Diagnose: Asozialität

Noch einmal zum Thema Unterschicht, diesmal etwas anders: Die deutsche Politik entdeckt die „Unterschicht“ – und fragt sich, ob das U-Wort nicht politisch unkorrekt ist. Dabei ist eines viel unkorrekter: die Leugnung des Problems, dass ein ganzes Milieu in Aussichtslosigkeit lebt. Falter, 25. Oktober 2006

 

Dass es so etwas wie eine „neue Armut“ gibt, darauf weisen Sozialwissenschaftler und karitative Organisationen seit gut einem Jahrzehnt hin. Bei Politik und Publikum hat es meist bedächtiges Kopfwiegen ausgelöst. Schnell war man meist wieder bei anderen Themen. Vielleicht auch, weil man in einem politischen Setting, das herzeigbare Erfolge bevorzugt und im kurzen Rhythmus von Legislaturperioden denkt, schwer lösbaren Problemen am besten mit Ignorieren begegnet.

 

Seitdem Kurt Beck, der Chef der deutschen Sozialdemokraten, das Wort „Unterschicht“ in den Mund genommen hat, ist das plötzlich anders. Jetzt wird die „verfestigte Armut“ entdeckt und in einer großen Studie der SPD-nahen Ebert-Stiftung vermessen. Resumee: Es gibt ein Milieu von Resignation und Hilflosigkeit, dem etwa fünf bis sechs Millionen Deutsche angehören – das wären etwa sechs bis acht Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland. Der Wert dürfte in Frankreich ähnlich liegen, in Österreich etwas darunter. Die Tendenz ist dennoch die gleiche.

 

Das gute an der deutschen Studie ist, dass sie zur Definition der „Unterschicht“ nicht nur die klassischen sozialökonomischen Daten – pekuniäre Situation, Arbeitslosigkeit – heranzieht, sondern auch die „Wertvorstellungen, die Lebensbewältigungsmuster und Selbsteinschätzungen der Befragten“ (Die Zeit). Deprivation und Resignation lassen sich nämlich durch rein ökonomische Faktoren nicht hinreichend erklären.

 

Gewiss, man kann streiten, ob die Vokabel „Unterschicht“ die Deklassierten nicht noch einmal deklassiert. Allerdings: Jetzt wird wenigstens über das Problem geredet. Sechs Jahre hat es gebraucht, bis die Unterschicht es von Big Brother in die Ministerratsdebatten geschafft hat. Im Jahr 2000 hat man die Unterschicht ja noch zum Gaudium des Publikums in Container gesperrt und abgefilmt. Jetzt will sich ihrer die Politik annehmen.

 

Wahrscheinlich kommt man der Virulenz des neuen Unterschichten-Phänomens am besten auf die Spur, wenn man die Vokabel mit ihren semantischen Ahnen vergleicht. Mit dem „Proletariat“, wie man das in Urzeiten nannte, und den „Unterprivilegierten“ oder „sozial Schwachen“, wie in der Ära politisch-korrekter Sozialreform formuliert wurde.

 

Was die heutige Unterschicht vom früheren Proletariat und den Unterprivilegierten unterscheidet, ist die Zukunftsperspektive. Die Begriffe „Proletariat“ und „Unterprivilegierte“ waren eingebettet in Aufstiegs-, Emanzipations- und Fortschrittsdiskurse. Sie hatten nicht den Beiklang der Aussichtslosigkeit, sondern im Gegenteil der Idee, dass man sich aus der bedrängten Lage befreien kann. Durch kollektive Anstrengung – Kämpfe für Sozialreform etwa – sowie durch individuellen Fleiß („lerne, Bub, damit etwas aus dir wird…“).

 

Die einstigen „sozial Schwachen“ hatten immerhin, bei aller Bedrängnis, eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft. Sie hielten die Fabriken am Laufen. Sie waren vielleicht ausgebeutet, aber sie waren notwendig. Das gab ihnen Macht und auch Stolz. Die Unterklassen braucht keiner mehr. Für die Kreativjobs der Wissensgesellschaft fehlen ihnen die sozialen, symbolischen und meist auch sprachlichen Kompetenzen, und Hand-Jobs werden in Kalkutta und Shanghai erledigt. Sie sind, nach dem Wort des französischen Soziologen Robert Castel, „überflüssige Menschen“.

 

Der historische Begriff, der der Unterklasse am nächsten kommt, ist „Lumpenproletarier“ – aber von denen nahm man an, dass sie mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verschwinden würden. Unterschicht heute meint dagegen ein gesellschaftliches Segment, dessen Angehörigen alle Aufstiegskanäle von vornherein verschlossen sind; die nirgendwo auch nur eine Pore finden, in die Gesellschaft hineinzukommen; die von früh ab die Erfahrung machen, dass sie keine Chance haben – weil sie am falschen Ort leben, in die falschen Schulen gehen, die falsche Muttersprache haben; weil sie in die falschen Familien hineingeboren sind; die deshalb auch selbst sehr auf „Anti“ machen, zum Trotz, weil sie wissen, dass es keinen Unterschied macht, ob sie sich anstrengen oder nicht. Unterschicht beschreibt also eine Problemzone, die sich wieder ausweitet, eine Zone von Wurschtigkeit, Verwahrlosung, Durchs-Leben-Driften, ja, sagen wir’s: von Asozialität.

 

Verhöhnt es die Betroffenen, das offen zu sagen? Nein, denn diese Asozialität ist gesellschaftlich gemacht, produziert durch eine politische Elite, die sich noch immer daran klammert, Sozialpolitik mit den Mitteln der Sozialversicherung zu betreiben, für die also diejenigen, die abseits der Lohnarbeitsgesellschaft stehen, ein „Sonderfall“ bleiben, dem man sich mit sozialarbeiterischer Strenge nähert.

 

Wundermittel gibt es ohnehin keine. Kalter Technokratismus nach „Hartz-IV“-Art hat das deutsche Problem zwar nicht geschaffen, aber auch nichts zu seiner Lösung beigetragen; selbst eine „Grundsicherung“, wie sie hierzulande neuerdings sogar in Regierungsverhandlungen eine Rolle spielt, löst das Dilemma nicht auf, dass Lebenssinn, gesellschaftliche Integration, Selbstwertgefühl bis auf weiteres an Arbeit gebunden sind. Bildungspolitik ist wohl das wichtigste, um die Fatalität der negativen Sozialvererbung zu unterbrechen – was wohl schwierig genug ist, selbst für die ambitionierteste Politik.

 

Nur: Nichtstun ist die schlechteste Lösung. Auch wenn das Wort „Unterschicht“ für manche Bobos heute das ist, was das verächtliche „Pöbel“ für die Döblinger Regimenter seit jeher ist, so ist doch auch wahr: den Unterschichten ist durch die Vermeidung des U-Wortes nur wenig geholfen. 

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