Zeitgefühl in Begriffe gefasst: Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender.
taz, das Schlagloch, Februar 2023
Die Gesellschaftsentwürfe haben uns stets auch mit Schlagworten versorgt, die einen großen Beiklang hatten, einen Überschuss und Obertöne, die in uns etwas zu Schwingen bringen. Über den Begriff der „Freiheit“ wird ja gerade heftig diskutiert, einerseits, weil das Wort von jenen vor sich her getragen wird, die einfach ungehemmten Egoismus ausleben wollen, andererseits, weil aus eben diesem Grund proklamiert wurde, der Begriff werde zur nichtssagenden „Floskel des Jahres“. Im Grunde ist der „Freiheits“-Begriff seit je voller interessanter Ambiguitäten.
Die historischen Freiheitskämpfe richteten sich gegen absolutistische Herrschaft und proklamierten demokratische Freiheitsrechte, also politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, bis hin zu freien Wahlen. Es schwang aber auch sofort ein Pathos von Befreiung aus allen Zwängen mit, ein lebenskultureller Laissez-Faire, die Befreiung aus Konformismus und Konventionen, dieses ganze Zeug von Bohème über Hippies bis Punk. Nach den erfolgreichen Freiheitskämpfen hatte es die Freiheit in den Mühen der Ebene aber immer schwer, auch, weil sich gegen Kaiser und Autokraten schöner rebellieren lässt („Geben sie Gedankenfreiheit, Sire!“) als gegen subjektlos prozessierende Strukturen wie den Neoliberalismus und seine Sachzwänge. Es darf auch nicht ignoriert werden, dass sich in demokratischen Gesellschaften mit ihrem Mehrheitsprinzip die knifflige Frage zwischen individueller Freiheit und bindender Ordnung stellt, wie das der Staatrechter Hans Kelsen formulierte: Wenn in freiheitlichen Ordnungen mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip Beschlüsse gefasst werden, sind sie auch für die Minderheit und jedes Individuum bindend. Wir haben das Problem mit Minderheitenschutz, ein paar Sicherungen gegen eine „Tyrannei der Mehrheit“ irgendwie provisorisch gelöst. All das ist noch nicht das Ende vom Lied, da wir auch die „Bedingungen von Freiheit“ kennen, und wissen, dass Mangel, Unsicherheit und Chancenarmut große Hemmnisse sind, die Freiheit zu verwirklichen, das eigene Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Diese Bedingungen der Freiheit für so viele Menschen als möglich zu garantieren, verlangt wiederum eine Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit, und schlaue Köpfe grübeln seit mehr als einem Jahrhundert darüber, wie man das hinkriegt, ohne damit ein bürokratisches Kommandosystem zu etablieren, das Eigensinn und Kreativität der Einzelnen erst recht wieder gängelt. Zudem besteht ein Unterschied zwischen Akten der „Befreiung“ – etwa in Revolten und Rebellionen – und dem Status einer Ordnung der Freiheit. Ersteres ist packend, zweiteres dann schon fader, man lebt darin herum ohne viel Heldentum.
Ist Ihnen freie Publizistik etwas wert? Ist Ihnen dieser Text etwas wert? Robert Misik, IBAN AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW
Wenn wir schon über die großen Worte und Parolen nachdenken, die bis heute unser Denken möblieren, dann wäre vielleicht ein nächstes der Begriff des „Überflusses“. In den Utopien waren Vorstellungen vom potentiell grenzenlosen Reichtum seit jeher zentral, schon Mose versprach seinem murrenden Fußvolk, er werde es in ein Land führen, in dem „Milch und Honig“ fließe. Die Sozialisten und Kommunisten waren überzeugt, mit Produktivitätssteigerungen, Fortschritt und der Befreiung der Kreativität würde der Mangel endgültig besiegt, ein Leben im Überfluss möglich, da waren sie sich lustigerweise sogar mit den Kapitalisten einig. Der Begriff des „Überflusses“ hatte also lange einen rein positiven, pathetischen Klang, da er uns Menschen von der Geißel des Elends und seiner Zwänge befreien würde, bekam aber nach und nach auch negative Obertöne, man denke nur an den Begriff der „Überflussgesellschaft“ (erstmals, soweit ich das sehe, eingeführt vom US-Ökonomen John K. Galbraith), mit ihrer Warenflut, Verschwendung, ihren Milchseen und Fleischbergen, ihrer Entfremdung und ihren künstlich produzierten Bedürfnissen. Heute kommt der Begriff „Überfluss“ eher nur mehr in Textsorten vor, die einen traurigen Mollton haben. Überfluss, gestern noch ein großes Versprechen, ist heute ein Krisensymptom.
Der Überfluss erschöpft die Strapazierfähigkeit des Planeten, heizt uns buchstäblich ein, auch die Ressourcen sind „erschöpft“. Die Gefräßigkeit des Wirtschaftssystems überfordert nicht nur die Natur, sondern auch uns Menschen, weshalb die Erschöpfungsdiskurse überall spießen. Womöglich ist der Begriff der „Erschöpfung“ heute eine zentrale Vokabel für unsere Problem- und Zeitgefühle. Im Hamsterrad von Leben und Wirtschaftsleben, in das immer mehr Stress einzieht, beklagen auch die Individuen die Erschöpfung. Mutter Erde, aber auch Tom und Swetlana von nebenan, alle sind erschöpft. Eine ständige innere Unruhe macht sich breit, man beißt die Zähne zusammen, um zu funktionieren, obwohl alle schon irgendwie niedergedrückt sind. Man spurt, damit heute das Geld reinkommt, das morgen schon wieder rausfließt, für die gestiegenen Mieten, die Lebenshaltungskosten. Von der Hand in den Mund, Pausen sind nicht mehr vorgesehen. Von der „Dauererschöpfung“ schrieb der Ökonom Wolfgang Streeck schon vor zehn Jahren, der Soziologe Sighard Neckel sprach vom „gesellschaftlichen Leid der Erschöpfung“ in der Wettbewerbsgesellschaft. „Angst erschöpft“, bemerkte auch sein Kollege Heinz Bude. Corona, Krieg, und dazu womöglich noch ein volles E-Mail-Postfach, alle sind erschöpft. In einem schönen Text in der „Zeit“ machte unlängst ein Sozialpsychologe darauf aufmerksam, dass es neben den realen Erscheinungen der Erschöpfung eben auch die Erschöpfungsdiskurse gibt, wir also nicht übersehen sollen, dass es sich dabei auch um ein Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst handelt, also um Selbstverständigung. Wenn alle von Erschöpfung reden, fühlen wir uns prompt noch müder. Es gehört zum guten Ton, erschöpft zu sein.
Vielleicht ist dieses bedrückte und dauerdeprimierte Tremolo Effekt der Abgeschmacktheit der Freiheit im demokratischen Kapitalismus, in dem einerseits die individuelle Freiheit verwirklicht, diese aber unter gesellschaftliche Bedingungen unterjocht ist, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen annehmen.