Der nützliche Staat

Mit Parolen wie „Weniger Staat, mehr Privat“ wird der Staat seit Jahren schlecht geredet. Dabei ist er der wichtigste Motor für Innovation und ökonomische Wettbewerbsfähigkeit. Kompetenz, die Zeitschrift der GPA-DJP, Juni 2015

Nach dreißig Jahren ideologischem Trommelfeuer hat der Staat keinen allzu guten Leumund. Die neoliberale Ideologie hat es geschafft, ihn als bürokratisches Monstrum darzustellen, der „der Wirtschaft“ mit hohen Steuern, unsolidem Wirtschaften und Verschwendung auf der Tasche liegt. Verdichtet hat sich das in der ebenso simplen wie eingängigen Parole: „Weniger Staat, mehr Privat.“

In der populären Boulevardpresse fielen die Anti-Staats-Parolen auf fruchtbaren Boden. Hier werden Politiker und Staatsbeamte gerne als faule Sesselfurzer dargestellt, die „unser Geld“ verbraten. Dass der Staat ja tatsächlich vielen Bürgern oft als bürokratisches Monstrum entgegentritt, in dessen Netz man sich verheddert oder dem man bisweilen in Gestalt unwirscher Beamter oder Polizisten begegnet, hat es sicherlich auch erleichtert, ihn in schlechtes Licht zu rücken.

Dabei ist all das ziemlich absurd, bedenkt man, dass Manager von Banken und Unternehmen sofort nach dem Staat rufen, wenn ihnen das Wasser bis an den Hals steht. Dann wird nicht nur ganz egoistisch der Steuerzahler dafür eingespannt, den eigenen Managerjob und das betreffende Unternehmen zu retten, das ganze wird dann meist auch wirtschafttheoretisch aufpoliert: Der Staat habe, im Notfall, eben die Aufgabe ökonomische Stabilität zu garantieren, weshalb etwa Banken, deren Zusammenbruch eine wirtschaftliche Katastrophe auslösen würde, eben gerettet werden müssten. Und in der Krise habe der Staat ganz generell die Aufgabe, einen Totalabsturz der Konjunktur zu verhindern. Im Notfall, was soviel heißt wie: jenseits des Normalfalls, wird selbst der ärgste Neoliberale noch zum Staatsfan. „Wir sind alle Keynesianer, wenn wir im Erdloch sitzen“, sagte etwa Nobelpreisträger Robert Lucas, einer der führenden neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler am Höhepunkt der Finanzkrise, in Anspielung an die Wirtschaftstheorie John Maynard Keynes, die die Bedeutung des Staates im Wirtschaftsleben betont und die jahrzehntelang totgesagt wurde. Soll heißen: In normalen Zeiten solle der Staat, schön verschlankt und möglichst passiv, am Rande stehen, aber bereit sein, im Katastrophenfall einzuspringen.

Dabei ist der simple Lehrsatz „Die Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht“ – also, dass letztendlich allein und vor allem privatwirtschaftliche Unternehmen für Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Innovation sorgen – auch in scheinbar normalen Zeiten falsch. Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass es vor allem geniale Tüftler in irgendwelchen Start-Ups sind – Computerbastler wie Bill Gates in ihren legendären Garagen, in denen sie innovative Unternehmen gründen, die dann zu Weltmarktführern werden -, die ökonomische Ideen austüfteln, die zu Wachstum führen.

Mariana Mazzucato, eine in Großbritannien forschende Ökonomin, wurde nun zum neuen Star der Wirtschaftswissenschaften, indem sie genau und detailreich zeigte, wie falsch dieses Bild ist. Selbst für den eigentlichen Kern des Wirtschaftens – also die Entwicklung neuer Produkte und revolutionärer Innovationen -, treffe das nicht zu, so Mazzucato. Auch wenn wir heute darauf gedrillt sind, den Staat als „träge“ und „schwerfällig“ anzusehen, die Unternehmen dagegen als „wettbewerbsfähig“ und „innovativ“, so sei nicht falscher als das.

blogwertDie ganze Geschichte der großen Innovationen, von der Eisenbahn-Revolution bis zur Energiegewinnung, von der Atomenergie bis zur massiven Ausbeutung der Wasserkraft zeigt nachdrücklich: die massive Mobilisierung von Ressourcen, ganz zu schweigen von der vorangehenden Grundlagenforschung, wurde vom Staat geleistet, und in diesem innovativen Gärhaus ist die profitable Anwendung durch Privatfirmen am Ende nur mehr der Bubble obendrauf.

Und das gilt erst recht für die großen Innovationen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart wie Computertechnologie, Internet, Pharmarevolution, Nanotechnologie, Raumfahrt. Das hat auch einen systemischen Grund, so Mazzucato: große technologische Revolutionen verschlingen zunächst einmal ungeheuer viel Kapital, ob daraus aber irgendwann einmal Renditen entspringen ist dagegen meist unklar. Für private Investoren ist das viel zu riskant, ein solches Großrisiko kann nur der Staat tragen. Nicht der Staat ist träge und die Unternehmen unternehmerisch, das Gegenteil ist der Fall: Die Unternehmen sind viel zu vorsichtig, solche Risiken übernimmt nur der Staat, der viel „tollkühner“ ist als Unternehmen, die meist schon die Rendite im nächsten Quartal im Auge haben: „Selbst in Boomphasen gibt es viele risikobehaftete Bereiche, vor denen Privatunternehmen zurückscheuen, in denen jedoch der Staat als Pionier vorangeht.“

Mazzucatos nachdrückliche Botschaft: Vergesst die Start-Ups! Ihre Rolle wird systematisch übertrieben!

Exemplarisch für all das ist die Firma Apple, der sich Mazzucato detailliert widmet, nicht weil sie Apple nicht mögen würde, sondern weil die Firma als Paradefall des innovativen Genies freien Unternehmertums gilt. Dabei ist eher das exakte Gegenteil der Fall. „Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde.“ Die Computertechnologie wurde in Labors gemeinsamer staatlicher und privater Forschungen in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt. Mikroprozessoren, Halbleitertechnik, alles beruht auf staatlicher Grundlagenforschung und staatlich orchestrierter Innovation. Das Internet entsprang ohnehin, wie jeder weiß, einem Megaprojekt des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Der Touchscreen wurde wesentlich in britischen Labors entwickelt, die sich verteidigungsrelevanten Technologien widmeten. GPS-Satellitentechnologie, usw, die Liste ließe sich fortsetzen. Die private unternehmerische Leistung liegt allenfalls in der finalen Bastelei und im genialen Design – und natürlich im Marketing, das uns einredet, dass wir ohne all diese Dinge nicht mehr überleben könnten.

Obwohl all diese Fakten für jeden bekannt sind (oder zumindest bekannt sein könnten), haben wir fast alle ein falsches Bild vom Staat und von Unternehmen im Kopf, das nichts als die Folge ideologischer Verblendung ist. Ein erfolgreicher, innovativer Kapitalismus brauchte immer einen starken, aktivistischen Staat, und je komplexer die Aufgaben und die Gesellschaften, umso mehr. Nicht der Staat ist innovativ und auch nicht die Unternehmen, sondern eine Kombination von staatlichem und unternehmerischen Aktivismus. Und dafür braucht es eben gute Unternehmen und einen klug agierenden, finanziell gut ausgestatteten Staat.

Es hat natürlich einen ziemlich simplen Grund, warum Unternehmen, die ihren wirtschaftlichen Erfolg dem Staat verdanken, uns glauben machen wollen, dieser sei primär Folge ihrer ökonomischen Brillanz: Es legitimiert ihre Versuche, ein möglichst großes Stück des Reichtums in ihre Taschen zu wirtschaften. Es sind ja gerade jene Unternehmen, die extrem von der staatlichen Forschung und Innovation, aber auch von der staatlichen Ausbildung ihrer Fachkräfte profitieren, die dann ihre Unternehmenssitze in Steueroasen verlegen. Diese völlig legale Form des Steuerbetruges führt beispielsweise dazu, dass ein Multi wie Amazon trotz eines Umsatzes von 8,7 Milliarden Euro in Deutschland gerade einmal 3,2 Millionen an Steuern bezahlt. Wieviel die raffinierten Geldverschiebungsaktionen großer Multis insgesamt global kosten, ist nach den Worten des Wirtschaftsforschers Gabriel Zucman, der sich detailliert mit Steuervermeidung auseinander gesetzt hat, “schwer abzuschätzen, aber der Schaden ist sicherlich ein Mehrfaches dessen, was die private Steuerflucht verursacht” – und schon die kostet die Staaten 130 Milliarden Euro jährlich.

Die Legitimierung solcher Praktiken setzt aber eine ideologische Operation voraus, die die Realität quasi auf den Kopf stellt: Man macht uns glauben, der Reichtum werde von privatwirtschaftlichen Unternehmen produziert und dann ungerechtfertigterweise vom Staat via Steuern angeeignet – in Wirklichkeit ist es aber natürlich so, dass der Reichtum gesellschaftlich produziert wird und dann privat, etwa von Unternehmensbesitzern, Managern oder Aktionären angeeignet wird.

Übrigens ist die Befürwortung von Niedrigsteuerpolitik für Unternehmen nicht der einzige egoistische Grund, warum die Profiteure des Neoliberalismus den Staat schlecht reden. Zweiter Grund: Es sollen Privatisierungen durchgesetzt werden, bei denen öffentliche Werte zum Schleuderpreis in private Taschen wandern, und die in der Regel hochkorrupte Vorgänge sind, regelrechte Raubzüge, bei denen sich dann neoliberale Politiker und das „Big Business“ die Beute teilen. All das wird im Hintergrund abgewickelt, während man uns auf der Vorderbühne das schöne Lied singt, dass der Staat nicht wirtschaften könne und es viel effizienter zugehe, wenn Unternehmen in privater Hand sind. „Effizient“ ist das meist nur für die Grassers und Co.

Das Verhältnis von Staat und großen Unternehmen sollte symbiotisch sein, wird aber zunehmend parasitär. Apple, aber auch große Pharmakonzerne und andere Technikriesen verwandeln Forschung und technologische Innovationen, die mit Steuergeld vorangetrieben wurden, in private Gewinne, erzählen denselben Steuerzahlern aber dann, „Innovation und Wirtschaftswachstum seien dem Genie einzelner zu verdanken“ (Mazzucato) und organisieren ihre globale Produktion so, dass ihre Gewinne nur mehr in Steuerparadiesen anfallen. Gerade das Verschweigen der wirklichen Innovationsgeschichte, so Mazzucato, half dabei, „dem Staat, der mit seinem Geld ganz wesentlichen zum Erfolg beitrug, einen Teil seiner Gewinne vorzuenthalten.“

Der Staat wird chronisch schlechtgeredet, hat aber eine wesentliche Bedeutung für den Erfolg von Unternehmen. Auf ganz direkte Weise, indem er die Grundlagenforschung für Innovation betreibt, in denen er praktisch alle Bestandteile der Produkte entwickelt, die die Unternehmen dann nur mehr kombinieren müssen. Aber er hat natürlich noch auf andere, indirektere Weise eine Bedeutung. Nicht nur sorgt er für die Infrastruktur, die die Unternehmen brauchen (ein Unternehmer könnte mit seinen Produkten nicht viel anfangen ohne Straßen, auf denen er sie zu seinen Kunden bringt), oder für gute Schulen, die aus Sicht von Unternehmen eine „Investition in Humankapital“ sind, die sie nicht selbst bezahlen müssen.

Er sorgt mit den vielen anderen Aufgaben, die er erledigt, auch für ein gutes Konsumklima. Eine Sozialpolitik, die beispielsweise dafür sorgt, dass Bezieher unterer und mittlerer Einkommen durch Umverteilung einen etwas größeren Teil vom Kuchen bekommen, stabilisiert die Konsumnachfrage, weil diese gesellschaftlichen Gruppen einen größeren Teil ihres Einkommens konsumieren als die Spitzenverdiener (aus dem selben Grund haben übrigens auch starke Gewerkschaften eine ökonomisch nützliche Funktion). Ähnliches gilt für möglichst großzügige Arbeitslosenunterstützung oder staatliche Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit (etwa Finanzierung von Kurzarbeit im Krisenfall) – all das verhindert, dass jede Delle in der Konjunktur sofort auf die Kaufkraft durchschlägt, was ja die Krise nur verstärken würde.

Aus all diesen Gründen wäre es Unsinn, den Staat zu „verschlanken“ – und es ist in entwickelten Ökonomien in der Realität auch gar nicht möglich. So lag die Staatsquote – also die Summe aller Zahlungen in einer Gesellschaft, die quasi „durch die Hand des Staates“ gehen -, in den USA zuletzt bei Rund 38 Prozent, in Deutschland bei 44 Prozent, in Österreich bei etwa 50 Prozent, in der Schweiz bei rund 34 Prozent und in Großbritannien bei 45 Prozent. Selbst diese Unterschiede sind eher Ausdruck statistischer Täuschung: Da in den USA und der Schweiz etwa das Gesundheitswesen privatwirtschaftlich organisiert ist, wird es nicht zur Staatsquote dazugerechnet. Zählt man dessen Kosten hinzu, kommt man auf einen ähnlichen Wert wie in Deutschland oder Österreich, also von rund 45 bis 50 Prozent. Staaten mit niedrigerer Staatsquote sind dagegen eher nicht unter den erfolgreichen Nationen zu finden – extrem „verschlankte“ Staaten sind etwa der Sudan mit 12 Prozent oder Uganda mit 18 Prozent. Wer findet, dass der Staat sich aus der Wirtschaft raushalten soll, der kann ja einmal die Probe auf’s Exempel machen und für ein paar Monate in einen solchen Staat übersiedeln.

Der Staat verhindert, dass der Einzelne dem rauen Wind des Marktes völlig ungeschützt ausgesetzt ist. Der Staat kann, wenn er zum Autoritären oder auch nur zur Bürokratisierung tendiert, gewiss eine Gefahr für die Freiheit sein, als demokratischer Rechtsstaat ist er aber auch die einzige bisher gefundene Garantie der Freiheit.

5 Gedanken zu „Der nützliche Staat“

  1. Das ist alles richtig, was Sie schreiben, Herr Misik, ABER die genannten interessierten Kreise (neoliberale Politiker und „Big Business“) machen sich JETZT die Taschen voll. Dass sie durch einen radikalen Rückschnitt des Staates künftige Innovationen verhindern, ist diesen Menschen egal, weil es sie nicht interessiert, was in der Zukunft liegt, genauso wenig wie es sie interessiert, ob in Griechenland Menschen hungern oder sterben, ob der Planet irreparabel geschädigt wird oder ob ein Atomkraftwerk explodiert. Das Motto lautet: „Nach mir die Sintflut“. Diese Leute sind so egoman wie ein 2jähriges Kind. Ich halte weite Teile der Politik und des „Big Business“ für Psychopathen im psychiatrischen Sinne (darüber gab es ja auch schon Studien) und darum glaube ich nicht, dass – zweifellos vernünftige – Appelle an diese Menschen überhaupt sinnvoll sind. Wir sollten anfangen zu planen, wie die Welt ohne Beteiligung dieser Menschen aussehen könnte (womit ich nicht die 1789er Lösung meine, sondern eher „wir spielen nicht mehr mit“). Ich glaube passiver Widerstand (Verweigerung) in diesem System in Verbindung mit der Entwicklung alternativer Lebensmodelle könnte eine Lösung sein. Die alternative Lösung wäre ein Strick, angesichts der scheinbaren Übermacht „des Bösen“, aber wie schrieb schon Erich Kästner:“…..bleib am Leben, sie zu ärgern!“

  2. Danke, der Artikel ist so wahr, wie er nutzlos ist. Die neoliberale Marktpolitik ist entfesselt und solange sie nicht wieder eingehegt wird, ist mit einer Besserung nicht zu rechnen.

    Journalisten wie Sie, sind in den Medien rar, zu rar, leider. In der Politik findet sich nahezu niemand, der so etwas wie Sie überhaupt nur auszudrücken wagen würde, außer natürlich Politiker der radikalen Linken und die sind ja schon von ihrer Positionierung her in den Medien diskreditiert, bevor sie überhaupt den Mund aufmachen, auch das, leider!

    Trotzdem danke für Ihren Einsatz!

  3. Noch etwas,

    ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Artikel zum download z.B. im PDF-Format anbieten würden, man könnte sie dann in die eigene Argumentation einbetten.

    mfg
    Iannis70

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