Auf der Spur des Geldes

falter.jpgGestern war es noch auf der Bank. Heute ist es futsch. Wo ist das ganze Geld hin? Ein Finanzcrash-Kurs.

Falter, 10. Dezember 2008

 

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg, die Wiener Alleinerzieherin Petra T. und die amerikanische Harvard Universität haben eines gemeinsam: Sie haben Aktien gekauft. Die Alleinerzieherin T., teilzeitbeschäftigt, wollte 20.000 Schilling arbeiten lassen, damit ihr Kind später den Führerschein machen kann und die protestantischen Kirchenoberen wollten sinkende Beitragszahlen mit Kapitalgewinnen ausgleichen und kamen auf die gloriose Idee, mit den Kirchenbeitragsgeldern Zertifikate von Lehman-Brothers zu kaufen. Der Investmentfonds der Harvard-Universität wiederum legte mit höchster Expertise Geld an. Noch etwas haben die drei gemeinsam: Ihr Geld ist weg. Jetzt werden in Norddeutschland Kirchen verkauft. In Harvard leidet die Lehre.

 

Aber wo ist es, das Geld? Hat das jetzt ein anderer? Letztlich gibt es da zwei Bilder im Kopf zur Auswahl, wenn man die Geschehnisse auf den Finanzmärkten verstehen will. Bild Eins: Das Geld, das der eine verliert, muss ein anderer gewonnen haben. Bild zwei: Das Geld, das ins Finanzsystem gerät, geht in eine große Blase ein, und kann, wenn die platzt, einfach „verpuffen“ – ins Ökonomie-Nirwana.

 

Und irgendwo dazwischen ist die Realität.

 

Natürlich, von den 20.000 Schilling von Frau T. und den acht Milliarden der Harvard-Investoren wurden die Boni der Banker bezahlt und die Provisionen der Finanzanlage-Firmen. Zudem: Nicht alle Aktien sind im Crash – bisher jedenfalls – so in den Keller gefallen wie die unserer Pechvögel. Man könnte also sagen, den Verlieren stehen auch Gewinner gegenüber. Ist das Börsespiel also ein großes Umverteilungsunternehmen, bei dem man Kleinrentnern und Alleinerziehenden auch noch das Ersparte abknöpft, um es skrupellosen Spekulanten zuzuschieben?

 

„Aber nein“, meint der Ökonom Peter Rosner, und nimmt einen großen Löffel Suppe. „Man kann sogar sagen: es gibt jetzt mehr Gleichheit als vor zwei Monaten“. Denn im Durchschnitt haben die Besitzer großer Vermögen merkbar verloren, während diejenigen, die gar kein Vermögen aufhäufen konnten, natürlich nichts verloren haben, gibt Rosner, Vorstand des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, zu bedenken. 

 

Also führt der Crash, wenn schon, zu mehr „Verteilungsgerechtigkeit“. Freilich ist das eine Gerechtigkeit, von der die Habenichtse auch nicht viel haben.

 

Das Geld. Es kann sich vermehren und es kann weniger werden. Einfach so. „Die Babylonier haben das Geld erfunden“, bemerkte Karl Valentin einmal, und fügte resigniert hinzu: „Aber warum bloß so wenig?“. Das Geld ist immer noch ein großes Mysterium. Eines der „letzten Rätsel der Nationalökonomie“ hat es unlängst jemand genannt. Joseph Schumpeter, der große Volkswirt, hat ein Buch geschrieben: „Vom Wesen des Geldes“. Er ließ es zu Lebzeiten im Schreibtisch verstauben. Er wurde dem Objekt seines Studiums nicht Herr. Erst kürzlich wurde es aus dem Nachlass veröffentlicht. „Nur das Währungsproblem hat mehr Menschen um den Verstand gebracht als die Liebe“, meinte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul A. Samuelsen.

 

Aber kann Geld einfach so verschwinden? Auf der Spur des Geldes fragt man am besten einmal bei Rudolf Scholten nach. Der frühere Kulturminister steht jetzt seit gut zehn Jahren der Österreichischen Kontrollbank vor. In einem prächtigen Büro Am Hof sichert er mit seinen Kollegen die Auslandsgeschäfte österreichischer Unternehmen in riskanten Märkten ab – übrigens auch kein unriskantes Geschäft in einem Moment, in dem jederzeit die halbe Welt kollabieren kann. „Geld“, sagt er, „Geld ist das einzig ökonomisch relevante Produkt, das sich aus dem eigenen Betrieb heraus vermehren kann.“ Sicherlich, vieles, was in den vergangenen Wochen „verloren“ wurde, waren nur Bewertungsgewinne der letzten Jahre. Salopp gesagt: Wer sich vor vier Jahren um 200.000 Euro Aktien gekauft hat, die zwischenzeitlich 250.000 wert waren, soll sich nicht aufregen, dass sie jetzt nur mehr 120.000 wert sind. Soll ihm Schlimmeres passieren. Freilich: Die Bewertungsgewinne standen beispielsweise ja auch in den Bilanzen der Banken. Und weil die Aktiva der Banken mehr wert waren, konnten sie auch mehr Kredite vergeben. So vermehrte sich das Geld. Es wuchs gleich dreifach: Die Banken hatten mehr Vermögen in ihren Bilanzen. Sie hatten mehr Kredite, also Forderungen, in den Büchern. Und die Kreditnehmer hatten mehr Geld. Davon konnten sie sich schöne Dinge kaufen oder sie investieren. Die Wirtschaft brummte. So wurde aus „Buchgeld“ wachsendes Geschäftsvolumen und damit Wirtschaftswachstum.

 

An sich können Geld und Geldvermögen auf solche Weise unendlich wachsen. Zwar hat jeder schon einmal gehört, dass die Notenbanken die „Geldmenge“ steuern könnten. Aber das ist nur bedingt wahr. Wirklich direkten Einfluss hat die Nationalbank nur auf den Bargeldumlauf und die Mindestreserven, die die Banken halten müssen. Auf die Geldschöpfung durch Aktiengewinne, Vermögenszuwächse, Kreditvergabe usw. hat sie natürlich nur indirekt Einfluss, etwa, indem sie gesetzlich festlegt, wie hoch der Eigenkapitalanteil der Banken im Verhältnis der von ihnen ausgegebenen Kredite sein muss. Oder indem sie die Zinssätze bestimmt. Freilich: Wenn sie die Zinssätze hoch treibt, verdirbt sie zwar den spekulativen Anlegern das Spiel, aber sie würgt die Konjunktur gleich mit ab. Was ihr also theoretisch möglich ist, ist praktisch nicht immer ratsam.

 

Zur Relation, zwei Zahlen: In Deutschland betrug das umlaufende Bargeld plus das, was die Menschen so auf ihren Girokonten hatten, im Jahr 2002 678 Milliarden Euro. Alle Geldvermögen zusammen betrugen 5.933. Milliarden Euro, ziemlich exakt das neunfache. Dass sich über die Steuerung ersterer Größe letztere nicht immer signifikant beeinflussen lässt, ist klar. Wobei der Experte Geldvermögen – also Aktien, aber auch Sparbücher mit längerer Bindung – nicht als „Geld“ bezeichnen würde.

 

Was ist das überhaupt, was sich da aus dem Staub machte? „Geld sind höchst liquide Mittel die man sofort eintauschen kann“, sagt Peter Rosner. In manchen Kulturen sind Muscheln Geld, aber was am Sparbuch von Oma liegt, ist nicht immer „Geld“ – es ist ja möglicherweise länger gebunden und lässt sich nicht sofort eintauschen. Was heute Geld ist, muss es morgen nicht immer noch sein. Was heute als Geldschein mit dem Wert „100 Euro“ allgemein anerkannt ist, kann morgen schon Altpapier sein. Ein bisschen Vertrauensverlust, und Geld hört auf Geld zu sein. Geld ist: Konvention und Vertrauen. Rosner: „Die Differenz von Geld und Nichtgeld ist graduell. Es ist nicht so eindeutig, dass man sagen kann: Das ist sicher Geld. Das ist sicher nicht Geld.“ Geld, dessen Wert nicht wenigstens halbwegs stabil ist, wird zu Papier. Aber was das Geld neben diesen Funktionen – der Tauschfunktion, der Wertbewahrungsfunktion – im modernen Kapitalismus noch hat, das ist die Kapitalfunktion. Die sagt: Aus Geld wird mehr Geld. Wer viel Geld hat, bekommt automatisch mehr. Wer keines hat, tut sich schwer, zu mehr als dem Nötigsten zu kommen. Wer 50 Millionen Euro besitzt, bekommt bei einem Zinssatz von 6 Prozent 250.000 Euro monatlich. Automatisch. Einfach so.

 

Zur Soziologie des Geldes gehört, dass es die Gesellschaft, in der es sich durchgesetzt hat, einfärbt. Es hat wunderbare Wirkungen: Ich muss nicht mit jedem, von dem ich etwas will, persönliche Beziehungen eingehen, es reicht, wenn ich mit ihm durch das lose Band der baren Zahlung verbunden bin. Geld befreit uns vor zu viel Nähe. Wenn das Wesen der Moderne soziale Differenzierung ist, dann ist das Geld der Rohstoff, der die Moderne befeuerte. Es macht aber auch bestimmte Menschentypen erst möglich, die ohne Geld gar nicht existieren könnten – der Verschwender, der Geizige, der Fleißige, der gelangweilte Erbe, der lässige Erfolgreiche, der sich im Habitus so unendlich von dem lässigen Hungerleider unterscheidet. Versuchen wir uns diese Charaktere einmal vorzustellen ohne eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder an Hand ihres Geldbesitzes differenziert. „Gerade dass man mit Geld machen kann, was man will, ist eine notwendige Bestimmung seiner Funktion“, sagt Konrad Paul Liessmann, der Wiener Philosoph. Mit einem Wort des Denkers Georg Simmel nennt er das die „Charakterlosigkeit des Geldes“. Liessmann: „Die Charakterlosigkeit des Geldes entspricht deshalb auch der potentiellen Charakterlosigkeit seiner Eigner.“ Es ist herrisch und demokratisch zugleich. Herrisch – weil, wer kein Geld hat, ist nichts. Demokratisch – auch ein Niemand ist, hat er nur Geld in der Tasche, ein Jemand. Das Geldsystem ist Bedingung der Freiheit, könnte man sagen. Das Geldsystem hat uns zu seinen Knechten gemacht, könnte man sich sofort ins Wort fallen.

 

Rudolf Scholten lacht. Man erzählt ihn jetzt wieder häufiger in Bankenkreisen, den alten Witz. „Was ist der Unterschied zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus? Im Kommunismus haben sie die Banken zuerst verstaatlicht und dann erst ruiniert.“ Weil in großem Umfang Geld vermehrt wurde, brach jetzt alles wie ein Kartenhaus zusammen. Investoren investierten schubkarrenweise Geld, das sie nicht hatten. Fonds kauften Aktien auf Kredit. Amerikanische Bürger kauften Häuser auf Kredit, und wenn die Häuser im Wert stiegen, gaben ihnen die Banken noch mehr Kredit. Die Banken wiederum bündelten diese Kredite zu „Wertpapieren“. So wurden sie nicht nur über die Welt verkauft, die kreditgebenden Banken hatten sie aus ihren Bilanzen raus und konnten weiter mehr und mehr Kredite vergeben. „Finanzielle Massenvernichtungswaffen“, hat der amerikanische Superinvestor Warren Buffett Finanzderivate wie diese einmal genannt.

 

„Bei manchen dieser Produkte müsste man 300 mal 300 Seiten lesen, um sie zu verstehen, das hat doch keiner gemacht“, sagt Max Otte. Der Wormser Wirtschaftsprofessor mit den freundlichen Pausbacken ist dieser Tage ein gefragter Mann. Otte galt lange als belächelte Kassandra mit seinem Buch „Der Crash kommt“. In dem hat er vor drei Jahren das Szenario vorausgesagt, das jetzt eingetreten ist. „Ich möchte nicht als Crashprophet in die Historie eingehen, aber es war einfach offensichtlich.“ Jetzt sagt er: „Die Gefahr ist groß, dass es genauso schlimm, wenn nicht sogar schlimmer wird als 1929.“

 

Wer hat also jetzt das Geld von der Teilzeitkraft T., wo sind die Kirchenbeitragsgelder der Oldenburger Lutheraner und wo die Milliarden der Harvard-Uni? Wenn das jemand weiß in Österreich, dann Willi Hemetsberger. Er ist so etwas wie der Star der Branche. Der 50jährige war bis zum Frühjahr Vorstand der Bank Austria, zuständig für das Investmentgeschäft. Vorher hat er in London das Derivatengeschäft der Citibank geleitet. Jetzt hat er sich selbstständig gemacht und hilft Banken dabei, die faulen Bestände in ihren Portfolios überhaupt erst aufzuspüren. Also, wer hat die Kohle? „Na, zunächst mal der, von dem sie die Aktien gekauft haben“, sagt Hemetsberger. Der Nominalwert der Papiere, das „sind Preise, und die hängen ab von den erwarteten zukünftigen Erträgen“.  Hemetsberger: „Wenn wir heute erfahren, dass in einer Woche in Wien eine Atombombe einschlägt, werden die Häuserpreise schon heute ziemlich tief fallen.“

 

Also: Das Geld haben die, von denen die Aktien gekauft wurden. Die haben das Geld möglicherweise verprasst, sie haben es in andere Aktien investiert, oder Häuser finanziert, die heute keiner mehr haben will. Ein Teil des Geldes haben Banker und Finanzdienstleister wie etwa der AWD. Schon möglich, dass es sich in marmorne Swimmingpools mit goldenen Armaturen verwandelte. Und ein Teil des Geldes ist einfach verschwunden. Weil, wenn durch Kredit im Bubble das Geld mehr wird, dann wird es auch weniger, wenn die Blase platzt.

 

Wirtschaft ist Psychologie. Geld ist Kredit. Die großen Banken wissen, dass man sie nicht kollabieren lässt – das bestimmt ihr Risikoverhalten. „Jeder hat das im Hinterkopf“, sagt Hemetsberger, „nicht nur die Banker. Auch der kleine Sparer sorgt sich nicht um sein Geld – denn er weiß, dass der Staat letztendlich bürgt. Und er geht zu der Bank, die ihn mit den höchsten Zinsen lockt, weil sicher ist sein Geld bei jeder Bank. Das führt wiederum dazu, dass sich die superaggressiven Banken durchsetzen. Und weil jeder weiß, dass den Banken ohnehin nichts passiert, geht das Spiel immer weiter.“

 

Bis die Blase platzt – früher oder später. Diesmal platzte sie spät. Sehr spät. Gefährlich spät.

 

Und wie geht jetzt alles weiter? „Hoffentlich hat der Markt nicht recht“, sagt Hemetsberger. „Wenn man sich ansieht, wie jetzt die Kredite für Firmen mit bester Bonität gepreist werden, dann muss man sagen: der Markt erwartet eine Konkurswelle, die massiver ist als in den dreißiger Jahren.“

 

Schon in der Antigone des Sophokles heißt es: „Kein schlimmeres Gut erwuchs den Menschen als das Geld…“ Aber das Geld ist nicht nur „allgemeines Äquivalent“, jener Wert, in den sich alle Werte ausdrücken lassen, stets darf es auch alles repräsentieren, was uns beunruhigt. Läuft was schief – das Geld ist schuld. Es ist dies der negative Geldfetisch.

 

Aber ob ein Leben ohne Geld mehr Spaß machen würde?

 

 

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