Dissenswirtschaft

Im September erschien die erste Nummer der neuen Zeitschrift "polar" im Frankfurter "Campus"-Verlag. Sie soll zwei Mal im Jahr herauskommen. In der ersten Nummer versuchte ich zu beschreiben, was aus der Politisierung der Wiener Kulturszene nach den Jahr 2000 geworden ist.

 

Wenn bedeutende Jahrestage anstehen, dann hält Österreich keine Gedenktage ab, sondern gleich Gedenkjahre. Deshalb ist 2006 Mozartjahr und deshalb hat Peter Marboe, einstiger Kulturstadtrat von Wien, wieder einen Job. Er ist federführender Verantwortlicher für das Mozartjahr und schwimmt im Geld. Eine der Ideen, die er ausbrütete, war, an prominente bzw. künstlerisch avancierte Filmemacher Aufträge zu verteilen. Gefragt waren Kurzfilme, die sich dramaturgisch an Werbespots orientieren, und die irgendetwas mit Mozart zu tun haben sollten. Die sollten dann im Kino oder im TV laufen. Auch die Filmemacherin Anja Salomonowitz, trotz ihrer jungen Jahre schon mit manchen Doku-Preisen überhäuft, erhielt so einen Auftrag.

 

Ihr Film heißt "Codename Figaro" und hat etwa folgende Botschaft: Zu Mozarts Zeiten waren arrangierte Heiraten ganz üblich. Das Publikum möge sich daran ein Beispiel nehmen: Heiraten Sie einen Asylbewerber, damit der zu einem der begehrten österreichischen Pässe kommt! Herr Marboe soll getobt haben, als er das Resultat sah.

 

Anja Salomonowitz ist eine junge Frau mit tiefen Grübchen in den Wangen wenn sie lacht – und sie lacht meist. Das Wort lebenslustig könnte extra für sie erfunden sein. So freut sie sich oft diebisch über ihre Streiche, sitzt dann im Café Anzengruber, hebt ihr Wodkaglas und sagt in kalkuliert breitem Wiener Dialekt, von dem man nicht genau weiß, ob er nicht auch ein wenig antrainiert ist: "Jetzt sauf ma uns an."

 

Das Anzengruber ist so ein Café, dessen Charme davon lebt, dass hier in den letzten Jahrzehnten wenig verändert wurde. Es riecht hier nach Bohéme, auch wenn natürlich jeder weiss, dass das heute gewissermaßen geliehene Gerüche sind, Zitate. Gut möglich, dass am Nebentisch Christoph Steinbrener und Rainer Dempf sitzen, ein Künstlerduo, das im vergangenen Jahr eine ganze Wiener Einkaufszeile von Markenlogos gesäubert hat. Alle Werbetexte, Aufschriften und Logos wurden mit gelben Folien überklebt. "Delete!", hieß die Aktion und sollte, in den Worten Dempfs, "ein Statement zur aktuellen Explosion von Beschriftung und Werbung im öffentlichen Raum" sein. Es ging um die innere Kolonisierung aller Lebenswelten durch das Kapital oder so.

 

Filme wie die von Salomonowitz oder Installationen wie die der No-Logo-Künstler sind heute weder besonders spektakulär, ja, eigentlich gar nicht weiter der Rede wert. Eine Repolitisierung der Kulturszene läßt sich nicht nur in Österreich konstatieren. Man weiss das alles und kennt es längst: die neuen Gesten des Rebellischen, von Bühne bis Pop, von Nische bis Mainstream, von René Pollesch bis Michael Moore, von der Dokumenta_11 bis Wir sind Helden. Jede Stadt hat ihre Subkultur und die, die mithalten wollen im Städtestandortwettbewerb, kommen nicht darum herum, ganze Viertel zu Zonen gediegener Schäbigkeit zu entwickeln, die dem Betrachter annoncieren: Hier ist das Kommerzprinzip lokal außer Kraft gesetzt, zumindest nicht ungebrochen dominant. Demonstrative Dissidenz ist Chic geworden, so sehr, dass meist nicht einmal mehr wahrgenommen wird, dass das auch erstaunlich ist: War Kapitalkritik, prinzipienfester Antirassismus unlängst nicht noch schwer aus der Mode, so Dinge wie Engagement und politische Haltungen hoffnungslos von gestern? Die Repolitisierung der Kunstszene ist so gesehen symptomatisch, weil es in ihr, wo Aufmerksamkeit und Zeitgemäßheit die Währung ist, absolut tödlich ist, verstaubt zu wirken. Wenn sich das ändert, ist das auch ein Barometer für gesellschaftliche Klimalagen.

 

Das gilt für Wien nicht anders als für Hamburg oder Berlin. Aber doch ist in Österreich eines anders. Die österreichische Gegenwartskultur ist geprägt von der Krise, die Österreich in den neunziger Jahren durch den Aufstieg der Haider-Partei erlebte und dem Regierungseintritt der FPÖ im Jahr 2000. Diese Krise machte den politischen Bereich dominant. Sie machte gewissermaßen die Webersche "Differenzierung der Wertsphären" rückgängig. Man war schlichtweg gezwungen, sich gegenüber den Vorgängen im Politischen zu verhalten. Der Bereich des Politischen wurde zum "zentralen Ort" des Gesellschaftlichen. Das hieß, dass alle anderen Bereiche diesen zentralen politischen Konflikt auf ihre Art austrugen – in ihren Formen und Artikulationen. Aber es gab überhaupt keine Frage, dass sich jeder Bereich darauf bezieht: Das machte ja die Krise aus.

 

Es gab im Grunde keine "unpolitische" Haltung mehr. Ein Großteil der im politischen oder intellektuellen Feld Tätigen nahmen eine entschieden antirassistische, der FPÖ in Feindschaft, der Regierung in Gegnerschaft verbundene Position ein; eine Minderheit vertrat die Haltung, die Mehrheit betreibe "antifaschistischen Karneval", sei "alarmistisch", "hysterisch". Dies war aber natürlich keine unpolitische Position, sondern auch eine klare politische Position – nur eine affirmative, zumindest legitimatorische gegenüber den Zuständen. Man mag dazu heute stehen wie man mag, so ist doch klar: die unpolitische Position war einfach nicht im Angebot.

 

Das hat alles geprägt und wirkt sich bis heute aus, mögen die großen Gefühle auch verflogen, Ernüchterung eingezogen sein (über die mangelnden Erfolge des eigenen Engagements) oder eine gewisse Nüchternheit – schließlich kam es doch weniger schlimm als erwartet, die Haider-Partei entpuppte sich weniger als Bedrohung denn als Lachnummer und letztendlich ist heute den meisten egal, wer regiert. Aber man hat sich doch einen Gestus der Dissidenz antrainiert, eine Haltung des Dagegenseins, die natürlich ohnehin mit den im kulturellen Feld chronischen Gesten des Nicht-Einverständnis bestens kompatibel ist. Nur markiert man eben nicht (nur) ästhetizistisch Distanz, sondern politisch.

 

Heute ist die hiesige Kunstszene, viel mehr als noch in den achtziger Jahren, den großen Zeiten von Thomas Bernhard, Peter Turrini und anderen, an internationale Diskurse angeschlossen. Auch hierzulande gibt den Ton an, wer den Sound aus Prekarität, Biopolitik, Multitude – oder wie die Catch-Phrasen alle heißen – gut drauf hat. Das Feld prägt, was es überall prägt: die Erosion der Grenzen zwischen Subkultur und Mainstream-Kultur und die neuen Herausforderungen, die das gebiert – etwa die Integration dessen, was früher noch Subkultur war, in den Kosmos von Kommerz und Standortförderung in Gestalt der „Crealtive Industries“, sowie die vielen Versuche, sich davon abzusetzen, die Stategien der „Kreativwirtschaft“ zu durchkreuzen. Dies ist natürlich ein immerwährender und letztlich bis zu einem gewissen Grad immer erfolgloser Versuch, da die üblichen Strategien wie demonstrative Ultraradikalität oder verschwurbelte Unverständlichkeit oft gerade die Resultate zeitigen, die sie verhindern sollen: dass das Radikale zur Mode und das Revolutionäre zur Zerstreuung auf dafür vorgesehem Terrain wird – dem der Kultur. Kennt man alles, von überallher. 

 

Aber doch geht dies mit einer spezifischen Lage einher, die wiederum eine neue österreichische Eigenart produzierte: mit dem, was der Wiener Kulturphilosoph Oliver Machart die „Antagonisierung der Gesellschaft“ nannte. Die politische Polarisierung, die der Regierungsbildung des Jahres 2000 folgte, hat zur Bildung vieler „Formen subkulturähnlicher Kollektivierung“ (Rupert Weinzierl) geführt, von Inseln, die mit vielen Brücken und Stegen miteinander verbunden sind und die auch in jene politischen Kreise hinein vernetzt sind, mit denen sie ihr Anliegen teilten und teilen (nämlich die Ablehnung der Rechtsregierung). Die Welt der Kunstszene, mit den ihr eigenen Distinktionsstrategien, ist deshalb in Österreich nicht so geschieden von der Welt der Politik – seien es NGOs oder Parteien – wie anderswo. Gleichzeitig wird scharf darauf geachtet, sich von staatlichen Institutionen abzugrenzen. Wer anderswo mit Bundeskulturstiftungen kooperieren würde, ist darauf bedacht, keine Gelegenheit auszulassen, Distanz zum hiesigen Kulturstaatssekretär zu markieren. Das gilt nicht nur retrospektiv, sondern wirkt bis heute nach.

 

Die Szenerie, von der die Rede ist, hört(e) auf viele, schöne Namen: Volkstanz, Soundpolitisierung, Volkstheaterkarawane, Gettoattack, IG Kultur, Public Netbase… Manche, dieser Initiativen, Kultur- und Künstlerkollektive haben sich aufgelöst, andere ver- und entpuppt, wieder andere existieren stabil und kontinuierlich – das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, das ein Raum aus postautonomer Szene, Theoriecommunity, Kulturschickeria, Antirassismus-NGOs und Politrucks aufgespannt wurde, der durchaus nachhaltige, prägende Kraft hat. Eine ganz wesentliche Bedeutung in diesem Kontext hat übrigens der öffentlich-rechtliche „Alternative-Mainstream“-Sender FM4, eine der besten – wenn nicht die beste – staatliche Radiostation im deutschsprachingen Raum, die eine verläßliche Plattform für Haltungen bietet, die dem Mainstram fern sind.

 

Natürlich, all dies aus der Perspektive von „Repolitisierung“ zu analysieren ist schon deshalb ein Konstrukt, weil die „Kulturszene“, wie überall, auch hierzulande höchst heterogen ist, die branchenübliche Umgangsform der Streit und der szenetypische Affekt das Ressentiment ist – wobei sich im Horizont einer Politisierung auch noch der Distinktionshabitus der Kunstszene mit dem Sektierertum des Politaktivismus aufs Schönste paaren können. Die Subkulturkaiser rümpfen die Nase über die etwas Arrivierteren, letztere belächeln wiederum die überholten Rebellenposen der Ersteren. Auch das gibt es. Und so wird man schon einen Konsens über eine Repolitisierungsdiagnose kaum herstellen können. Auf der eher aktivisitischen Seite gibt es nach dem Jahren des hektischen Engagements so etwas wie einen Hangover. Viele, die explizit politische Kunst machen wollen, sind auch um die Erfahrung reicher, „dass das definitiv bestraft wird“, wie Martin Wassermair von der Netzkultur-Initiative Public Netbase formuliert. Er hat in den letzten Jahren viele gesehen, die „einfach ins Ausland verschwunden sind“, um sich nicht weiter mit einer konservativ gewendeten Kulturpolitik herumschlagen zu müssen, andere sind auf das neue Paradigma der Eventkultur eingeschwenkt, „um einen Teil vom Subventionskuchen zu bekommen“.

 

Constantin Wulff, früher Leiter des Filmfestivals Diagonale – das übrigens seinerseit heftig ins Schussfeld der konservativen Kulturpolitik kam – sieht die Sache nicht ganz so dunkelgrau. Viele erlebten in den Wendejahren einen „Schub der Politiserung“, wurden durch den Aktivismus jener Tage nachhaltig geprägt – das zeige sich heute etwa im aktuellen Dokumentarfilm. „Ohne dieses Coming Out“, so Wulf, hätte es gerade im Film einige Produktionen einfach nicht gegeben – beispielsweise den Streifen „Operation Spring“, der die Skandale um eine Polizeiaktion gegen die hiesige afrikanische Asylbewerbercommunity dokumentiert und in einer breiteren Öffentlichkeit eine Debatte auslöste, die es ohne ihn schlichtweg nicht zustandegekommen wäre.

 

„Es gibt eine personelle Verflechtung von Aktivistenszene und Kulturszene, die es früher nicht gab“, formuliert Wulf und eine Diskussion, wie weit man sich mit staatlichen Institutionen überhaupt einlassen darf – die er, so Wulf, „etwa aus Deutschland oder der Schweiz so nicht kenne.“

 

Raum für Paradoxien bietet all das ohnehin genug, wie sich um die Jahreswende 2005/2006 am Beispiel einer vom Bundeskanzleramt finanzierten Plakataktion zeigte. Unter dem Titel „EuropArt“ wurden Künstler aus allen EU-Staaten gebeten, Plakate zum Start der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs zu entwerfen, die dann im Stadtbild gezeigt werden sollten. Einige Plakate sorgten für einen heftigen Skandal und hysterische Debatten am Boulevard und auch auf höchster politische Ebene, die beinahe an die goldenen Kulturkampfzeiten von Wiener Gruppe oder Thomas-Bernhard-Uraufführungen erinnerten. Das paradoxe Resultat war natürlich, wie immer, dass der Marktwert der radikaleren – und daher besonders skandalisierten – Künstler schlagartig stieg.

 

So ist das, Politisierung hin oder her, eben in der Dissenswirtschaft, die auch nur eine eigene Form der Ökonomie ist. Schlußendlich ist auch Österreich im Kulturkapitalismus angekommen, und in dem ist Aufmerksamkeit bekanntlich die Leitwährung.

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