Das fiese Märchen von den „zwei Extremen“

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz.

Es wird ja langsam nicht nur unter Rechtsradikalen oder am Krawallboulevard „in“, das Wort „Willkommenskultur“ ins Lächerliche zu ziehen, auch in der politischen Mitte oder, sagen wir ganz simpel, unter „normalen Leuten“, zieht das schon Kreise – dass „Willkommen“ zu sagen, Schutzsuchenden, Frierenden und Erschöpften hilfsbereit und freundlich entgegen zu treten, bestenfalls eine gefährliche Naivität sei, schlimmstenfalls eine verdammenswerte Naivität. Was sagt es eigentlich über eine Gesellschaft und einen Zeitgeist aus, wenn für nicht unerhebliche Bevölkerungsgruppen das Wort „Willkommen“ ein schmutziges Wort wird? Wenn „Willkommen“ verlacht, und dafür eine „Schleichts-Euch!“-Kultur hochgehalten wird?

Scheinbar freundlicher und neutraler, in Wirklichkeit ebenso mies ist die heute gern verbreitete rhetorische Operation, zu behaupten, es gäbe „zwei Extreme“, die „Ausländer raus“-Seite und die „Alle-Ausländer-sind-lieb“-Seite und die vernünftige Position wäre gewissermaßen in der Mitte, nur leider, in unserer hysterischen Zeit bleibt die vernünftige Mittelposition unerfreulicherweise auf der Strecke.

Selbst wenn es die naive Gutmenschenposition tatsächlich gäbe, fragt sich ja, wodurch sie es verdient hätte, mit der rabiaten Bösmenschenposition als gleichermaßen „extrem“ verbunden oder gleichgesetzt zu werden.

blogwertUnnötig dazu zu sagen, dass die meisten Leute, die diese These vertreten, sich selbst auf dieser angeblich vereinsamten Mittelposition verorten, und darüber hinaus primär der Meinung sind, dass das mit den vielen Ausländern schon ein Problem sei. Es ist ihnen nur etwas peinlich, sich direkt auf die schmuddelige „Ausländer-Raus“-Seite zu schlagen, wo man ja in Nachbarschaft zu NPD und AfD geriete.

Zu dieser rhetorischen Operation gehört natürlich dazu, sich „Extrempositionen“ mit der Axt zurechtzuhauen, damit man sich dann schön ein heroischen „Tertium datur“, es muss ein Drittes geben, basteln kann. Dabei zeugt es schon selbst von ziemlich miesen Reflexen, die „Ausländer-Raus“ und die „Man-soll-Schutzsuchenden-helfen“-Position als „Extreme“ gleichzusetzen; selbst wenn es die naive Gutmenschenposition tatsächlich gäbe, fragt sich ja, wodurch sie es verdient hätte, mit der rabiaten Bösmenschenposition als gleichermaßen „extrem“ verbunden oder gleichgesetzt zu werden. Aber, abgesehen davon: Wer genau soll das denn sein, der meint, das die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtligen einfach, die Integration ein Kinderspiel und alle Migranten ausnahmslos superliebe Leute seien?

In Wahrheit ist es ja natürlich so, dass es vor allem die positiv und freundlich gesinnten Leute sind, die alle Aspekte und die verschiedensten Seiten der Sache sehen, während die Panikschürer und diejenigen, die die Panikschürer in hysterische Angst hineinagitieren, in völlig bizarres Schwarzsehen hineingeraten. Nicht wenige Leute sehen heute in jedem 20-30jährigen, der aus Gegenden südlich von Bayern stammt, schon einen Vergewaltiger, Grapscher oder Räuber. Außer, sie begegnen einem solchen Mann im Baumarkt – dann halten sie ihn für einen Bombenbauer. Ja, nicht nur xenophobe Irre, auch ansonsten recht normale Menschen glauben das wirklich! Und diese Leute nennen andere naiv ?!?!?

Sagen und sehen was ist, die Wirklichkeit wahrnehmen, das verlangt natürlich, das soll man freilich nie vergessen, die Dinge von verschiedenen Seiten zu sehen. In den letzten Wochen habe ich mich in die Schriften und Lebensdokumente von Victor Adler hineingegraben, den großen österreichischen Sozialistenführer des 19. Jahrhunderts, der als „Bremser“ und „Gemäßigter“ berüchtigt war und schrieb: „Wahr ist allerdings, dass ich mich bemühe, bei allen Dingen beide Seiten zu sehen.“ Natürlich können einen da schon auch die Versimpelungen, das Parolenhafte der eigenen Seite auf die Nerven gehen, die Kompexitätsreduktion, die jeder betreibt, der in einer kommunikativen Auseinandersetzung mit einer Gegenposition steht. Adler berichtet amüsiert an seinen Freund Karl Kautsky, dass er jüngst zehn Vorträge über sozialistische Programmatik gehalten habe „und ein gescheiter Genosse sagte mir: Ja, Sie reden ja nicht über sondern gegen das Programm! Es waren nämlich intelligente Leute da und da habe ich mich in die Wut hineingeredet, einige von unseren Sätzen als Generalisierungen aufzuzeigen und ihnen zu zeigen, dass die Sachen nicht so sind wie bei der Äpfelfrau… Und schlechtere Sozialdemokraten sind wir alle nicht geworden!

Adler hatte also nicht nur die Weisheit, zu wissen, dass die eigenen Parolen manchmal etwas allzu Grobschlächtiges haben, sondern das auch noch offen vor den eigenen Genossen und Genossinnen auszubreiten und ihnen damit ein Denken in der Ambivalenz beizubringen.

Das gefällt mir: Ich, zum Beispiel, vertrete ja ganz extreme Ansichten, aber auf moderate Weise.

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