Räuberischer Jude, verschlagener Araber

Wie jahrhundertealte Stereotypisierung die Konflikte um Israel, die Hamas und den Gazakrieg vergiften.

Das Schlagloch, meine Kolumne aus der taz, Mai 2024

Weder bei kleinen noch den ganz großen existenziellen Fragen und Konflikten sollte man die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das eine und sein exaktes Gegenteil richtig sein kann. Früher nannte man das eine tragische Konstellation, so wie etwa Kreon und Antigone zugleich recht hatten, wenngleich sich deren Maximen auch in keiner Weise in einen „Kompromiss“ auflösen ließen. Heute spricht man gerne von Ambiguitäten, die bitte ausbalanciert werden sollen.

So ist einerseits wahr, dass der Begriff des „Antisemitismus“ heute zur proisraelischen Kriegspropaganda missbraucht wird, dazu, andere Stimmen einzuschüchtern und zu diffamieren, während zugleich wahr ist, dass es Antisemitismus gibt, und dass auch die Kriegskritik von Antisemitismus vergiftet sein kann. Die Netanjahu-Propagandaschleudern haben den Begriff aber sinnentleert und unbrauchbar gemacht.

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Ebenso wahr ist, was Eva Illouz am Wochenende in einem großen Essay in der „Süddeutschen“ ausgeführt hat: Es wäre ja sogar erstaunlich, schreibt sie, wenn in die Proteste gegen Israels Kriegsführung nicht auch die jahrtausendealte Grundierung des Antisemitismus eingehen würde, und sie unterstreicht ihr Argument mit jenen Konzepten der postkolonialen, aber auch der Cultural Studies, für die manche der Protestierenden doch ein gutes Sensorium haben müssten.

Eine der wertvollsten Beiträge der kulturlinken Strömungen sei die Kritik an unbewussten, kulturellen Gewohnheiten gewesen, „an denen wir alle teilhaben“. An Stereotypisierungen etwa, denen wir schwer auskommen. Diese Gewohnheiten haben ihre Ablagerungen in der Sprache und den gängigen kulturellen Bildern, den Projektionen auf die Anderen, auf Schwarze, auf Frauen, auf Minderheiten. Schwer vorstellbar sei doch, dass das „nicht in noch größerem Maße auf die älteste Form von Hass zutreffen sollte, die es in der westlichen Kultur gibt, nämlich den Judenhass“.

Der Jude, der das Blut von Kindern trinkt, der Jude, der einsickert in autochtone Kulturen, der Jude, der diese Kulturen von innen zersetzt, der Jude, der sich aneignet, was anderen gehört – all das schwingt, so Illouz, in maßlos überzogener „Israelkritik“ mit. Illouz spricht vom „tiefen kulturellen Gefühl, dass Juden für die Welt gefährlich sind“. Die Juden als Parasiten, als zersetzende Kraft, als sinistre Macht, der nicht zu trauen ist. Es sind diese Bestände, Restbestände, manchmal auch nur Schwundformen dessen, was mit dem Wort „Vorurteil“ nur unzureichend getroffen ist, das in die Diskurse von heute, in Maßlosigkeit, falsche Zungenschläge, Überspanntheit eingeht. Und seien es nur Spurenelemente, die da wirken.

Das Erstaunliche an Illouz Text ist, dass sie mit keinem Wort darauf hinweist, dass ähnliche Strukturen auch bei den Maßlosigkeiten der anderen Seite ihre Bedeutung haben. Dabei ist das ja nicht nur frappierend und offensichtlich. Sondern bietet auch noch viele Spuren und Nebenpfade, die für die gegenwärtige Situation erhellend sind.

Wir wissen nicht erst seit den Hochzeiten der Kulturtheorien, nicht erst seit Edward Saids „Orientalismus“, dass im westlichen Bilder- und Stereotypenfundus der verschlagene, arglistige und heimtückische, aber auch impulsive und unvernünftige Araber und Muslim einen zentralen Platz hat, neben dem zartfühlenden, weisen, friedliebenden Nomadenführer, der die seltene Rolle des „edlen Wilden“ einnimmt.

Tradierte Bilder und Stereotypisierungen haben Macht über uns, das beschreibt Illouz richtig, übersieht aber zugleich, dass das für alle Seiten gilt. Das ist umso bemerkenswerter, als es noch einen weiteren Punkt gibt, der nicht übersehen werden sollte:

Die Verwobenheit von realem, regionalen Konflikt, in dem „harte Fakten“ wie militärische Macht, Terrorismus, Landnahme usw. genauso hineinspielen wie die kulturellen Stereotypisierungen (man tut sich wahrlich schwer, sie die „weichen Faktoren“ zu nennen), und die Globalisierung von Konflikt, Gereiztheit, rassistischen Klischees und auch blankem Hass. Das Lokale schwappt ins Globale und wieder zurück. Das hat unter anderem auch mit der diasporischen Realität zu tun, die in einer Welt von Migration, Vermischung und Multikulturalität beinahe zur Regel geworden ist.

Juden in Europa und in den USA werden einerseits von der israelischen Politik unter Druck gesetzt, sich zu dieser zu bekennen, der Bekenntnisdruck herrscht in den Gemeinden, das bestialische Massaker durch die Hamas rief auch Traumata, Angst, Bedrohungsgefühle wach, und Solidarität und Bunkermentalität. Zugleich werden Juden in der Diaspora regelmäßig schamlos für die Kriegsverbrechen der Netanjahu-Regierung mitverantwortlich gemacht. Ganz ähnlich werden Muslime in Europa von islamistischen oder autoritären Regimes und Ideologen aufgestachelt, unter Bekenntnisdruck gesetzt, und zugleich umgekehrt unter den Generalverdacht gestellt, mit Islamismus oder Terrorismus zu sympathisieren oder diesen wenigstens irgendwie zu billigen. Kulturelle, traditionelle Bilder vom fanatischen, impulsiven, verrückten Muslim spielen auch hier eine Rolle, die schwer zu übersehen ist.

Es ist dies unsere Realität und unsere Verrücktheit zugleich, aus der noch viele Irrsinnigkeiten mehr folgen: Etwa, dass Leute, die zugleich ihre antisemitischen als auch ihre antimuslimische Klischees im Kopf haben, sich etwa auf die proisraelische Seite schlagen, weil sie einfach die Araber gerade noch ein bisschen mehr hassen als die Juden. Oder die Schablonisierungen, bei denen leicht erkennbar ist, dass sie wenig mit der Realität der nahöstlichen Konflikt- und Gewaltgeschichte zu tun haben – Illouz spricht vom kompliziertesten Konflikt der Welt –, sondern mit der Auseinandersetzung um die eigene Gewalt- und Schuldgeschichte, also des Holocaust in Deutschland, der brutalen Kolonialgeschichte etwa in Belgien, Frankreich und England oder den Verbrechen an den Indigenen in Amerika. Das wird so holzschnittartig und dumm über die aktuelle Situation gestülpt, dass es schon richtig weh tut. Nur manchmal ist das auch ein bisschen lustig, beispielsweise wenn eine Strömung „antideutsch“ genannt wird, obwohl sie wahrscheinlich das „Deutscheste“ ist, was man sich vorstellen kann.

Gut, das war jetzt auch wieder ein Stereotyp.

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