Die neue Gründerzeit

Wien wächst rasant und baut ganze Stadtteile. Der modernistische Stil wird das Gesicht der Stadt prägen. Aber es bräuchte mehr vom sozialen Wohnbau und weniger Betongold für Investoren.

Die Zeit, Juli 2022

Frühaufsteher stapfen durch das taufeuchte Gras am Helmut-Zilk-Park, an dessen Rändern phantastische wilde Blumenwiesen wuchern dürfen. Bei „Bio-Mio“, dem kleinen Laden neben dem Vintage-Sessel-Geschäft steht das Gemüse auf dem Trottoir, dazu Kartoffel, verschiedene alten Sorten, nicht so industriell gezüchtet wie die im Supermarkt. Fruchtsäfte gibt es, Hartwurst, Bio-Brot und manchmal auch Forellen direkt aus dem Waldviertel. Ein paar Meter weiter bringt eine junge Frau einen alten Liegestuhl in Schuss. „Das hier ist das Dorf“, lacht sie, „und das da drüben ist die Stadt“. Sie zeigt auf die andere Seite des Viertels mit den großen Genossenschaftsbauten, die wiederum an die historischen Armen- und Arbeiterviertel von Innerfavoriten grenzen.

Das „Sonnwendviertel Ost“ – „das Dorf“ – ist am Fertigwerden, einzelne Häuser stehen noch im Rohbau. Hier stehen „Quartiershäuser“ mit variantenreichen Stilsprachen. Keine großen Wohnblocks für den Massenwohnbau. In den Untergeschoßen wird nicht gewohnt, stattdessen gibt es Platz für Läden, Supermärkte, den Greißler, das Buchgeschäft. Und für Restaurants und Cafes. Das etwas ältere „Sonnwendviertel West“ – „die Stadt“ – auf der anderen Seite des Parks besteht vor allem aus größeren Wohnblöcken, mit begrünten Innenhöfen, angelehnt an den architektonischen Spirit des Gemeindebaus des Roten Wiens, Ruheoasen nach Innen, Spielplätze, Gemeinschaftsräume.

Das Areal auf den früheren Gründen der ÖBB rund um den ehemaligen Südbahnhof ist eines der großen Stadtentwicklungsgebiete von Wien. Es liegt am unteren Zipfel von Favoriten, grenzt an den vierten und dritten Bezirk. Das „Zwanzigerhaus“ (heute heißt das Kunstmuseum offiziell „Belvedere 21“) ist nur ein paar Gehminuten entfernt. Das Denkmal der Moderne passt gut zur neuen Nachbarschaft.

Wien erlebt eine neue Gründerzeit. 13.000 Menschen werden im Sonnwendviertel wohnen. Das Nordbahnviertel in der Leopoldstadt wird für 20.000 Menschen Wohnraum bieten. Das Nordwestbahnviertel auf der anderen Seite der Bahngleise in der Brigittenau – dem 20. Bezirk – noch einmal soviel. In der Seestadt in Aspern – am ehemaligen Flugfeld, das später als Rennstrecke benützt wurde – wächst eine Stadt in der Stadt mit 26.000 Einwohnern. Dazu noch viele, nur unwesentlich kleinere Neubaugebiete: Die Wildgartensieldung in Meidling, Neu-Leopoldau in Floridsdorf draußen bei der Siemensstraße. Und und und.

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Wien wächst. Wien baut. Wien entwickelt aber auch eine neue städtebauliche Handschrift. Bald wird das für die Stadt so prägend sein, wie die beiden Baubooms der Geschichte: Die Gründerzeit ab etwa 1870 und der Gemeindebau-Kraftakt der 1920er Jahre.

Im Wohnblock Ecke Sonnwendgasse / Alfred-Adler-Gasse bilden vier verschiedene Bauteile ein Karree. Drei laufen wie ein breites, eckiges U. Die Fassaden sind unterschiedlich. Die Bewohner haben moderne Wohnungen und die meisten einen Balkon in den Hof. Unten spielen die Kinder, es gibt eine Sandkiste, Sportgeräte. Drei rote Bauten schließen das U halb ab, lassen aber auch Durchgangsraum und ein Gefühl von Offenheit. Es gibt einen Billardtisch, Kletterräume für die Kids, eine Gemeinschaftsterrasse am Dach, sogar ein Haus-Kino. Und ein Schwimmbad im Untergeschoß. Spektakuläre gelbe Brücken verbinden die Blöcke.

Eine Gemeinschaftsküche gibt es auch. Auf der Wiese steht ein Tisch, der so lang ist, dass selbst Wladimir Putin neidisch würde. Und ein Gemeinschaftsgrill. „Ich wohn da oben“, erzählt ein Anwohner. Professor an der Central European University sei er, berichtet er, die gleich um die Ecke in eine der verrufensten Gegend von Favoriten eingezogen ist. Ein anderer isst seinen mitgebrachten Salat aus der Tupper-Ware: „Früher wohnte ich im Altbau“, sagt er. „Die Miete hätte ich mir jetzt in der Pension nicht mehr leisten können.“

Hier wohnen Mittelschicht, Familien mit kleinem Budget, aber auch die Wohlhabenden der oberen Mittelschicht. Sozialwohnungen gibt es auch. Im Wesentlichen ist das hier gemeinnützige Genossenschaft. Drüben, „im Dorf“, ist die Struktur der Bauträger eine andere. Hier gibt es Baugruppen, Kollektiv- und Sozialprojekte, Studentenheime, aber auch die Investorentürme im frei finanzierten Wohnbau, in denen man für eine 60-Quadratmeter-Wohnung leicht 1000 Euro Miete bezahlt. Auch Wohntürme für das noble Wohnen gibt es, mit Pool vor der Tür und Zaun rundherum. „Gated Community“, schimpfen die Anrainer den Block. Drinnen liegen die Wohlstandslagen auf der Sonnenterasse am Pool, auf der anderen Seite des Zauns spielen die Migrantenkinder am Spielplatz. Der Zaun tut weh.

Vom Praterstern geht die Nordwestbahnstraße ab. Der Bahntrasse entlang ist schäbiges Gewerbegebiet. Demnächst wird auch hier zu bauen begonnen. In einer Industriehalle ist die Präsentation der IBA, der „Internationalen Bauausstellung“ untergebracht. Kurt Hofstetter ist eigentlich Landschaftsplaner, selbst wohnt er in der Seestadt, wo er jeden Tag nach dem Aufstehen sofort auf seinen Balkon rausgehen kann und ein Gefühl von Freiheit bekommt. Die IBAs sind nicht einfach „Ausstellungen“. So wurde vor knapp hundert Jahren in Stuttgart etwa die Weißenhofsiedlung errichtet, allesamt Signalbauten der Baukunst. Ludwig Mies van der Rohe war damals der Leiter, Le Corbusier, Walter Gropius bauten Siedlungshäuser, auch Konstruktivisten-Weltstars wie El Lissitzky waren beteiligt. Manche IBAs waren Laboratorien des Städtebaus.

Mit den Gemeindebauten und Siedlungen wie Adolf Loos‘ Heubergsiedlung hat Wien international Maßstäbe gesetzt, aber auch einen Geist entwickelt. Für diesen müssen neue Formensprachen gefunden werden, sagt IBA-Leiter Hofstetter, und öko- und klimagerechte Bauweisen. Auch neue Arten von Gemeinschaftlichkeit für die solidarische Stadt. „Die Haltung bewahren, aber die Methoden anpassen“, nennt er dieses Prinzip. „Viele Städte merken, wenn das Wohnen in der Stadt nicht mehr leistbar ist, dann gibt es keine Arbeitskräfte mehr für, beispielsweise, die Pflege.“ In den großen Metropolen gibt es einen Kampf um die Stadt: Die normalen Leute werden verdrängt.

Die Projekte der Wiener IBA 2022 wollen soziales und leistbares Wohnen mit der Dekarbonisierung und der klimafitten Stadt verbinden. Die Triesterstraße raus, bergauf, bis es wieder bergab geht: Da liegt das gigantische Grünareal des Wienerbergs. Vor 150 Jahren haben hier die Ziegelarbeiter gerackert, die die Ziegel für die Ringstraße und den Gründerzeitboom aus der Erde holten. Am Rand ist jetzt die Biotope-City entstanden. Der Architekt Harry Glück hat bis zu seinem 91. Lebensjahr mitentworfen, der sein Leben lang den Typus des neuen, modernen Gemeindebaus entwickelte, mit viel grün, mit Aufenthaltsqualität, mit einem Luxus, der dann am Ende dazu führt, dass Wohlhabende nicht ausziehen – und es so eine soziale Mischung gibt, keine Ghettos. Von den 900 Wohnungen hier sind 600 verschiedene Kategorien von gefördertem Wohnbau. Oben am Dach ist ein Pool.

Ein anderes Projekt ist die Siedlung MGG-22 in Stadlau. Hier ist alles etwas kleiner. Manche Wohnhäuser sind angelegt wie etwas größere Mehrparteienhäuser. Ineinander verschachtelt wie Pueblos, so entstehen kubenförmige Durchgänge. Am Rand der Siedlung ist eine Koppel, in der stoisch ein Pferd grast. Am anderen Ende ist ein großes Urban-Gardening-Feld. Von dort geht es direkt in das Dickicht der Lobau. Die Wände können die Wärme speichern, um im Winter wenig Energie zu verbrauchen, und die Kühle, um im Sommer zu klimatisieren. Der Strom kommt ausschließlich aus Windenergie aus dem Burgenland. Die geometrischen Anlagen lehnen sich stark an die modernistische Tradition des „internationalen Style“ an, oft etwas salopp „Bauhausstil“ genannt.

Es ist die dominante Formensprache der neuen Wohngebiete. Die Neubauten haben wieder eine Ästhetik. „Neue Gründerzeit“, das ist nicht nur eine Metapher auf die schiere Menge, die gebaut wird – auch ein neuer Modernismus prägt das Stadtbild.

Die Fassaden sprechen nicht, man muss die Bauten lesen lernen. Wien hat ein komplexes System von Widmung, von Vergabe, von Förderungen. Es gibt die Gemeindebauten, von denen jetzt endlich wieder mehr gebaut werden. Es gibt die gemeinnützigen Genossenschaften, wo die Mieten niedrig sind, man aber einen Errichtungsbeitrag bezahlen muss. Es gibt die geförderten Wohnbauten, bei denen die Miete maßvoll gehalten wird, aber nach rund 20 Jahren – wenn die Förderperiode ausläuft – steigt. Und dann gibt es die freifinanzierten Wohnbauten, ein Markt, auf dem große Konzerne und internationale Spekulanten und Anleger umrühren, sich in den großen Planungsgebieten auch an Vorgaben anpassen müssen, die aber auch die Bodenpreise hochtreiben.

Ein Mix, der immer umkämpft ist. Die irrsinnigen Finanzrallyes auf den Immobilienmärkten lassen die Grundstückspreise in den Himmel schießen. Von den knapp 900.000 Wohnungen in Wien sind etwa die Hälfte entweder im Gemeindebau oder im gemeinnützigen, geförderten Wohnbau. Um rund 300.000 Einwohner ist Wien in den vergangenen 15 Jahren gewachsen. Beinahe 200.000 Wohnungen werden pro Jahrzehnt gebaut. Zum Vergleich: das ist etwa eine Stadt wie Graz, die zusätzlich hinzukommt. Gemeindebau, Genossenschaftswohnbau und Investorenprojekte für Reiche oder Anleger stehen dicht nebeneinander.

Gabu Heindl ist Architektin, Architekturtheoretikern und eine scharfsinnige Kritikerin einer neoliberalen Betongold-Kultur, die dazu führt, dass Investoren die Stadt als Beute übernehmen können. „Es entsteht nicht nur bezahlbarer Wohnraum“, sagt sie. In Wien hat sie ein Architekturbüro, in Nürnberg ist sie Professorin, gerade ist sie dabei, an die Uni Kassel zu wechseln. „Und weil es zu wenig gibt, gibt es einen Verteilungskampf. Nicht jeder hat Zugang, nicht jeder und jede weiß, wie man zu diesem Wohnraum kommt.“ Die Stadt ist nicht hart genug beim Durchsetzen sozialer Ziele. „Wenn man, wie Wien, ein Beispiel für die Welt sein will, dann darf man die Böden nicht an Investoren verkaufen.“

Häuser kann man bauen, Grund aber nicht vermehren. Wien hat Ende 2018 eine Art Gesetz erlassen, das die Spielregeln massiv ändert. Mit der „Widmungskategorie sozialer Wohnbau“ ist nun fixiert, dass jede neue Baulandwidmung für größere Anlagen zu zwei Drittel geförderten, ergo leistbaren Wohnraum garantieren muss. Die Regel ist so neu, dass man noch nicht genau weiß, wie revolutionär die Wirkung sein wird – denn viele Neubauprojekte wurden ja schon vorher gewidmet, die merkbare Wirkung ist daher erst verzögert.

„Es ist absolut irre. Die Preise sind total jenseits“, sagt Thomas Ritt, der Wohnbauexperte der Wiener Arbeiterkammer – er meint die Bodenpreise, die man bezahlen muss, um überhaupt bauen zu können. Die Nationalbank hält den Immobilienmarkt in Wien schon um 40 Prozent überbewertet. Eine brandaktuelle Studie der Arbeiterkammer hat alarmierende Zahlen zutage befördert. Zwischen 2018 und 2021 sind in Wien 58.000 neue Wohnungen entstanden. In dieser Zeit gab es aber nur ein Bevölkerungsplus von 43.000 Einwohnern. Dennoch steigen die Preise und Mieten rasant weiter. Und: Nur 34 Prozent seien geförderte oder gemeinnützige Bauten. Der Rest ist reiner kommerzieller Wohnungsmarkt. Ritt: „Früher war das Verhältnis umgekehrt.“

Gerhard Schuster steht im Präsentationsraum der Wien 3420 Developement AG. Die hat, salopp gesprochen, die Oberhoheit über die Seestadt-Aspern, vergibt die Grundstücke an die Bauträger, kümmert sich um die stadtplanerischen Aufgaben. Das große Modell im Präsentationsraum zeigt, wie es hier einmal aussehen soll, wenn die futuristische Stadt fertig ist. Am Platz davor stehen ein paar Platanen, die traurig die Blätter hängen lassen. „Die wurden gerade gepflanzt. Die sind 30 Jahre alt, die mussten wir aus Deutschland und Holland herbeischaffen“, lacht er. „Denn so viele große Bäume gibt es gar nicht in österreichischen Baumschulen“. Bald werden sie dichtes Blattwerk haben und Schatten spenden.

Die Platanen sind schon fast so etwas wie eine Metapher. Als die ersten Bewohner hier einzogen, stapften sie noch durch den Morast der Baustellen. Viele waren danach unzufrieden, dass es für Autos keine Stellplätze auf den Straßen gab. Ein paar Jahre später klagen die Leute nicht über zuwenig Asphalt, sondern über zu viel – und über zu wenig Grünraum. Jetzt riss man die Versiegelung wieder auf, damit im Sommer die Hitzeinseln nicht zu glühen beginnen. Bloß: Bäume brauchen 50 Jahre, bis sie wirklich groß sind.

„Es ist hier schon sehr merkbar verkehrsberuhigt, die Kinder können in den Höfen herumtollen, sie können einander abholen – gerade während der Corona-Monate war das super“, sagt eine Bewohnerin. Die alleinerziehende Mutter ist vor ein paar Jahren hergezogen. „Die Wohnzufriedenheit hängt aber sehr davon ab, welchen Bauträger man erwischt hat.“ Autoverkehr ist stark reduziert auf Anrainerzufahrten und Lieferverkehr, Fußgänger und Radfahrer dominieren.

Christoph Chorherr sitzt im Nordbahnviertel vor der Bäckerei, die er mit einem Kompagnon aufgemacht hat und mampft an einer Semmel. Jahrelang war er Planungspolitiker der Wiener „Grünen“ und hat gebrannt dafür, diesen neuen Stadtteilen einen urbanen Stempel zu geben. Dass keine Trabantenstädte entstehen, sondern lebenswerte Wohnviertel. „Die Erdgeschosszeilen sind das Entscheidende, das siehst du überall“. Damit Platz ist für kleine Läden, Cafes, Werkstätten. Dass etwas geschieht im Viertel, dass es Schanigärten gibt. Überall ist es ein Kampf um den Raum. Mit den Investoren, die so viel Wohnraum wie möglich reinpressen wollen. Mit den Wohnbaupolitikern, die so viele Ecken wie möglich verbauen wollen. Jede Fahrspur weniger braucht monatelange Verhandlungen.

Eine „grüne Mitte“ wurde erhalten, die wird in ein paar Jahren fast ein kleiner Central Park sein, mit Biotop und Fröschen drin. Architektonische Juwele stehen neben Allerweltsbauten. Die Straßen sind nach Toten benannt, die man noch als Lebende kannte, wie die Jakov-Lind-Straße. Mit dem Dichter Jakov Lind bin ich noch im Oswald&Kalb gesessen, erinnere ich mich, während ich mit Chorherr durch das Viertel radle.

Entlang der Bahntrasse werden gerade die letzten Bauten fertig. In einigen sind eben die ersten Bewohner und Bewohnerinnen eingezogen.

Auf der Wiese steigt eine Kennenlernparty.

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