Ein wilder Ritt: Die Wiener Prozesse

Die Wiener Prozesse: Eine Rückschau – und die Videos von allen drei Wochenenden auf einer Seite zum Nachsehen.

Es wird Ihnen wahrscheinlich aufgefallen sein: In den vergangenen Monaten habe ich diesen Blog sträflich vernachlässigt. Ich hoffe, Sie können es mir nachsehen. Es gibt nämlich einen guten Grund dafür: Ich war als Dramaturg der „Wiener Festwochen“ so richtig beschäftigt und eingespannt, quasi >24/7<, wie man heute glaub ich sagt.

Es war ein wilder Ritt. Unter der Regie von Intendant Milo Rau, gemeinsam mit einem kleinen dramaturgischen Team – Claus Philipp, Laura Widerhofer, Carmen Hornbostl – haben wir drei „Wiener Prozesse“ auf die Beine gestellt. Eine über die „Verwundete Gesellschaft – Covid 19 und die Folgen“, einen über die „Anschläge auf die Demokratie“ – über die FPÖ & Co., und einen über die „Heuchelei der Gutmeinenden“. Die Kritik bedachte uns mit Hymnen. Es werde einem in dieser Orgie des Zuhörens bewusst, „welche Arbeit Demokratie bedeutet“ (Nachtkritik). „Man kann jetzt schon sagen, dass dem neuen Intendanten mit den Wiener Prozessen ein Coup gelingen wird“, kommentierte der „Standard“ nach dem ersten Wochenende. „Dieses Reality-Format knallt dem Publikum die neuraligischen Themen der letzten Zeit noch einmal in aller Präzision vor den Latz.“ – „Das Spannendste, was Theater gerade zu bieten hat“ (Die Welt). – „Wortreiche Rechtspopulisten werden plötzlich ganz still, wenn sie in der direkten Konfrontation der Lebensgeschichte einer Geflüchteten gegenüberstehen.“ (taz). „Streitkultur beginnt beim Zuhören … Es hat sich gelohnt“ (Der Standard). „Dieses Theaterformat funktioniert, weil es Debatten von Gruppen ermöglicht, die einander sonst ausweichen“ (Die Presse).

Vielen Dank für die Blumen, fühlt sich gut an so ein Triumpfzug. Aber genug damit. Hier einmal gesammelt alle Links zu den Videos von allen Drei Prozessen zum Nachsehen:

Prozess I.

Prozess II:

Prozess III:

Falls Ihr noch mehr an Infos haben wollt, von dieser Ausgangsseite kann man sich zu allen Dokumenten der einzelnen Prozess-Weekends durchklicken.

Und falls Euch das noch immer nicht reicht, könnt Ihr hier meine Eröffnungsrede beim Dritten Wiener Prozess nachlesen:

Hohes Gericht, meine sehr verehrten Damen und Herren,

da Milo Rau, Regisseur und Intendant der Wiener Festwochen, in diesem Prozess selbst als Auskunftsperson aussagen wird und in den Fokus der Anklage gerät, ist es diesmal ausnahmsweise an mir, die einführenden Worte zu sprechen.

Das tue ich in Vertretung und Repräsentanz des dramaturgischen Teams – meiner Kolleginnen und Kollegen, die diese drei Wiener Prozesse und damit auch diesen hier vorbereitet haben: Carmen Hornbostl, Claus Philipp, Laura Widerhofer.

In Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention – hierzulande im Range eines Verfassungsgesetzes – heißt es:

„Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung.“

Wie auch im Grundgesetz der BR-Deutschland, in Artikel 5 Abs 1, was vom Duktus noch etwas pathetischer ist:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung … frei zu äußern.“

Ich erlaube mir auch noch hier die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinzuzufügen:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Jeder hat das Recht seine Meinung frei zu äußern…. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt…

Sie haben es in den vergangenen Wochen schon wahrgenommen, dass Maximen wie diese auch den Geist dieser Prozesse inspirierten. Die harten Konflikte, um die „wir“ ringen – wir als Gesellschaften, aber vielleicht da und dort auch das engere „wir“, die unterschiedlichen Kreise jener, der wir uns als Individuen zugehören fühlen und auch das engste „Wir“, im Sinne der Ichs, die wir sind, durch die die Konflikte hindurchgehen, die wir uns nicht einig mit uns selbst sind –, also die harten Konflikte, um die „wir“ ringen, sollen hier nicht in einer Form des therapeutischen Kuschelns weggelabert, sondern repräsentiert werden. Wie ein Rezensent einer deutschen Tageszeitung schrieb: „Die juridische Dramaturgie im Theater der ‚Wiener Prozesse‘ soll die öffentliche Sprache mäßigen, den Schlagabtausch von Stehsätzen in einen Abtausch von Argumenten verwandeln.“

„Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung.“ Aber wo ist da die Grenze? Ist vielleicht zuviel sagbar geworden? Oder wird, umgekehrt, zu viel ganz schnell niedergemacht? Ist eine Meinung, die man nicht teilt, einfach eine Ansicht, die man nicht teilt, oder die verdammenswürdige Meinung einer anderen Person, die sich, wegen dieser Meinung, als moralisch verdammenwürdiger Charakter erweist?

Kommen wir zu den konkreten Thematiken dieses dritten Wiener Prozesses:

Sind die Aktionsformen der Letzten Generation zu radikal? Oder nicht radikal genug, angesichts der Katastrophen, auf die wir zusteuern? Heiligt der Zweck die Mittel? Heiligt der Zweck manche Mittel und andere nicht? Ist die banalste pragmatische Richtschnur schon ausreichend, etwa die, dass eine Aktionsform kontraproduktiv ist, die Leute so nervt, dass sie Menschen gegen die Ziele aufbringt, die sie verfolgt?

Ziviler Ungehorsam bricht Gesetze, und kann dennoch zugleich durch das Recht gedeckt sein, etwa, wenn ein begründeter Notstand geltend gemacht werden kann.

Was legitim ist und was nicht, ist nicht so klar, und wird sowohl unter dem Brennglas des Rechtes wie in der Arena der Öffentlichkeit verhandelt. Und was nervt denn und was nervt nicht? Der Verdacht ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen, dass – ob etwas sehr nervt oder weniger nervt – nicht bloß durch sachliche Tatsachen bestimmt wird, sondern durch die Einbettung in die „Kulturkämpfe“, die heute viele Debatten vergiften. Glaubenskriege.

Der Streikende, der den Bahnverkehr lahmlegt, kann womöglich auf Wohlwollen zählen, die Aktivistin, die auf der Ringstraße klebt vielleicht nicht.

Milo Rau hat darauf hingewiesen, war es bei einer Eröffnungsrede, war es bei einer Debatte in den Garderoben, ich weiß nicht mehr, dass die Entstehung der Demokratie – die Agora der Griechen – und das Theater einen gemeinsamen Ursprung haben. Beide gingen damit um, dass Konstellationen entstehen können, genauer, dass die Konstellation, in der wir leben, dazu führt, dass zwei gegensätzliche Ansichten oder Logiken – dass sie beide recht haben können.

In der Demokratie kriegt man die Gegensätze nicht aus der Welt, aber man kaut in Form des deliberativen Gesprächs an ihnen herum, bis sie sich vielleicht verkleinern. Das Theater bringt sie in die Form der Tragödie. Formt sie in der im Wortsinn tragischen Situation, in der Antigone und Kreon zugleich recht haben.

Niemand hat die ganze Wahrheit, aber jeder – jede – hat einen Teil von ihr.

Das Terrormassaker der Hamas und anderer Gruppen vom 7. Oktober, lassen wir hier keinen Zweifel, ist durch nichts zu rechtfertigen. Nicht zuletzt der Grad an Bestialität lässt einen sprachlos zurück. Alle Legitimations- und Verniedlichungsversuche sind mit den Waffen des besseren Argumentes zu bekämpfen. Aber auch mit denen des Rechtes? Inwieweit müssen auch unerträgliche Meinungen in einer pluralistischen Demokratie erlaubt sein? Darum geht es unter anderem im zweiten Fall.

Kaum auszuhalten sind Legitimierungsversuche, aber ebenso kaum erträglich sind Strategien der Verleumdung und Unterstellungen, die zugleich ihre Kreise ziehen, Strategien der raunenden Verdächtigung, die jede Erschütterung über die Geschehnisse seither sofort mit den böswilligsten Interpretationen umgibt. Diese Verdächtigungen bringen gerade jene Menschen zum Schweigen, denen man zuhören sollte.

Wer hat Recht in unseren Diskursen um den gegenwärtigen Krieg im Nahost? Die Erschütterung über die Gefährdung von Israel, der ersten sicheren Heimstatt des jüdischen Volkes? Natürlich hat sie recht. Die Erschütterung über zigtausende Tote eines Feldzuges, der eine Reaktion auf diese Gefährdung ist? Natürlich hat auch sie recht.

Führt vielleicht sogar auch das Wort „Reaktion“ in die Irre in einer Welt, in der alles was geschieht, eine Reaktion auf alles andere ist, was geschieht und je geschehen ist, so irgendwie jedenfalls?

Finden wir in Formen, in denen sich die Erschütterung über den Krieg ausdrückt, Antisemitismus, oder Elemente desselben? Oder ist, umgekehrt, der Vorwurf des Antisemitismus ein Versuch, die Artikulation der Erschütterung selbst zu unterbinden, Sprechverbote zu verhängen? Mein Verdacht ist ja: Mal ist es so, mal ist es anders. Wenn dem so ist kommt man um das genaue Hinhören, das Zuhören und auf die Beurteilung im Kontext nicht herum. Und um die Anstrengung, mit den Augen der jeweils anderen zu sehen.

Andererseits: Was hilft es uns, wenn wir das Tragische konzedieren, außer dass wir vielleicht schlauer dastehen als die Erregten, über die wir leicht die Nase rümpfen in unserer selbstgerechten und einfachen Einerseits-Anderseits-Schlauheit? Sind vielleicht die Schlauen am Ende die Düpierten, die die eigene Entscheidungsschwäche als Tugend ausgeben?

Sind wir vielleicht nur linksliberale Softies, Warmduscher, die ihre Bequemlichkeit bloß mit viel Lametta verschönern?

Da sind wir schon bei der Kunst und beim dritten Fall dieses Wochenendes, die sich mit der exzellenten Inszenierung, dem geschliffenen Text, dem passenden Wort nicht begnügt, der die Entwicklung neuer Seh- und Sprechweisen nicht mehr genug ist, sondern die unbedingt relevant sein will und die Kunst in den Aktivismus kollabieren lässt, dabei aber auch nur Kunst bleibt, und in diesem Zuge womöglich die Kunst UND das Engagement beschädigt, sich zwischen alle Stühle setzt, und die dann selbstgefällig daran erinnert, dass schon Brecht dies für die beste aller Sitzgelegenheiten hielt.

Das ist die zynische Auslegung. Aber seien Sie sich gewiss, wir haben hier auch eine andere Geschichte zu erzählen.

Was tun wir da? What the Fuck haben wir getan in den letzten sechs Wochen mit diesen Festwochen, die proklamierten, wir schuldeten der Welt eine Revolution, die radikal tun, und dann auch nichts anderes sind als halt Kunst. Kunst. Die noch das Elend der Welt in Material verwandelt für Applaus, Erfolg und Starruhm. Was tut er da, dieser Rau, der sagt, dass er schon wisse, wie widersprüchlich man sein müsse, um konsequent zu sein, und damit womöglich auch nur einen Taschenspielertrick anwendet, um in jedem Fall auf der sicheren Seite zu bleiben.

Auch er muss sich in diesem Wiener Prozess verantworten. Für alles und für das Gegenteil. Dafür, die Kunst zu politisieren, und dafür, dabei nicht weit genug zu gehen.

Jetzt hat er den Salat.

Persönlich hab ich ja zu all dem eine Meinung. Das wäre nicht mein Problem, der Mangel an Meinungen. Mein Problem ist ja eher, dass ich zu all dem zwei, drei, vier Meinungen habe, die den kleinen Nachteil haben, sich gelegentlich zu widersprechen. Aber um meine Meinung, um unsere Meinung geht es hier nicht.

Es geht um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die Wahrheit, die die Geschworenen der Freien Republik Wien am Ende in Form ihrer Urteilssprüche, ihrer Entscheide mitteilen werden, gewiss auch diesmal mit der pathetischen Weisheit wie das die Geschworenen in den ersten beiden Prozessen schon getan haben.

Wir sind hier die, die den Raum aufmachen. Die eine Situation herstellen. Wie man in Wien sagt: die „Hausmasta“.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung … frei zu äußern.“

Damit ist der Dritte Wiener Prozess eröffnet.

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