Der unintegrierbare Wilde

Wir denken, wir seien modern. Dabei trieft unser Common Sense nur so von kolonialistischen Klischees.

Heute kann man sich kaum eine politische Debatte oder einen Feuilletonartikel vorstellen, ohne dass das Wort „Diskurs“ fällt. Meist wird damit beschrieben, was gerade so geredet oder debattiert wird. Diskurs ist aber nicht einfach Gelaber und auch nicht gepflegtes Hin- und Herdiskutieren. Wenn wir von „unseren Diskursen“ sprechen, dann sollte es um den herrschenden Common-Sense gehen, um das, was gesagt werden kann und was nicht; darum, wer als Sprecher zugelassen ist, wem etwa „Sachverstand“ und „Objektivität“ zugebilligt wird. Geprägt werden die Diskurse auch durch tiefsitzende Grundannahmen, Vorannahmen, Vorurteile. Und durch fabrizierte, obsessive Themensetzung. Diskurs, so formulierte das Michel Foucault, der den Siegeszug dieser Vokabel erst einläutete, ist nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch das, was nicht gesagt oder absichtlich verschwiegen wird, die Ordnung der Diskurse ist ohne Machteffekte nicht zu denken.

Gegenwärtig haben wir eine ganze Reihe an Diskursen über Krieg, Gewalt, Migration, „Ausländerkriminalität“, die unser gesellschaftliches Klima verpesten und in denen sich Tatsachensubstrate (also durchaus „wirkliche“ Geschehnisse) und Vorurteile sowie jahrhundertealtes Halbwissen verbinden.

Da ist erstens die Debatte um die Migration und um kriminelle Banden, um Gruppen gewaltbereiter Zuwanderer. Da ist zweitens die dauernde Debatte über den Islam und die Muslime („sind anders als wir, passen nicht zu uns“), und da ist, drittens, die Debatte über „postkoloniale Theorie“ und um islamischen Antisemitismus etwa in Verbindung mit dem Nahostkrieg.

Klischeebilder auf der Kolonialzeit

In unseren etablierten Diskursen braucht es mittlerweile oft keine drei Sätze mehr, um vom einen beim anderen zu sein. Manchmal reicht ein Absatz, und Kommentatoren oder Integrationsstaatssekretärinnen beginnen bei Volksschulkindern (sechsjährigen, die ein Sprachdefizit haben) um postwendend bei Dschihadisten zu enden, die „uns hassen“, die Hamas lieben und mit Messern den nächstbesten Passanten aufschlitzen.

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Ein paar Grundannahmen scheinen zu diesen Diskursen fix dazu zu gehören: „Sie“ (also „die Anderen“) können mit unserer Liberalität, dem Pluralismus, den Menschenrechten nichts anfangen, weil sie tief in einer „vormodernen“ Kultur gefangen seien. Sie sind Andere, sie passen nicht zu uns. Sie sind einfach primitiv. Sie haben andere Verhaltensschemata, die „wir“ noch nicht einmal verstehen. Was „Sie“ genau antreibt, wissen wir nicht einmal genau, sie sind eine Art Black Box, was die Sache natürlich noch einmal bedrohlicher macht. Sie – „die Muslime“, „die Araber“, „die Schwarzen“ – sind unberechenbar, eifernd, impulsiv, und manchmal einfach verrückt. Würden sie arbeiten, würden sie sich integrieren können, aber sie sind auch faul. Sie haben kein Verständnis von unserem Arbeitsethos, deswegen fehlt ihnen einfach das Gespür dafür, dass man Sozialleistungen nur in Anspruch nimmt, wenn man sie unbedingt braucht. Außerdem sind sie bildungsfern, sie haben einfach nicht unser Bewusstsein über die Bedeutung von Bildung, weshalb schon ihre Kinder leider als Siebenjährige scheitern, so sehr wir uns bemühen. Unsere guten Absichten wissen sie nicht zu schätzen. Sie kommen hier her, werden mit offenen Armen aufgenommen, und missbrauchen nicht nur ihr Gastrecht, sondern auch noch unsere guten Absichten. Gewiss, viele integrieren sich und führen ein vorbildliches Leben, aber denen ist erstens nie gänzlich zu trauen (weshalb sie ihre Zivilisiertheit am besten täglich beweisen, was uns aber nie genügen wird), zweitens belegen aber genau diese vorbildlich integrierten Migranten, dass wir ihnen ja doch alles ermöglichen, sofern sie sie sich nur ein bisschen anstrengen. Umkehrschluss: jeder, der das nicht hinbekommt und nur im Park herumlungert, ist ganz offensichtlich selbst schuld. Wer sehr kriminell ist, soll raus, aber auch wer nur ein bisschen kriminell ist, soll raus, denn von der schiefen Bahn kommt er aufgrund seiner kulturellen Andersheit höchstwahrscheinlich kaum mehr herunter, zumal wir einfach überfordert sind, ihn auch noch zu erziehen. Das bekommt schon der etwas zappelige und adipöse Mohammed in der dritten Klasse zu spüren, der deshalb stets unter besonders skeptischer Beobachtung steht und gewohnheitsmäßig schlechtere Noten bekommt als andere Kinder mit ähnlichen Leistungen.

Wer lebt hier eigentlich im „Mittelalter“?

Ich übertreibe, meinen Sie? Gut, ein wenig. Ich räume das ein. Aber Sie werden mir auch zustimmen, dass ich nur ein wenig übertreibe. Dass das schon in etwa die Realität unserer „Diskurse“ ist. Nur eben ein bisschen zugespitzt.

Und da drängt sich doch ein sehr unschöner Gedanke auf: Was, wenn wir die sind, die in uralten Klischees gefangen sind, in denen das mittelalterliche Denken tief drinsteckt?

Denn wie wir wissen, sind das vornehmlich rhetorische Figuren aus dem Kolonialzeitalter, das ein bestimmtes Denken über „die Anderen“ hervorbrachte.

Brutal gesagt: Das Denken des konservativen Kommentators, der sich selbst für kultiviert hält, ist dem Denken des peitschenschwingenden Kapitäns eines Sklavenschiffes über dessen menschliche Fracht aus dem 17. Jahrundert vielleicht deutlich näher, als dem feinen Herrn Kommentator lieb sein dürfte.

Edward Said, der legendäre palästinensisch-stämmige Gelehrte, hat – wie viele andere Intellektuelle der (post-)kolonialen Kritik mit und nach ihm –, unglaublich überzeugend herausgearbeitet, dass Imperialismus nicht nur mit Besatzung und Gewalt einher ging, sondern diese Besatzung und Gewalt mit kulturellen Erzählungen gerechtfertigt wurde. Dazu gehört der „Myth of the Lazy Native“ („der Mythos vom faulen Eingeborenen“), die Vorstellung einer überlegenen westlichen Kultur, die Gewissheit von unserer „Rationalität“ und der „Irrationalität“ der Anderen, unserer Disziplin und ihrer Disziplinlosigkeit, und ihres Hanges zum Impulsiven, zum Heimtückischen, zur Verschlagenheit. Westliche Gewaltkulturen wurden aufgehübscht mit der Ideologie der „zivilisatorischen Mission“, dass man die Wilden also erziehen müsse, zu ihrem eigenen Vorteil. Dass man ihnen das Land raubte, sie vertrieb, ausrottete, in Lager pferchte, entrechtete und versklavte, das hat man eher selten an die große Glocke gehängt, dafür erbauliche Geschichten über die schönen Spitäler erzählt und die guten Schulen, die man für sie baute. Dass sie dann gegen die koloniale Besatzung rebellierten, wurde als irgendwie undankbar dargestellt. Brutale Propagandisten des Kolonialismus proklamierten, dass diese „minderwertigen Rassen“ sowieso keine andere Sprache verstehen als die Sprache von Gewalt und harter Strafen; aber auch liberale und sogar linke Kritiker der westlichen Gewaltherrschaft neigten dazu, etwa die Unabhängigkeitsbestrebungen von Kolonien und Befreiungskämpfe mit einer Attitüde des Verlustgefühls und von Traurigkeit zu beschreiben, als wäre romantisches multikulturelles Zusammenleben von radikalen antiimperialistischen Störenfrieden kaputt gemacht worden.

„Kultur“ ist, wofür man sich den Schädel einschlägt

Diese Bedeutung von Narrationen, von Geschichten, von kulturellen Vorannahmen zeigt, dass es niemals Sinn hat, materielle und „reale“ Geschehnisse (die ökonomische Ausbeutung, die militärische Unterdrückung, die Übergriffe der Polizei…) und „bloß kulturelle“ Erscheinungen voneinander zu trennen. Das reale Geschehen wäre ohne die kulturellen Stereotypisierungen undenkbar. Hinzu kommt heute: Mit der Migration leben jahrhundertealte Stereotype aus der Kolonialzeit als toxische Erzählungen fort, die die multiethnische Realität zeitgenössischer Gesellschaften im Inneren vergiften.

Nun ist es freilich so, dass sich in der realen Welt, in der alles miteinander verbunden ist, die imperiale Gewalt und deren Geschichte und die antikoloniale Gewalt und deren Geschichte gegenseitig nähren; auf die Gewalt folgt Gegengewalt, auf die Gegengewalt wiederum Gewalt. Irgendwann gibt es endlose Ketten von Gewaltgeschehnissen, die man sich gegenseitig vorrechnen kann, was das Lieblingshobby von Extremisten beider Seiten ist.

Perverse Revolten

Das gilt für das Reale genauso wie für das „nur“ Kulturelle. Auf die Geschichten und Diskurse, die Gewalt legitimieren, folgen Gegendiskurse, die ebenso unschön sind. Das Leben in Chancenlosigkeit, die lebenslange Erfahrung mit Rassismus, die völlige Depraviertheit, sie gebären Gräueltaten, die dann die Vorurteile bestätigen (Etwa: „der Araber ist brutal und blutrünstig und wird nie zu pazifiziert sein wie der Christoph und die Anna-Marie aus dem Musikgymnasium“). Umgekehrt aber gilt auch: Wer auf Schritt und Tritt erfährt, dass er „nicht dazu gehört“, dass man ihn „für gefährlich“ hält oder sonst etwas, wird ein Bewusstsein der Entfremdung aus einer Gesellschaft entwickeln und in vielem Fällen genau jene devianten Verhaltensweisen zeigen, die man ihm sowieso zuschreibt und sie sich mit Storys ausschmücken, etwa wie „Der Islam ist die Lösung“ oder „Glücklich, wer sich Türke nennt“.

Wenn ich in den Augen der Anderen sowieso immer der gefährliche Afghane bin, dann ist das auch ein Rollenangebot, das man im Extremfall annimmt, wenn keine anderen erstrebenswerten Rollenangebote zur Verfügung stehen. Islamistischer Fundamentalismus ist eine unschöne Form, mit dieser Situation umzugehen, die man zwar durchaus rational nachvollziehen kann, die dadurch aber auch nicht schöner wird und deswegen nicht gebilligt oder entschuldigt werden kann. Das gleiche gilt für Nationalismus und Ethno-Separatismus und ähnliche Phänomene.

Es sind Revolten in perversen Formen.

Das „Wissen“ der Beherrschten

Aber womöglich sollte man auch das Folgende nicht ignorieren: Wer hier lebt und aufwächst, und sei es auch noch so unterprivilegiert, der lebt in zwei Welten, in der des Zuwanderers, der an den Rand gedrängt wird, und in der Welt der hier dominanten Mainstreamdiskurse. Er lebt immer ein Dazwischen. Er kennt die kulturellen Codes seiner Community, er (oder sie) kennt aber auch die vorherrschenden kulturellen Normen der Dominanzgesellschaft. Er (oder sie) kennt sie meist sogar so gut, um ihre Doppelstandards und ihre Heucheleien leicht zu durchschauen, etwa die Diskrepanz zwischen den Sonntagsreden von der Gleichheit aller Menschen und der himmelschreienden Ungleichbehandlung von ihm und seinesgleichen. Er kennt die Mehrheitsgesellschaft sehr genau, während die Mehrheitsgesellschaft von ihm nur ihre meist ziemlich grotesken, uninformierten und jahrhundertealten Klischeebilder hat. Die Angehörigen der Herrschaftsmilieus erliegen immer wieder kognitiven Irrtümern, weil es ihnen an sozialen Erfahrungen jenseits ihrer gewohnten Lebenskreise mangelt, aber auch, weil sie sich die Wirklichkeit gerne schönlügen, um den eigenen Anteil an beklagten Miseren zu verleugnen. Die Gruppen im „Dazwischen“ dagegen wissen im aller Regel etwas, was dominante Gruppen nicht wissen. Vielleicht sollten wir uns deshalb gelegentlich auch selbstreflexiv fragen: Wer ist hier eigentlich „primitiver“ und „rückständiger“?

Mit den Augen der Anderen sehen

Identitärer Wahn und „Wir-gegen-Sie“-Narrationen gehören in alle Richtungen bekämpft. Die hybride Durchdringung der Kulturen muss zum Leitbild werden. Paranoider Nationalismus, Ethnonationalismus beider Seiten, das Hantieren mit grotesken Stereotypen, destruktive Märchenerzählerei, Konfrontation und Feindseligkeit – alles eine Pest. Diese Diskurse gehören dekonstruiert, was heißt: die ganzen Erzählungen über Identität, wie „die“ oder „jene“ seien, sie gehören zertrümmert. Das ist alles Ideologie. Und wird auch schon zertrümmert. Von all denen, die längst im Dazwischen leben und das mit „Kulturen“ machen, was man üblicherweise mit ihnen macht: Sie so lange verschmelzen, bis von „Ursprüngen“ nichts mehr übrigbleibt als irgendwelche stupiden Geschichten aus abgeschmackten Heldensagen.

Wer unfähig ist, mit den Augen der Anderen zu sehen, der ist blind.

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