Unterchic

Fundstücke eines Alleslesers – die Blogkolumne

Die grassierende Unterschichtendebatte ist auch als Vergessensleistung zu klassifizieren. Schließlich ist die ja nicht primär von der Entdeckung gekennzeichnet, dass es Menschen gibt, die in materiell schlechten Verhältnissen leben, sondern dass sich die materielle Lage in eine Ästhetik übersetzt – in die Unterschichtästhetik.

 In früheren Zeiten hätte niemand daran gezweifelt, dass es die Distinktion via die feinen Unterschiede gibt. “Wie jede Geschmacksäußerung eint und trennt die ästhetische Einstellung gleichermaßen”, schrieb schon Pierre Bourdieu in seinem Buch “Die feinen Unterschiede”. Dabei war seinerzeit die ästhetische Distinktion noch weit weniger ausgefeilt als heute. Nur ist in den vergangenen Jahrzehnten der Eindruck entstanden, der Lifestylekapitalismus würde für mehr gesellschaftliche Gleichheit sorgen, indem er die Individuen ungleicher macht. Die Idee lautete etwa folgendermaßen: Die Gesellschaft differenziert sich in unzählige Lifestylegemeinschaften auf, aber damit wird das Schicht- oder Klassenmodell obsolet, weil keine zentrale Norm mehr existiere und kein Lebensstil von sich in Anspruch nehmen kann, wertvoller als der andere zu sein.

Das ist natürlich Unsinn, aber dieser Unsinn wurde geglaubt, sonst würde die Unterschichtvokabel heute nicht so eine Karriere mache. Jetzt sieht man: Oben stellt man “die eigene Verfeinerung” aus, man ißt gesund und kauft bei Manufactum ein, und in die Sozialstaatsdiskussion schleichen sich “kulturelle Werturteile” ein (Der Spiegel). Tricky dabei ist, dass es den Unterschichtenlifestyle natürlich gibt, er läßt sich durch Kritik nicht verscheuchen. Er ist auch, wie immer in solchen Fällen, halb selbstbewußte Distinktion nach oben, halb Selbststigmatisierung.  

Und er ist auch Resultat eines Paradoxons: Dieselbe Wirtschaftsordnung, die die Unterschichtler aus der Welt der Güterproduktion aussortiert, stellt ihnen Waren zur Verfügung, einen persönlichen Stil, den sie sich zusammenkaufen können. Aus dem konsumistischen Universum wird niemand exkludiert – nicht einmal die Exkludierten.

Der Unterschichtenstil materialisiert sich in Positionsgütern, in “sprechenden” Waren. Von der “Sprache der Dinge” sprach Jean Baudrillard schon Ender der 60er Jahre in seinem “System der Dinge”. Und als hätte er unsere Unterschichtsdebatte kommen sehen, bemerkte er, dass mit der Verallgemeinerung des Konsumismus keineswegs ein mehr an Egalität hergestellt würde. “Obwohl heute für alle nur ein System des Identifizierens und der Lektüre der Standardzeichen gültig ist, obwohl dieses System durchgehend sozialisiert und objektiviert ist, ist es dennoch zu keiner wirklichen “Demokratisierung” gekommen. Im Gegenteil”, was sich zeige sehr eher mehr “Versessenheit auf die Hervorkehrung der Rangverhältnissse und auf Diskriminierung”.

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