Ist die Sozialdemokratie ein Auslaufmodell? Drei Gründe für den Absturz der europäischen Linken bei den EU-Wahlen. taz & Standard, 9. Juni 2009
Man fragt sich: War’s das mit links? Seitdem die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien vor rund hundert Jahren überall in Europa das allgemeine, gleiche Wahlrecht durchgesetzt haben, sah es bei Wahlen selten so zappenduster für sie aus wie am vergangenen Sonntag. Fast überall gab es für sie ein Monsterminus – in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, in den Niederlanden. Rechtspopulisten und Protestparteien schlossen zu den Sozialdemokratien auf, da und dort überholten sie sie sogar. Kaum wo übersprangen die Mitte-Links-Parteien die 20-Prozent-Marke wesentlich. Und was auch in dieses Bild gehört: Die „linkeren“ Linksparteien, wie etwa die deutsche „Linke“, sind selten die Nutznießer des Niedergangs. Allein die Grünen gewinnen fast durchwegs, in Frankreich mit Frontmann Dany Cohn-Bendit sogar spektakulär. In Dänemark konnte die links-grüne Sozialistische Volkspartei sogar im Protestmilieu zulegen. Gewiss, das Bild ist nicht völlig einheitlich: In Portugal und Griechenland gingen die Sozialdemokraten als Sieger aus den Wahlen hervor, in Spanien rutschten sie zwar auf Platz Zwei ab, halten aber immer noch bei 38 Prozent der Stimmen.
Vor knapp zehn Jahren sah es noch ganz anders aus: Es herrschte dot.com-Boom, Wirtschaftsanalytiker glaubten, es wäre endlich die Formel für die krisenfreie Ökonomie entdeckt und Europa war fest in der Hand „modernisierter“ Sozialdemokraten. Von den damals 15 EU-Staaten waren elf sozialdemokratisch regiert, mit Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Romano Prodi, Göran Persson stellten die Mitte-Links-Parteien in Europa die politischen Zentralfiguren, die auch habituell so etwas wie Leit-Typen waren. Aber das ist lange vorbei.
Warum aber jetzt so ein Absturz? Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe. Zum Ersten ist das Folge gerade der „Modernisierung“, der die sozialdemokratischen Parteien in den vergangenen zehn Jahren unterzogen wurden. Flexibilisierung der Arbeitswelt, das Loblied auf die Effizienz freier Märkte und auf den schlanken Staat haben sich auch die Sozialdemokraten antrainiert. Ihr Führungspersonal versuchte „modern“ zu wirken, und das war gestisch oft nicht mehr vom Habitus der globalen „Winner Classes“ zu unterscheiden. Weil die Manager Leitfiguren waren, wollten sozialdemokratische Politiker gerne „Manager der Politik“ sein. Und das war nicht nur Gestik: Sozialdemokratien „verschlankten“ den Sozialstaat, oder, weniger euphemistisch gesagt, boxten Hartz-IV durch und herrschten die Loser mit ihren Parolen vom „Fordern und Fördern“ an. In ihrer Außendarstellung setzten sie lieber auf Werbeagenturen als auf den Aktivismus ihrer altväterlichen Parteigänger. Die Wirtschaftskrise verschlägt deshalb gerade den Sozialdemokraten die Sprache. Plötzlich scheint alles, was sie in den vergangenen zehn Jahren verzapften als hohl, aber sie können deshalb ja auch nicht zum Jargon der Vor-Modernisierungs-Sozialdemokratie zurückkehren. In der Praxis versuchen sie es ein bisschen, was sie erst recht unglaubwürdig macht. Konzise Idee haben sie ohnehin keine. Und das spüren die Leute.
Natürlich gibt es in jedem Fall lokale Spezifika: Nach mehr als 12 Jahren Labour-Regierung ist die britische Sozialdemokratie innerlich aufgezehrt, der tapsige Premier Gordon Brown tut das seinige noch dazu. Die französischen Sozialisten sind ein chronisch zerstrittener Haufen. Österreichs Sozialdemokraten ein Trauerspiel. Aber diese Spezial-Fälle sind nicht nur Fälle für sich, sondern fügen sich in einen allgemeineren, strukturellen Zusammenhang.
Es gibt, dies ist die zweite Spur, einen Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskrise und dem Niedergang der Sozialdemokratie. Das Kernmilieu der klassischen sozialdemokratischen Stammwähler – ohnehin ein schrumpfendes Biotop – wählt diese Partei traditionell, weil es sich von ihr etwas erhofft, und zwar oft weniger im allgemeinen, als sehr persönlich: sicherere Jobs, höhere Löhne, ein belastbares soziales Netz für den Notfall. Im Moment haben diese potentiellen Wähler aber einfach nicht das Gefühl, dass die Sozialdemokraten irgendetwas für sie tun können. Der Wähler weiß in aller Regel: verliert er seinen Job, sind die Sozialdemokraten zwar nicht daran schuld, sie werden daran aber auch nichts ändern, sofern er nicht bei einer großen Autofirma arbeitet. Er kann an einer Stimmabgabe für die Sozialdemokratie daher kaum etwas Nützliches erkennen. Er wendet sich deshalb möglicherweise nicht einmal empört oder sonst wie erschüttert von der Partei ab. Er geht einfach nicht wählen. Bei Europawahlen, deren unmittelbarer Sinn sich nicht so leicht erschließt, erst recht. Man soll deshalb auch nicht unbedingt in Superlative verfallen. Europawahlen sind Europawahlen.
Das dritte Element zur Erklärung dieses Wahlausganges ist die Legitimationskrise des europäischen Einigungsprozesses als solches. Es hat sich offenbar in weiten Kreisen durchgesetzt, dass Europa ein Elitenprojekt sei. Die Mahnungen sozialdemokratischer Politiker, die Europäische Union müsse „sozialer“ werden, bestärkt nur die Gewissheit, dass die Union heute eben „unsozial“ ist. Diese Anti-Europa-Stimmung können die Sozialdemokraten aber unmöglich in Wählerstimmen verwandeln. Während jene, die sich wesentlich als proeuropäisch sehen, für liberale Christdemokraten und zunehmend für die Grünen stimmen, wird der Sozialprotest von Anti-Eliten-Parteien eingesackt, die oft, aber nicht immer sehr weit rechts stehen. Die Sozialdemokraten lavieren dazwischen und werden aufgerieben.
Bei allen lokalen Eigenheiten gibt es heute einen pathologischen „Internationalismus“, etwas, was die zeitgenössischen Sozialdemokraten in Europa eint: Man weiß nicht, wofür sie stehen, weil sie nicht wissen, wofür sie stehen sollen. Die neoliberal gefärbte Modernisierungsideologie funktioniert nicht mehr, eine andere Idee haben sie aber nicht zur Hand. Sie sind unfähig, eine neue zu entwickeln, auch weil sie intellektuell ausgezehrt sind. Nicht zuletzt personell: Als Apparatpartei ist ihre Personalrekrutierung seit sehr langer Zeit schon eine Negativauslese. Noch gibt es zwanzig Prozent, die sie trotzdem wählen. Wären sie auf den Anteil derer angewiesen, die sie nicht trotz ihrer Politik, sondern wegen ihrer Politik wählen, die Fünf-Prozent-Marke wäre wohl eine ernste Hürde.
zur verringerung der linken kernwählerschicht möchte ich präzisieren: nicht nur schrumpft diese, die sozioökonomischen verhältnisse der gesamten gesellschaft wurden verändert: wer ein reihenhaus hat, wählt konservativer. wer ein kind im gymnasium hat, will keine gesamtschule. wer eine pensionsvorsorge hat, will keine vermögenssteuer. wer hofft, dass er von der oma bald ein haus erbt, will keine erbschaftsteuer. und so weiter.
es will ja auch in wirklichkeit die mittelschicht jetzt nach der krise nicht eine große änderung der welt(wirtschaft)… alle wollen, dass es wieder so wird wie vor der krise, weil den meisten ging es eh besser den je. den meisten… und der rest traut sich nichts ändern, weils ja noch schlimmer werden könnt.
lieber gansterer, so ist es.