Politische Landschaftspflege: Kulturhistorische Anmerkungen zur Gartenzwerg-Affäre der SPÖ-Wien.
Zackzack, Oktober 2023.
Es gibt so Affären, die alle aufwühlen, obwohl man sie als Petitessen abtun könnte. Aber wenn die Petitesse auf eine Vorannahme trifft, auf einen Verdacht und ein Wissen, das viele haben, dann ergibt das eine explosive Kombination. Besonders leidet darunter jetzt unser mitleiderweckender Bundeskanzler, der meinte, arme Leute sollten ihren Kindern eben einen Hamburger als warme Mahlzeit gönnen; der sich in Rage redete, und unterstellte, manche Frauen in Teilzeit wollen eben nicht mehr arbeiten. Vor allem aber regte wohl dieser Gestus der Herablassung, der Verachtung auf. Dass da jemand über Menschen in einem Ton redete, der einfach nicht geht.
Es wurde eine Menschenfeindlichkeit sichtbar, die man schon ahnte. Und weil sie so frappierend ausgelebt wurde, regt das jetzt alle auf.
Auch die Schrebergartenaffäre der Wiener SPÖ lässt nur wenige Leute kalt, und da helfen auch keine Hinweise, dass doch wohl auch ein Politiker einen Schrebergarten kaufen darf, dass der Kaufpreis von 160.000 Euro sowieso marktüblich war, dass alle Beteiligten Berichten zufolge auf Wartelisten standen oder sonst irgend etwas.
Sozis müssen supersauber sein
Aber auch hier trifft die – umstrittene – Faktenlage auf allgemein geteilte Vorannahmen von Filz und Netzwerken, wo es sich die Beteiligten richten können.
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Ein Element der Sache ist zunächst einmal, dass man von Sozis erwartet, dass sie supersauber sind, und fragwürdiges Verfolgen von Eigennutz den Werten von Sozialisten einfach entgegensteht. Das man sie, mit Recht, nach anderen Werten und Normen beurteilt als irgendwelche Cofag-Abstauber aus der ÖVP oder FPÖ-Korruptionisten, die sich persönlich die Säcke vollfüllen.
Das ist ein Element der Sache. Aber es gibt meines Erachtens noch ein weiteres. Und das ist gesellschaftsdiagnostisch recht interessant:
Die allermeisten Menschen bei uns meinen, dass sie solche Praktiken kennen. Ich weiß ja nicht genau, wie die Abläufe waren, ich kenne das auch nur aus den Zeitungsberichten. Aber ich glaube zu wissen, was sich die Leute auch ohne Details zu kennen, dazu denken. Nämlich: So ist das eben bei uns. Wer Leute kennt, der kann sich kleine Vorteile verschaffen. Der Chef der Kleingärtner braucht bisweilen die Bezirksvorsteher, der Bezirksvorsteher hätte auch gern einen Kleingarten – da treffen sich auf das Famoseste die Interessen beider Seiten. Eine Hand wäscht die andere, kennt man ja doch. Wir wissen: Wir haben Regeln. Aber in unserem Alltag gibt es neben den Regeln auch noch das landesübliche Schlawinertum. Regeln sind gewissermaßen nur unverbindliche Empfehlungen, an die muss man sich doch nicht halten. Es gibt die Schlange vor der Disko. Und dann gibt’s die, die schon wissen, wie man hintenherum nach vorne kommt.
„Von Pontius zu Pilatus laufen.“
Meine Großmutter war eine einfache Frau und hat immer gesagt, wenn es einmal ein Problem gibt, dann rennt man eben „von Pontius zu Pilatus“. Auch meine Mutter – sie hatte es von ihrer Mutter – hatte das verinnerlicht. Was heißt: Wenn es strenge Regeln gibt, die man umgehen will, dann wird man von Amtsträger zu Amtsträger pilgern. Vielleicht wird man an zehn geraten, die die Regeln streng auslegen, weil sie einem nicht mögen oder weil sie Sadisten sind oder einfach feige Sesselfurzer. Aber irgendwann findet man einen Pragmatiker, der das Problem auf freundliche Weise löst.
Einer, der das bekannte österreichische Hintertürln nicht nur kennt, sondern bereit ist, es für einen zu öffnen.
Natürlich hat in meiner Volksschule das türkische Mädchen keine Gymnasiumsempfehlung bekommen, obwohl sie superschlau war. Natürlich hat ihre türkische Mama nicht gewusst, dass man zu „Pontius und Pilatus“ rennen muss. Meine Mutter hat ihr das dann gesagt.
Das österreichische Hintertürl
Man kennt das, es hat sich bis in unsere Sprache hineingeschlichen: „Gehn’s Herr Inspektor, gibt’s net eine Möglichkeit?!?! Man muas doch nicht alles so eng und streng sehen!!!
Der „gelernte Österreicher“ (was für ein herrliches Wort eigentlich!) ist deswegen der festen Ansicht, dass es bei der Gartenzwerg-Affäre der SPÖ-Politiker wohl genauso gelaufen ist. Irgendwer hat halt die Hintertürln aufgemacht, weil man sich kennt.
Es läuft ja letztlich überall so. Gibt es irgendwo ein Problem, schaut man, ob man jemanden kennt, der jemanden kennt, der es lösen kann. Der nächste freie Operationstermin ist erst im Februar 2025? Na, dann muss man halt schauen, ob man nicht jemand findet, der jemanden kennt, damit sich das beschleunigt.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich all das nur schlecht finde. Bürokratische Regeln neigen ja dazu, streng zu sein. Strenge Richtlinien neigen zudem dazu, inflexibel und lebensfremd zu sein. Und Länder, die diese Hintenherum-Kultur nicht kennen, neigen dann dazu, diese strengen Regeln auch streng auszulegen. In Österreich sehen wir das aber nicht so eng. Schon Victor Adler wurde von 140 Jahren mit seinem Ausspruch berühmt, bei uns gäbe es auch Despotismus, aber „gemildert durch Schlamperei“. Das machte selbst die Bestialität manchmal eine Spur gemütlicher.
Regelkonform, also deppert
Kulturwissenschaftler erklären die hiesige Konfliktscheue aus diesem informellen österreichischen Organisationsprinzip: Man wird schließlich nicht mit Leuten einen Streit vom Zaun brechen, von denen man nicht weiß, ob man sie nicht irgendwann noch als „Freunderl“ brauchen kann.
Mit einem solchen System umzugehen oder es zu reformieren, eröffnet womöglich einen dieser berühmten Zielkonflikte: ich, beispielsweise, hätte es gerne transparenter und weniger korrupt, aber zugleich würde ich den Geist des Lässig-Informellen nicht unbedingt gerne abgeschafft sehen.
Ich habe natürlich keine Ahnung, wie das gehen soll.
Ich habe ja schon eine gewisse Lebenserfahrung und deswegen in meinem Leben schon Amtsträger erlebt, die sich sklavisch an die Regeln gehalten haben (nicht selten übrigens gerade wegen der Angst, sie könnten sich Korruptionsermittlungen oder zumindest böse parlamentarische Anfragen der Opposition einhandeln), und dann wiederum welche, die versucht haben, eine Idee, die sie für gut hielten, irgendwie zu verwirklichen, auch wenn dem beim ersten Anschein Regeln entgegen standen. Oft ist letzterer Vorgang in vieler Hinsicht der Bessere.
Ich habe zum Beispiel schon Bundeskanzler gekannt, die sich streng an alle Regeln gehalten haben, etwa dass man die Infrastruktur des Bundeskanzlers nicht für die Arbeit des Parteivorsitzenden missbrauchen darf, weil man sonst den Rechnungshof am Hals hat. Wenn die dann an einem Tag einen Auftritt als Parteichef in Innsbruck und dann einen als Kanzler in Alpbach haben, dann fahren zwei Autos von Ost nach West: Eines für den Parteitermin, eines für den Kanzlertermin. Das ist regelkonform, also deppert.
Die schönen und die hässlichen Seiten der Verhaberung
Zugleich eröffnet die nationalkulturelle Eigenart, Regeln eher als unverbindliche Empfehlungen zu sehen, dem Filz Tür und Tor. Ein interessanter Aspekt daran ist, dass es aufgrund der Verfilzung der gesamten Gesellschaft kaum einen Bereich und kaum ein gesellschaftliches Milieu gibt, in dem diese Praktiken nicht eingelernt sind, andererseits darf man es auch nicht als eine Form der „demokratischen, egalitären Verfilzung“ betrachten. Wer ein großes Netzwerk hat, steht in einem solchen System immer privilegierter da als jemand, der keines hat. Aber man darf zugleich daraus nicht den Schluss ziehen, dass das System Ungleichheit verschärft. Anderswo kommen nur die Reichen voran, hierzulande kann man sich auch durch Antichambrieren einen Vorteil verschaffen. Die Bilanz ist da wahrscheinlich ambivalent.
Denn Netzwerke und Möglichkeiten sind Macht. Aber irgendeine Form von Macht dieser Art haben sehr viele Leute, das macht die Sache fast schon sympathisch. Mich erinnert das manchmal an das Funktionieren der DDR im Alltag. Da gab es die Parteibonzen, die hatten politische Macht. Und dann gab es beispielsweise den Mechaniker, der wusste, wie man das gefragte Ersatzteil bekommt, das eigentlich nicht zu beschaffen war. Ergo: Mal schleimte der Mechaniker beim Bonzen, mal der Bonze beim Mechaniker.
All das kann seine menschlichen Seiten haben, die mit Begrifflichkeiten wie „korrupt“ nicht treffsicher beschrieben sind. Aber es hat auch seine üblen Seiten. Wie man das eine bewahrt, und das andere ausmerzt, ist eigentlich eine große Frage.
Und was in einer ethnisch-kulturell diversen Gesellschaft dann noch hinzu kommt: Wer sich mit den Praktiken nicht auskennt, der läuft gegen die Wand. Wer nicht einmal weiß, wie man dem Amtsträger kommen muss, ja, wer nicht einmal weiß, dass es diese kulturellen Praktiken gibt und einfach immer den klaren Dienstweg einschlagen will, der ist in einer Sackgasse gefangen, ohne es überhaupt zu bemerken. Da das oft gerade die besonders Unterprivilegierten trifft, kann das Ungerechtigkeiten noch einmal besonders verschärfen.
Der Zuwanderer hat keine Ahnung von unseren Praktiken und glaubt womöglich echt, man könne bei der MA35 einfach anrufen. Dabei muss man jemanden kennen, der jemanden kennt…