Der berühmteste Habermas der Welt

Großphilosoph, Aufklärer, streitbarer Geist – eine Instanz. An Jürgen Habermas kleben viele Etiketten. Gerade feierte der berühmteste lebende Philosoph der Welt seinen 85. Geburtstag. profil, Juli 2014
Er ist der berühmteste lebende Philosoph der Welt. Aber damit ist die Bedeutung dieses Mannes noch nicht einmal hinreichend beschrieben. Das muss man erst einmal schaffen im Leben: Dass die Charakterisierung, man sei der berühmteste Philosoph der Welt, noch eine Untertreibung ist. 
Er ist eine Institution, die Personifizierung des öffentlichen Intellektuellen. „Hegel der Bundesrepublik“, hat ihn die Hamburger „Zeit“ einmal genannt, was so viel heißt wie: Weltgeist in Person. Gerade ist er 85 Jahre alt geworden, aber frisch ist er immer noch. „Er sitzt dann bei Konferenzen noch immer bis zwei Uhr nachts in der Kneipe und diskutiert bis zum Abwinken“, erzählt eine Philosophen-Kollegin mit unverhohlener Bewunderung. Im Cafe Laumer im Frankfurter Westend, ein paar Schritte weg von der Goethe-Universität, da, wo schon der legendäre Teddy Adorno seine Torten mampfte und das zeitweise so etwas wie das Wohnzimmer der berühmten Frankfurter Schule war, haben sie längst schon das „Habermas-Frühstück“ auf die Karte gesetzt: Kürbiskernbrötchen, Schinken, Bio-Spiegelei, Bio-Joghurt mit Früchten. 
Dabei ist gar nicht so sicher, wofür Habermas eigentlich so berühmt ist. Für seine Fachphilophie, seine monumentalen Studien über Vernunft, Rechtsphilosophie, für sein Hauptwerk, die Theorie des „kommunikativen Handelns“? Nun, die sind nur für Spezialisten verständlich. Für seinen mittlerweile seit sechzig Jahren dauernden, stetigen Strom an politischen Interventionen in Form von Essays und Artikel, also die Debattenbeiträge des „Bürgers Habermas“? Aber die wuchtigen Kommentare des „Bürgers Habermas“ haben natürlich nur so viel Gewicht, weil sie die Autorität des Großphilosphen im Rücken haben. Wie man es dreht, man dreht sich im Kreis: Habermas ist berühmt dafür, Habermas zu sein.

 
Habermas und die Frankfurter Schule
Um das Phänomen Habermas zu verstehen, muss man mindestens sechzig Jahre zurückblicken. Da tritt der junge Mann in das legendäre Hamburger Institut für Sozialforschung ein und wird Assistent von Theodor W. Adorno, dem genialen jüdischen Philosophen, Ästheten, Schriftsteller. Das Institut, das in den zwanziger und dreißiger Jahren in Frankfurt seine große Zeit hat und um dessen Zentralfiguren, Adorno und dem Institutsdirektor Max Horkheimer, weltbedeutende Denker wie Walter Benjamin, Herbert Marcuse oder Sigfried Kracauer kreisten. Der Geist war unorthodox marxistisch, links und revolutionär. Die Nazi-Herrschaft überdauerte das Institut im amerikanischen Exil, um nach 1945 wieder in die BRD zurück zu übersiedeln. Aber in den fünfziger Jahren waren die tragenden Säulen des Instituts, vor allem der Direktor Max Horkheimer, vorsichtig geworden. Im konservativen Adenauer-Deutschland, das die Vergangenheit vergangen sein lassen wollte, wollte auch Horkheimer nicht allzu sehr anecken. Und dann kam Habermas, der Jungstar. 
Adorno stärkte zwar seinem Assistenten den Rücken, aber Horkheimer war gar nicht begeistert. Der junge Linke Habermas sei „begabt“, aber voller „Eitelkeit“, schimpfte er, und dass Habermas so viel von Marx halte, gefiel ihm gar nicht. Er witzelte über den „dialektischen Herrn H.“. Ganz im Einklang mit dem antikommunistischen Zeitgeist der Nachkriegsjahre im geteilten Deutschland schimpfte Horkheimer, Habermas würde „den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten“. 
Trotz dieser unerfreulichen Episoden legte diese Zeit aber die Basis für Habermas Legende: Er erschien als der Repräsentant einer neuen, jungen Generation in einer großen, alten Tradition. Der, der die Fackel der großen Alten der „Kritischen Theorie“, von Horkheimer und Adorno übernahm. Und wenn das auch nicht ganz falsch war, war es doch ein halbes Missverständnis. 
Habermas – ein Marxist?
Genauso wie die Rede vom „Marxisten Habermas“ mindestens ein halbes Missverständnis war. Als ihn einer seiner Freunde erstmals einen „Neomarxisten“ nannte, war er ehrlich erschrocken – auf die Idee, einer zu sein, wäre er selbst gar nicht gekommen. Auch wenn er sich auf die theoretischen und gesellschaftskritischen Traditionen von Marx positiv bezog, hielt er doch nie etwas von „Glaubensbekenntnissen gegenüber einem Autor, dessen Hauptwerk ein rundes Jahrhundert zurückliegt“. Habermas, Marxist? Naja, kommt eben darauf an, was man unter einem Marxisten versteht.
Habermas war erst ein bürgerlicher Liberaler, der, wie viele junge Leute seiner Generation (Habermas war 15, als der Krieg zu Ende ging), nach dem Schock der Nazi-Jahre Deutschland endlich zu einer aufgeklärten Demokratie machen wollte. Er wurde nach und nach zum Linkssozialisten. Und mit Studentenrevolte und Kulturrevolution der sechziger Jahre wurde er endgültig zu einem Verbündeten der „Neuen Linken“ – aber doch auch zu einem Warner vor überzogenen linken Narreteien. 
Habermas – der Publizist
Ins Getümmel hat sich Habermas immer gerne geworfen und er tut es bis heute gerne. Er sei „nicht ohne polemisches Talent“, sagte er einmal ironisch. Dabei half ihm, dass er eine journalistische Ader hat, die er einige Jahre lang perfektionierte: Bevor er von Adorno seinen ersten Job erhielt, schlug er sich mit Artikelschreiben durch. Dabei lernte er das pointierte Zuspitzen, das Thesen-Produzieren und Schlagzeilen-Dichten. „Der Publizist Habermas hat dem Wissenschaftler Habermas immer wieder zu prägnanten Formulierungen verholfen“, schrieb sein Schüler Detlev Claussen einmal, eine Voraussetzung dafür, in einer „Kommunikationsgesellschaft Öffentlichkeit“ zu erreichen. „Eine Art Schadensabwicklung“, „Entsorgung der Vergangenheit“, „Herrschaftsfreier Diskurs“, „Die neue Unübersichtlichkeit“, „Kolonialisierung der Lebenswelt“, das sind so Habermas-Formeln, die auch deshalb zu geflügelten Worten wurden, weil sie pointierte Titel waren. Der Stil des Autors Habermas ist dabei sicher kunstvoll, aber doch sachlich, fast technisch. Nie war seine Philosophie sprachlich so artistisch wie von Adorno oder so raunend wie die von Heidegger. Eine „Habermas-Sprache“ gibt es nicht. Habermas-Texte sind im engen Sinn daher auch kein „Ereignis“. Beeindruckend, ja, aber nicht überwältigend. 
Habermas und die Neue Linke
In den wilden sechziger Jahren war Habermas jung und alt zugleich. Er war alt – immerhin ging er schon auf die vierzig zu und war bereits allseits respektierter Professor, also in einer anderen Lebenswelt als die rebellierenden Studenten um Rudi Dutschke. Aber er war jung genug, um sich zum Fürsprecher einer „radikalen Demokratisierung“ zu machen und damit auf die Seite der Studentenbewegung zu stellen. Doch als sich die Studentenbewegung radikalisiert, die staatlichen Autoritäten mit Repression reagieren und sich das hochzuschaukeln beginnt, macht Habermas das Angst. 1967 lieferte er sich wenige Tage, nachdem der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten bei einer Demonstration erschossen worden war, ein öffentliches Scharmützel mit Rudi Dutschke bei einer Versammlung. Dutschke plädierte für revolutionäre Zuspitzung, und Habermas warf ihm daraufhin vor, eine „voluntaristische Ideologie“ zu entwickeln. „Ich war schon beim Auto“, erzählte Habermas später, aber es hat in ihm gearbeitet, er ging zurück in den Hörsaal und sagte dann, er halte das für „linken Faschismus“. Später nahm er diese Formulierung zurück, aber der Vorwurf des „Linksfaschismus“ gegen die Provokationsstrategien der radikalen „Neuen Linken“ zog Habermas den Zorn seiner bisherigen Verehrer zu. 
Habermas – der Philosoph
Als Philosoph gilt Habermas in all dieser Zeit als Repräsentant der „Frankfurter Schule“, also der Geistestradition, die von Adorno und Horkheimer begründet worden war, aber er verformt und verändert sie auch zusehends – vielleicht auch zunächst unmerklich. Das dunkle, pessimistische Raunen, das die Welt auf „Verhängnis“ reimte, die Dialektik, die im Guten das Schlechte, im Fortschritt die Barbarei aufspürte, das war nichts für Habermas. Man kann das Theorie nennen oder Philosophie, aber es hat vielleicht mehr mit Mentalität und persönlichen Erfahrungen zu tun. Jede Theorie ist auf eine Emotion gestimmt und diese Emotion hat viel mit der Persönlichkeit ihrer Protagonisten zu tun. Habermas war immer eher habitueller Optimist. Er hat aber auch keine großen Niederlagen einstecken müssen. Er war nie ein Verfolgter, und, trotz seiner Sprachbehinderung (Habermas wurde mit einer Gaumenspalte geboren und ist bis heute schwer verstehbar) nie wirklich ein Außenseiter.
Von seinem Frühwerk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bis zu seiner späten Rechtsphilosophie spürte Habermas immer der Frage nach, wie ein vernünftiges, demokratisches und republikanisches Gemeinwesen strukturiert sein könnte – aber eben unter der Prämisse, dass „mehr Demokratie“ nicht nur ein frommer Wunsch, sondern eine realisierbare Option ist. Viele seiner auch fachphilosophischen Arbeiten, etwa „Wissenschaft und Technik als Ideologie“, lesen sich heute fast fad, aber nicht, weil sie unoriginell sind, sondern weil sie ins allgemein Bekannte, oft sogar ins Alltagswissen eingegangen sind. Dass Technologie nicht neutral oder wertfrei ist, sondern dass ihr Einsatz und Gebrauch durch herrschende Wirtschaftsformen oder auch einfach „Macht“ strukturiert ist, ist heute ja keine besondere Neuigkeit mehr. Aber eben: Nicht zule
tzt dank Habermas. 

Habermas Diskursethik
Heute kleben an vielen seiner Theorien „Etiketten“, wie er das einmal nannte, die auch zu Missverständnissen führen. Das gilt vor allem für seine Kommunikationstheorie mit ihrem Idealbild des „herrschaftsfreien Diskurses“. Gerne ist Habermas‘ Idee der idealen Sprechsituation und des Gebrauchs kommunikativer Vernunft auch missverstanden worden – als irreale, blauäugige Gutmenschenhoffnung. Dabei ist das natürlich alles weitaus raffinierter: Was für die Marxisten „Praxis“, also „Arbeit“ und Interaktion in der Produktion war, ist für Habermas die Kommunikation – der Modus, in der sich Menschen wechselseitig selbst erschaffen und in der sie ihre Gesellschaft erschaffen. Aber in der sprachlichen Verständigung steckt immer die Utopie der Befreiung: Sie setzt immer voraus, dass man zumindest den Eindruck erweckt, dem Anderen zuzuhören und Argumente zu achten. Natürlich kann man auch Unvernünftiges sagen, aber Kommunikation gibt es nicht ohne Vernunft. Wer kommuniziert, muss zumindest den Eindruck erwecken, als akzeptiere er den „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“. Wer sich auf Diskurse einlässt, muss seine Meinungen begründen. 
Der Gesellschaftskritiker, der Mainstream wird
Der Gesellschaftskritiker, der die Chancen sieht, ist in einer seltsamen Position. Deshalb, so schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung vergangene Woche, habe Habermas „auf bewundernswerte Weise in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Dabeisein und Dagegensein kombiniert“. Habermas war nie jemand, der beklagenswerte Zustände bloß wortreich beklagte, sondern einer, der verbesserungswürdige Zustände für verbesserungsfähig hielt. Insofern kritisierte er vieles an der Nachkriegs-Bundesrepublik, wurde aber gerade deshalb ihr vielleicht eminentester Repräsentant. Der Mief der 50er, die autoritären Versuchungen während der Anti-Terror-Stimmung in der Hochphase der RAF-Anschläge, der Wunsch, einen Schlussstrich unter die „Vergangenheitsbewältigung“ zu ziehen – gegen all diese neokonservativen Tendenzen leistete er Widerstand. Über weite Strecken hat er diese Debatten gewonnen. Was aber auch heißt: Ein bisschen ist ihm das Objekt seiner Kritik abhanden gekommen. 
Habermas wurde fast Mainstream – aber weil er den Mainstream mit formte. 
Still und milde ist er deswegen aber nicht geworden: Ein Turbokapitalismus, der neue Verelendung einfach hinnimmt; eine „entgleisende Moderne“, in der sich kaltherzige Technokratenideologie breit macht; eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch Totalökonomisierung; Habermas kritisiert es unermüdlich. Ein vielfältiges, demokratisches und integriertes Europa, also eine EU, die einen Sprung vorwärts vom Staatenbund zum demokratischen postnationalen Gemeinwesen neuer Art machen soll – dafür macht er sich in den letzten Jahren mit Verve stark. „Es ist diese Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht“, hat er einmal gesagt. Jahre später hat er hinzugefügt: „Der Intellektuelle muss sich aufregen können – und soll doch so viel politische Urteilskraft haben, dass er nicht überreagiert.“
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