie, umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen.

Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris der 20er Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es schaffte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Underground gekürt. Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschichts-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße aus den bürgerlichen Bildungsschichten entsprangen. Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen wurde. Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein Modell. Die Königin des Undergrounds weiterlesen

Lob der Umerziehung

Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen ist nicht „überheblich“, im Gegenteil.

Das Schlagloch, taz, März 2023

Den Linken wird heute häufig vorgeworfen, sie würden die Menschen gerne „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit rabiaten Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt sogar die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest dessen freundlichere Schwester, der Paternalismus. Von der Art: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, wenngleich natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht hätten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf dem ersten Blick. Denn die Linken haben einerseits eine große Geschichte darin, andererseits auch das Selbstbild, auf der Seite der ganz normalen, einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren sind, die nicht in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir das mal mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen diesen Leuten, im Grunde ist es „nicht okay, wie ihr seid“. Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, den Machismo, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Werte von Männlichkeit, von hergebrachten Vorstellungen von Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von sehr viel Leid ist, etwa des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing usw. ausgesetzt sind. All das führt nun dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, „ihr seid nicht okay“. Und dann kommen die Rechten daher, und sagen genau diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“

Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritiken an Lebensstilen und Werthaltungen. Lob der Umerziehung weiterlesen

Überfluss und Erschöpfung

Zeitgefühl in Begriffe gefasst: Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender.

taz, das Schlagloch, Februar 2023

Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch mit Schlagworten versorgt, die einen großen Beiklang hatten, einen Überschuss und Obertöne, die in uns etwas zu Schwingen bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die einfach ungehemmten Egoismus ausleben wollen, andererseits, weil aus eben diesem Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „Floskel des Jahres“. Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter Ambiguitäten.

Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin zu freien Wahlen. Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, ein lebenskultureller Laissez-Faire, die Befreiung aus Konformismus und Konventionen, dieses ganze Zeug von Bohème über Hippies bis Punk. Nach den erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner rebellieren lässt („Geben sie Gedankenfreiheit, Sire!“) als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den Neoliberalismus und seine Sachzwänge. Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der Staatrechter Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. Wir haben das Problem mit Minderheitenschutz, ein paar Sicherungen gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von Freiheit“ kennen, und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit, und schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. Ersteres ist packend, zweiteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne viel Heldentum. Überfluss und Erschöpfung weiterlesen

Schocktherapie

Nur mit gemäßigten Aktionen kann man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht.

Meine Schlagloch-Kolumne aus der taz vom Dezember

Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der „abstrakte Expressionismus“ als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop-Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warholls Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben. Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht einmal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schock-Strategien der Aktionskunst. „All Art ist Propaganda“, bemerkte schon George Orwell und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so irgendwie.

Natürlich kann man gegen die Attacken gegen Kunstwerke einiges einwenden, obwohl natürlich nicht Kunstwerke zerstört werden, sondern bisher vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befinden. Ein Einwand wäre: Sie zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, das ohnehin knapp ist, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich ja nicht nur irgendwelchen Spießern auf, die sowieso keine Protestaktionen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens so eine Spur einer kausalen Assoziationskette kann sicherlich nicht schaden.

Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. Schocktherapie weiterlesen

Eine Krise der Kritik

Wenn radikale Rechte und Verschwörungstheoretiker Systemkritik und Fanatismus paaren, können Linke in die Affirmationsfalle stolpern.

Das Schlagloch, August 2022

Der Systemkritiker hat die Eliten und ihrer Herrscher-Netzwerke unter Generalverdacht, und er macht sich, von diesem Verdacht ausgehend, auf Entdeckungstour. Er recherchiert, stöbert in den unterdrückten Nachrichten, kommt unbekannten Verbindungen auf die Spur, verdeckten Geheimnissen, über die man in den Konzernmedien der herrschenden Mächte niemals lesen würde. Er sieht, wie das alles zusammenhängt, wie die Etablierten ihre Macht absichern, die normalen Menschen ausbeuten, er entschließt sich, Widerstand zu leisten und ihre Machenschaften aufzudecken. Der Systemkritiker ist erregt ob seiner Entdeckungen, fühlt sich aber auch erhaben, weil er ein Wissen hat, das die anderen nicht haben, die Angepassten, die von der Macht gegängelt sind, die in einem raffinierten Kokon von Komplizenschaft gefangen sind, der die Unterdrückten noch zu Kumpanen ihrer eigenen Unterdrückung macht. Ein bisschen ist der Systemkritiker wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äußerst lustvolle Tätigkeit. Dass die Täter unentdeckt bleiben, ist übrigens gänzlich ausgeschlossen, was ein glückliches Ende der Unternehmung von vorneherein garantiert. Die Täter werden immer entlarvt, und es sind nicht zu wenige, mal heißen sie Merkel, mal Scholz, mal Gates und immer Soros. Die aktiveren Gesellen unter den Systemkritikern gründen Anti-Mainstream-Medien, in denen all die Stimmen und Fakten ausgebreitet werden, die die herrschende Macht zu unterdrücken versucht.

Krise und Kritik sind eng miteinander verbunden, das wissen schon die Etymologen, die gerne auf den gemeinsamen Wortstamm der beiden Begriffe hinweisen, auf das griechische Krisis, was so viel wie „unterscheiden“, „trennen“ aber auch „zuspitzen“ heißen kann. Philologie beiseite: Erstens, Kritik ist sowieso immer gut und wichtig. Zweitens: In der Krise ist die Kritik besonders notwendig. Denn drittens: Eine Krise wird nur überwunden werden, wenn kritikwürdige Umstände dem Säurebad der Subversion ausgesetzt werden. Kritik ist aber nicht nur die Antwort auf die Krise, sondern kann selbst in die Krise geraten, und dann haben wir: Die Krise der Kritik. Eine Krise der Kritik weiterlesen

Eine Ära der Konterrevolution

Von Putin bis zum US-Höchstgericht: Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren zurückzudrehen.

taz, Juli 2022

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt.

Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit mir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe.

Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Angst macht sich breit. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik und Gereiztheit ein, plus: Hilflosigkeit. Diese Angst lähmt, gerade in eine Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

Scheißzeit.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den vergangenen fünfzig, sechzig Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer – aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die auch nicht einfach so geschieht, sondern von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also. Eine Ära der Konterrevolution weiterlesen