Imperialismus mit Realitätssinn

US-Wahlen. Gut möglich, dass demnächst ein Demokrat das Weiße Haus regiert. Wer hofft, dann herrsche wieder Friede, Freude, Eierkuchen, könnte eine Überraschung erleben. Denn Amerika bleibt, was es ist: die Hypermacht mit globaler Ausnahmestellung.

 

John F. Kerry lag weit abgeschlagen. Schon spekulierten viele, er würde seine Kandidatur noch vor der heißen Phase aufgeben. Erst als kaum mehr jemand einen müden Cent auf ihn gesetzt hätte, lief der Bewerber zur Hochform auf. Ein "echter Kerry-Wahlkampf" war das eben, freute sich der Kandidat hinterher – müde zu Beginn, gut im Endsprint.

 

So liefen die Dinge vergangenes Jahr, als die Ausscheidungskämpfe um die Präsidentschaftsnominierung der Demokraten begannen. Howard Dean, der ehemalige Gouverneur von Vermont, lag in den Umfragen mit derart komfortablem Vorsprung vor dem Feld der Verfolger, dass seine Nominierung allseits als fix angenommen wurde. Doch dann drehte "Comback-Kerry" (Kerry über Kerry) das Rennen um. Das war nicht das erste Mal in seiner Karriere so.

 

Und womöglich auch nicht das letzte Mal. Denn noch vor zwei Wochen bot sich ein ähnliches Bild. Kerrys Rückstand in den Umfragen hatte sich dramatisch vergrößert. Doch wieder einmal verstand es der großgewachsene Sentator aus Massachusetts, für ein spannendes Finish zu sorgen. Nach zwei TV-Konfrontationen liegen die Rivalen nun praktisch Kopf an Kopf. Was jetzt kommt, sind knapp drei Wochen regelrechter "Bodenkrieg" ("Time"-Magazine). Ein Kampf um jede Stimme. Es wird wohl ziemlich tief.

 

Jedenfalls scheint durchaus möglich, dass Kerry die Wahlen vom 2. November gewinnt und die USA ab 2005 wieder von einem Demokraten regiert werden. Die Zahl derer, die darüber nicht erfreut wären, hielte sich sich – außerhalb der USA jedenfalls – gewiss in ganz engen Grenzen.

 

Aber wie würde ein demokratisches Amerika aussehen? Wäre das Zerwürfnis zwischen den USA und dem "Alten Europa" etwa vergangen und vergessen? Welches Design hätte eine Kerry-Außenpolitik? Und besteht in anderen Fragen – der Wirtschafts-, der Sozialpolitik etwa – überhaupt ein nennenswerter Unterschied zwischen den Demokraten und den Republikanern?

 

Längst hat sich unter Kennern die Gewißheit durchgesetzt, die Europäer würden sich noch wundern. Gewiß würde sich in Stilfragen viel ändern. "Die raubeinige Art, mit der George W. Bush sich Freunde entfremdete, würde John Kerry sicher nicht an den Tag legen", meint etwa der Politikprofessor Francis Fukuyama. Dass die Spannungen zwischen alter und neuer Welt stante pede beigelegt würden, diese Hoffnung hält der Washingtoner Großdenker "für ein bißchen naiv".

 

Eine Kerry-Außenpolitik könnte der Bush-Außenpolitik ziemlich ähnlich sehen – freilich nicht der von George W., sondern jener, die George Bush sen., der Vater des jetzigen Präsidenten betrieb, lautet die überraschende Prognose des Magazins "The Atlantic". Ein Ende der imperialen Attitüde würde ein Demokrat im Weißen Haus nicht notwendigerweise bringen, eher die Bereitschaft, mit viel Überzeugungsarbeit Verbündete für eine aktivistische Außen- und Sicherheitspolitik zu gewinnen. Darauf deuten nicht nur die programmatischen Äußerungen von Kerry selbst hin, das demokratische Außenpolitik-Establishment hat sich insgesamt in den vergangenen zehn Jahren von einer eher pazifistischen Linie, die von militärischen Abenteuer wenig hält weg- und in Richtung eines humanitären Interventionismus hinbewegt. Und zwar ziemlich weit: Militärische Interventionen – vulgo: Kriege – gelten ihnen heute als eine Art Fortsetzung der Entwicklungshilfe mit anderen Mitteln. 

 

Als heißer Tip für das Amt des Außenministers unter Kerry wird neben dem Senator Joseph Biden vor allem Richard Holbrooke genannt, der im Vorfeld des Kosovokrieges Bill Clintons zupackender Balkanemissär war. Und Kenneth Pollack, einer von Kerrys führenden Außenpolitik-Beratern, hat in seinem Buch The Threatening Storm sogar für den Regime Change im Irak geworben. Prinzipiell jedenfalls haben auch die Demokraten gegen den militärischen Export der Demokratie wenig einzuwenden. Sie haben allenfalls mehr Realitätssinn als die neokonservativen Ideologen, die nach dem 11. September die US-Außenpolitik übernahmen. Für die demokratischen Interventionisten ist Nation-Building, der Aufbau von staatlichen Institutionen in den "gescheiterten Staaten", den schwarzen Löchern der Recht- und Ordnungslosigkeit, eine ganz prioritäre sicherheitspolitische Aufgabe. Zudem wissen die Demokraten, dass der Legitimationsgewinn, den ein multinationales Arrangement bringt, die Erfolgschancen von Unternehmen zum Export von Demokratie und Stabilität entscheidend erhöht. Deshalb, und nicht etwa aus grundsätzlichen Gründen, werden sie vom rabiaten – und für seine eigenen Ziele kontraproduktiven – Unilateralismus der Bush-Regierung abrücken. Doch an die Zustimmung Anderer – etwa gar der Vereinten Nationen – wird sich keine amerikanische Regierung binden; auch eine demokratische nicht. Von Fall zu Fall werden die transatlantischen Verspannungen sich daher leichter oder schwerer lockern lassen: die Zuständigkeit eines Internationalen Strafgerichtshofs für Verbrechen amerikanischer Soldaten wird auch eine US-Regierung nicht so schnell anerkennen, in Umweltschutzfragen wird John F. Kerry dagegen wohl eher rasch von der Haltung der Bush-Regierung abrücken, die ausschließlich von den Interessen des Big Business bestimmt war. Die Präventivkriegsdoktrin, von Bush großmäulig verkündet, würde von Kerry vielleicht nicht an die große Glocke gehängt werden, er wird sie aber auch nicht mit dramatischer Geste verwerfen. 

 

Kurzum: Ein "Geist der Selbstbescheidung" (Die Zeit) wird auch unter Kerry nicht ins Weiße Haus einziehen – der wäre mit dem militärischen Übergewicht der Hypermacht USA, mit deren globaler Ausnahmestellung auch kaum vereinbar.  

 

In einem darf man sich aber sicher sein: Dem Amtsantritt einer Kerry-Regierung würde eine regelrechte Charmeoffensive folgen. Und die könnte für die Europäer noch ziemlich diffizile Probleme bringen. Denn Kerry wird versuchen müssen, die winzige Chance zu wahren, die heute noch verblieben ist, dass die USA nicht geschlagen aus dem Irak abziehen müssen. Schon setzt sich in der amerikanischen Außenpolitik-Community die Ansicht durch, die Geschichte habe bewiesen, "dass keine militärische Lösung für eine anschwellenden Aufstand wie dem im Irak möglich ist" (The New York Times). Was die USA wohl anstreben werden, ist, kurz gesagt: Sie müssen ihre Truppen aus der Schußlinie bringen und nach und nach abziehen; einer internationalen Sicherheitstruppe wird die schwierige Aufgabe übertragen, totales Chaos zu verhindern; die muss so multilateral wie möglich zusammengesetzt sein, um als maximal legitimiert zu erscheinen. Kerry wird also alles daran setzen, die Europäer dazu zu bringen, Soldaten in den Irak zu entsenden – was kein Staats- oder Regierungschef wünschen kann, angesichts der herrschenden Sicherheitslage. Doch das "Nein" der europäischen Staatenlenker muss nichts zu besagen haben, prophezeit der demokratische Senator und Außenpolitik-Experte Joe Kerrey: "Wenn es einen neuen Präsidenten gibt, mit dem man vertrauensvoll zusammenarbeitet, wenn man gleichberechtigt eingebunden wird in alle Entscheidungen, kann man immer noch erklären, dass sich die Lage völlig verändert habe und nun einen Beitrag zur Stabilisierung des Irak erforderlich mache. Keiner von uns will, dass der Irak zu Grunde geht."

 

Kerry wird also in gewisser Weise ein schwierigerer Brocken für die Europäer als der Ausnahmedummkopf Bush, der geradezu erpicht war, seine Fehler alleine zu machen. In dieser Hinsicht wird ein demokratisch geführtes Amerika kaum wiederzuerkennen sein. Doch Kerry kann, andererseits, die Welt nicht neu erfinden.

 

Und auch Amerika nicht. Was nicht heißt, dass es innenpolitisch völlig unbedeutend wäre, wer im Weißen Haus logiert. Ganz im Gegenteil: Möglicherweise prägt, wer die nächsten vier Jahre regiert, das Land für lange Zeit. Von den neun Richtern des Obersten Gerichtshofes der USA sind sieben von republikanischen Präsidenten ernannt worden. Vier von ihnen sind über siebzig und könnten demnächst ausscheiden. Die Frage, ob Bush oder Kerry die nächsten ein, zwei Richter benennen, kann Fragen wie das Abtreibungsrecht, Affirmative Action, den Zuschnitt der Wahlkreise, und die Interpretation der Bürgerrechte bestimmen.

 

Bush hat in seiner ersten Amtszeit auch innenpolitisch radikal regiert: Er hat eine Reihe dramatischer Steuerkürzungen für die Reichen durchgeboxt und einen ultrakonservativen Justizminister bestellt, der den 11. September zur Etablierung eines orwellesken Überwachungsstaates nutzte. Die Demokratische Partei ist, in Reaktion darauf (und aufgrund der fulminanten Wiederbelebung ihres progressiven Flügels durch Howard Dean) für ihre Verhältnisse weit nach links gerückt. Das heißt freilich nicht, dass Kerry zur Vor-Clinton-Zeit zurückkehren und an die "New-Deal"-Tradition der Demokraten anschließen wird. Wohlfahrtsstaatliche Programme wird er wohl nicht dramatisch ausweiten, alleine weil das durch die Sitzverteilung in Senat und Repräsentantenhaus ziemlich unmöglich gemacht ist. Auf eine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse im Senat kann das Kerry-Lager zwar hoffen, doch das wichtige Unterhaus ist fest in der Hand der Republikaner.

 

Ohnehin fehlt das Geld. Mit seinen Rekorddefiziten hat George W. Bush die USA an den Rand der Insolvenz gebracht, wie jüngst sogar der Internationale Währungsfonds alarmiert feststellte. Wenn Kerry die Steuerreduktionen für all jene zurücknimmt, die über 200.000 Dollar pro Jahr verdienen, dann kann er damit allenfalls seinen Health-Care-Plan finanzieren – das Defizit ist dann aber noch um keinen Cent reduziert.

 

Kerry würde also, getragen von der "linkesten" Demokratischen Partei seit langem, eher vorsichtig regieren: "Mittelwegsgefährte" nach Blairscher Art. Ein paradoxer Spagat, zu dem Kerry womöglich gute Voraussetzungen mitbringt. Schon vor mehr als zehn Jahren war er an vorderster Front, als Bill Clinton die "New Democrats" erfand und die Partei an den Ort rückte, den man in hiesigen Breiten die "Neue Mitte" nennt. 1992 etwa hatte Kerry in viel beachteten Reden die "Kultur der Abhängigkeit" angeprangert, die der Wohlfahrtsstaat angeblich zur Folge habe und zudem die Förderprogramme für die Schwarzen in Frage gestellt. Damals war schon zu hören, Kerry – dem nachgesagt wird, sein Herz poche in Wirklichkeit ein paar Zentimeter weiter links – schlage diese Töne an, weil er seine Präsidentschaftskandidatur vorbereite und für die Wechselwähler in der Mitte attraktiv sein wolle.

 

Und dieses Ziel wird Kerry auch im Fall eines Sieges nicht aus den Augen verlieren. Denn jeder Präsident hat noch, kaum dass er gewählt war, vor allem eines im Kopf gehabt: die Wiederwahl. 

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