West-Side Storys

Margareten ist der fünftärmste Bezirk von Wien und der am dichtesten besiedelte. Die Reinprechtsdorfer Straße ist die Demarkationslinie zwischen räudiger „West-Side“ und schicker Innenstadt.

Der zweite Teil meiner Serie „Wien Örtlich“ für „Die Zeit“

„Das ist der beste Bezirk der Welt“, meint Amir. „Da hinten ist Ankara“, sagt er und macht eine Geste Richtung Favoriten die sagen soll: Wer will da schon leben? „Meine Freundin wohnt in Ottakring, aber da ist es auch nicht gut, alles ist von da so weit weg. Von hier dagegen bin ich in fünf Minuten auf der Mariahilfer Straße und in zehn Minuten bei der Oper. Nur die Ampel hier vor der Tür, die hasse ich“. Amir lacht. Weil er weiß, dass alle diese Ampel hassen. Und weil er zugleich weiß, dass es irgendwie auch lächerlich ist, eine Ampel zu hassen.

Amir, Flüchtling aus dem Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, sitzt im „Mimoza“ am Siebenbrunnenplatz. Dem Lokal eilt der Ruf voraus, der beste Dönerbrater der Stadt zu sein, ist aber zugleich auch so etwas wie das Dorfwirtshaus. Hier treffen sich alle. Kurden, Künstler, Migranten und Alteingesessene. Es ist die Mitte des Planeten Reinprechtsdorf. „Hier wohnen alle zusammen und keiner hat ein Problem damit“, sagt Amir.

Die Reinprechtsdorfer Straße durchzieht Margareten von Norden nach Süden, vom Wienfluss bis zur städtebaulichen Katastrophe des Matzleinsdorfer Platzes, ist aber zugleich auch eine imaginäre Demarkationslinie. Östlich, Richtung Innenstadt, sind die aufgehübschten Gegenden von Margareten, Meter für Meter wird es in diese Richtung schicker, geschrubbter und polierter, westlich Richtung Gürtel wird es räudiger, billiger. Und als Begrenzung dieses städtischen Riegels dann am Gürtel entlang eine Abfolge imposanter Gemeindebauten, einstmals erbaut als „Ringstraße des Proletariats“.

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Zweite Welt

Juden, Jugos und Upper-Class. Eine Expedition zu den Wilden in der Leopoldstadt.

Teil 1 meiner Serie „Wien Örtlich“ für die Österreich-Ausgabe der „Zeit“

Es ist spät im Oktober, aber die Mittagssonne wärmt ein letztes mal den Karmelitermarkt. Vor dem „Cafe Einfahrt“ haben sie noch einmal ein paar Stühle und Tische auf das Trottoir gestellt und die Anrainer trinken ihren Frühstückskaffee, die Häuserzeile im Rücken, den Markt im Blick. Der tunesische Friseur grüßt und geht seinen Laden aufsperren, ein Roma im verbeulten schwarzen Anzug preist erfolglos seine Messer-Sets an, der Schriftsteller Robert Menasse kurvt auf seinem Fahrrad herbei. Und Christoph Steinbrener beißt in sein Croissant.

Steinbrener ist bildender Künstler, macht mit seinem Kumpel als Künstlerduo „Steinbrener-Dempf“ aufregende Installationen im öffentlichen Raum – so hat er vor ein paar Jahren in einer Einkaufsstraße alle Firmenlogos überklebt, sodass nur mehr die kommerzbefreite Stadt sichtbar war. Steinbrener lebt ein halbes Leben, seit 1982 schon hier „im Zweiten“. Das ist überhaupt eine der Eigenarten dieses Bezirks: Er wächst. Aus der Leopoldstadt, dem „Ratznstadl“ mit seinen schimmeligen Wohnungen, ist ein Hotspot der „Gentrifizierung“ geworden, in dem Bobos sich um die Wohnungen raufen und die Upper Class viel Geld für die Dachgeschoßausbauten hinlegt. Und zugleich ist sie ein schäbiges schickes Dorf.

Da ist einmal das polierte Karmeliterviertel von Donaukanal linkerhand der Taborstraße, dann das schon etwas düsterere Novaragassen-Viertel rechts der Taborstraße. Die Taborstraße ist die Demarkationslinie und städtischer Mikrokosmos. Ethnisch gemischt wie die Leopoldstadt selbst, aber wenn man genau hinsieht, dann dominiert stadteinwärts die jüdische Welt. Hier sind die Gebetshäuser der alteingesessenen Frommen, die koscheren Läden. Zwischendrin ein paar afrikanische Läden. Stadtauswärts dann mehr die Türken. Miteinander lebt man nebeneinander her.

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Dann der Praterstern, und dahinter, Richtung Donau entstehen zwei der größten Entwicklungsgebiete der Stadt: Das Nordwestbahn- und das Nordbahnviertel auf den alten ÖBB-Brachen, Neubaugebiete mit jetzt schon 10.000 Einwohnern. In wenigen Jahren werden 25.000 neue Leopoldstädter hier leben. Der Bezirk wird dann rund ein Viertel mehr Einwohner haben als um die Jahrtausendwende. Zweite Welt weiterlesen