Der übergriffige Staat

Eine Studie sieht in Österreich fast 30 Prozent „Libertäre“. Kann das wahr sein? Der staatsfeindliche Instinkt ist verständlich, aber unsinnig.

Zackzack, Jänner 2024

Der aufmerksame Moritz Ablinger vom „profil“ hat in einer Studie der Akademie der Wissenschaften ein bemerkenswertes Detail entdeckt: rund ein Drittel der Befragten gaben eine gewisse Nähe zu entschieden libertären Ansichten zu erkennen. Es war jene Untersuchung, die die Corona-Maßnahmen „aufarbeiten“ sollte. Darin äußerten erstaunlich viele Leute „eine grundsätzliche Ablehnung von staatlichen Vorschriften und Zwängen und eine ‚herausragende Bedeutung‘ von Individualität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, wie es im Bericht heißt“ (Ablinger). Üblicherweise findet solche Standpunkte „traditionellerweise bei Vertretern hart-neoliberaler Wirtschaftspolitik.“

Die Haltung, etwas salopp gesagt: Der Staat soll sich aus dem Leben gefälligst heraushalten.

Im Detail heißt es:

„Im Zuge der Studie stimmten 32 Prozent der 1555 Befragten (repräsentativ für die Bevölkerung ab 14 Jahren) der Aussage zu, dass der Staat kein Recht habe, in das Leben der Menschen einzugreifen – 16,1 Prozent stimmten der Aussage voll und ganz, 16,3 eher zu. Auch der Feststellung: ‚Jeder sollte die Freiheit haben, unter allen Umständen das zu tun, was er will‘ gaben 28,4 Prozent der Befragten ihre Zustimmung. Und 13,1 Prozent waren gar der Meinung, die Menschen bräuchten weder Staat noch Regierung, sie könnten sich am besten selbst regieren. ‚Das hat mich schon etwas überrascht‘, sagt der Soziologe Alexander Bogner, der die Studie geleitet und den Abschlussbericht herausgegeben hat. ‚Traditionell verbindet man mit Österreich einen starken Etatismus, also die Überzeugung, dass der Staat alle Probleme lösen soll.‘ Überdurchschnittlich stark verbreitet sind libertäre Ansichten dem Bericht zufolge bei Menschen, die wissenschaftsskeptisch eingestellt seien und sich während der Corona-Pandemie gegen die Maßnahmen der Regierung verwehrt haben.“

Nun sind 28 Prozent, die stark oder ein wenig in eine solche Richtung tendieren, keine Mehrheit, aber doch eine beträchtliche Minderheit. Gewiss muss man einräumen, dass solche Fragestellungen bestimmte Antworten auch triggern können, dass man simpel gesagt ohne viel nachzudenken eine Antwort gibt, die sich intuitiv besser anhört als die Alternativen. Aber wie man es dreht und wendet, es bleibt ein beträchtlicher Wert.

Nur: Eine Marktwirtschaft, etwa ohne Sozialstaat, ist eine Machtwirtschaft, bei der einige wenige gewinnen und die große Mehrheit schutzlos ist. Unter jenen, die wünschen, dass der Staat sich raushält, sind daher wahrscheinlich viele, die gerade von einem schützenden Staat profitieren.

Spannung zwischen Freiheit und Ordnung

Demokratische, rechtsstaatliche Verfassungsstaaten sind einerseits Ordnungen der Freiheit. Sie halten die Freiheit hoch, weil sie demokratische Freiheitsrechte erkämpft haben, und andererseits sind sie Gesellschaften, die sich verbindliche Regeln geben. Freiheit und Ordnung stehen hier in prinzipieller Spannung, die auf kluge Weise in Balance gehalten werden muss. Der Staatsrechtler Hans Kelsen, der „Vater“ der freiheitlichen österreichischen Verfassung, sah einen im Letzten unlösbaren Konflikt, „in dem die Idee der individuellen Freiheit zur Idee einer sozialen Ordnung steht.“

Das Idealmodell kann etwa so formuliert werden: Freie Subjekte geben sich eine freiheitliche Ordnung, und in der Folge werden durch Gesetze verbindliche rechtliche Normen etabliert. Der freie Bürger solle, so ist der Anspruch, nur einem untertan sein, nämlich seinem eigenen Willen. Der Freiheitsgedanke entspringt, so Kelsen, einem „staatsfeindlichen Urinstinkt, der das Individuum gegen die Gesellschaft stellt“.

Bloß lebt das Individuum in Gesellschaft, und leider nicht, wie etwa Robinson, alleine auf der Insel. Oder besser: Glücklicherweise. Denn außer Soziophoben würde uns das schnell unfroh machen.

Deswegen kriegen wir die Spannung nie los: Freiheitsindividualismus versus demokratisch verabschiedete Gesetze, an die sich dann alle zu halten haben.

Das Recht versucht diese Spannung einigermaßen auszutarieren, vor allem durch die Freiheitsrechte, die dann von einem Verfassungsgerichtshof beschirmt sind. Sozial- und Staatsphilosophie wiederum haben mit theoretischen Gedankenspielen das Problem in den Griff zu bekommen versucht. Die meisten haben davon zumindest schon ein paar Stichworte gehört, etwa von Thomas Hobbes Schlüsselwerk über die Entstehung des „Leviathan“. Vor der Etablierung von Staatlichkeit hätten die Menschen als Einzelne oder Gruppen (oder Familien) in einem „Naturzustand“ gelebt, in dem es zwar keinen Staat, keine Vorschriften, keine Repression gab, aber dafür einen unschönen Kampf aller gegen alle. In diesem „Naturzustand“ von Freiheit sei das Leben „einsam, kärglich, böse, brutal und kurz“ (Hobbes) gewesen, weshalb man Freiheit gegen Sicherheit eingetauscht hätte.

Man darf zwar niemanden mehr erschlagen, dafür sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, selbst erschlagen zu werden.

Rousseau sah in seinen Gedanken vom „Gesellschaftsvertrag“ die Sache eigentlich andersherum: Rousseau denkt Freiheit in Gesellschaft, nicht gegen Gesellschaft. Das Problem freilich: Wir werden alle in Staaten hineingeboren, schließen also mit niemandem einen Gesellschaftsvertrag, und außerdem ist Einhelligkeit, wie Kelsen anmerkte, für das „praktische Staatsleben … indiskutabel“. Tricky: Wenn in der Demokratie eine Mehrheit etwas beschließt, kann sich die Minderheit schnell unterdrückt fühlen, und das Gedankenexperiment, dass wir doch mit anderen einen Vertrag zur Etablierung dieser Gesellschaft geschlossen haben, hilft da aus der Kalamität nur beschränkt heraus.

Der antiautoritäre Autoritarismus

Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Baseler Soziologieprofessor Oliver Nachtwey haben in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ im Zuge der Corona-Pandemie die seltsame Welt der „Maßnahmenkritiker“ durchleuchtet, von denen viele von dem durchaus nachvollziehbaren Instinkt angetrieben waren, dass der Staat sich in das Leben nicht einmischen solle. Amlinger und Nachtwey diagnostizieren eine Bewegung des „libertären Autoritarismus“, die sicherlich nur eine kleine Minderheit der Gesellschaften in ihren Bann zieht, aber einen relativ großen Resonanzraum hat, der weit über die Ränder der Radikalen hinaus geht. Dieser Autoritarismus ist aus ihrer Sicht signifikant anders als alles, was wir an autoritären Bewegungen in der Geschichte kennen. Salopp gesagt: Es gibt darin viel mehr Antiautoritarismus, Individualismus und Antikonformismus als das in früheren Bewegungen dieser Art üblich war. „Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat“, formulieren Autor und Autorin. Sie hängen auch keinem Führer an. Viele kommen aus alternativen oder auch gegenkulturellen Milieus oder zumindest aus sozialisierenden Umgebungen, in denen kritischer Eigensinn und Nonkonformismus prägend sind. Sie rebellieren im Namen der zentralen Werte der spätmodernen Gesellschaft, nämlich „Selbstbestimmung“ und „Souveränität“. Sie haben sogar eine „grundlegende Skepsis gegenüber Autoritäten“, betrachten Freiheit als einen „individuellen Besitzstand“, sind an hedonistischen Werten orientiert. Feierte die alte Rechte das soldatische Opfer, kriegen die neuen Autoritären schon die Krise, wenn ihnen ein Partywochenende entgeht.

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Zentral ist für die Arbeit eine Relektüre der „Studien zum autoritären Charakter“, die Forschergruppen der Kritischen Theorie rund um Theodor W. Adorno während der vierziger Jahre in den USA erstellten. Die Erfahrung war damals noch frisch, dass despotische Herrschaft nicht nur auf Unterdrückung beruht, sondern auch auf Zustimmung und bereitwilliger Teilnahme – und dass diese autoritären Verlockungen auch in demokratischen Gesellschaften virulent sind. Die Studienautoren fanden damals verschiedene autoritäre Typen. Dominant waren Charaktere, die die Konventionen hochhielten, Individualismus ablehnten, Ordnung ersehnten und sich gern personaler Autorität unterwarfen. Sozialfiguren wie „der Rebell“ oder „der Spinner“ wurden aber auch seinerzeit schon entdeckt, waren aber gegenüber den konformistischen Autoritären eher peripher. Doch das hat sich massiv verändert. In den gegenwärtigen Bewegungen finden sich eher wenige überangepasste Menschen mit konservativ-konventionellen Werthaltungen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein individualistischer Liberalismus verbreitet, der „das Individuum ausschließlich im Gegensatz zur Gesellschaft“ definiert. Amlinger und Nachtwey haben eine Nase für Ambiguitären und sehen das Antiautoritäre im Autoritären. An sich gute Machtskepsis eskaliert ins destruktive Dauerdagegensein, Kritik an Wissenschaft als Herrschaftsform in Aberglauben. Antiautoritäres Rebellentum paart sich mit Autoritarismus, denn bei vielen Typen finden sich „zahlreiche Merkmale der autoritären Persönlichkeit“, wie etwa, „autoritäre Aggression, Kraftmeierei, Destruktivität, Zynismus, (verschwörungstheoretische) Projektivität und Aberglaube“.

Die Irrsinnigkeiten der Staatsverweigerung

Radikalisierter Libertarismus ist natürlich grundsätzlich schon eine Art von Verrücktheit, denn lebenswerte Gesellschaften sind immer Gesellschaften mit einem Staat, der sich auch in das Leben von Menschen einmischt. Wir haben eine Straßenverkehrsordnung, die regelt, dass wir bei Rot nicht über die Kreuzung fahren dürfen. Manche Regeln sind auch insofern unlogisch, weil wir als angemessen ansehen, woran wir uns gewöhnt haben, und als unangemessen, was man uns neu vorschreibt. Haschisch ist verboten, Alkohol nicht. Über das Rauchverbot in Kneipen regten sich viele auf, mittlerweile haben sich die meisten beruhigt.

Wir haben ein Steuer- und Abgabensystem, damit Straßen oder Krankenhäuser gebaut werden können, Schulen, Kindergärten und Universitäten und vieles mehr. Staaten mit einem ordentlichen Gesundheitssystem, auf das man sich im Notfall verlassen kann, haben mindestens eine Versicherungspflicht (wie die Schweiz), oder meist auch ein öffentliches Versicherungssystem (wie wir in Österreich). Radikalisierte Libertäre halten sogar jede Steuer für eine Art von „Raub“, aber im Grunde fahren sie dann doch ganz gerne mit ihren SUVs auf öffentlichen Straßen. Wer Gemeinwesen bevorzugt, in denen der Staat möglichst wenig regelt, soll nach Somalia gehen, da gehen nur sieben Prozent des BIP durch die Hände des Staates, und Polizei gibt es da wohl auch wenig, dafür umso mehr Piraten. Wirklich glücklich wird man da eher nicht werden.

Stellen wir uns für einen Augenblick eine junge Frau vor, die bei einem wirtschaftliberalen Think-Tank in der Medienabteilung arbeitet, und führen wir uns ihren Tagesablauf vor Augen. Morgens klingelt der Wecker, sie schaltet das Licht an, trottet ins Bad, nimmt eine Dusche. Danach macht sie das Essen für die Kinder fertig, checkt vielleicht noch etwas für die Pflegerin der hilfsbedürftigen Mutter, kurz darauf gehen alle aus dem Haus, die Kinder werden zur Schule gebracht, danach hüpft die Angestellte in die S-Bahn ins Stadtzentrum, geht ins Büro, schaltet den Computer ein und erklärt auf Social Media, dass der Staat immer ineffizient ist.

Dabei hat sie in den ersten zwei Stunden des Tages praktisch nur Dienste konsumiert, die auf irgendeine Weise öffentlich bereitgestellt werden: Sie hat das öffentliche Stromnetz benützt, die Wasserversorgung und die Abwasserwirtschaft, die staatlich organisierten Gesundheits- und Pflegedienste, das Schulsystem und den öffentlichen Personennahverkehr. Womöglich ist sie nur mit staatlichen Dienstleistungen (oder mit komplexen Hybriden aus Privat- und Staatswirtschaft) in Berührung gekommen, außer das morgendliche Müsli hat sie nichts konsumiert, was von der gefeierten Privatwirtschaft bereit gestellt wird. Dennoch glaubt sie vielleicht sogar wirklich, dass der Staat ein Moloch ist, der nur ineffizient ist und den Bürgern die Kohle aus der Tasche zieht. Weil sie höchstwahrscheinlich gar nicht wahr nahm, was sie so automatisch konsumiert.

Der übergriffige Staat

Aber natürlich haben die Staatsskeptiker auch einen Punkt: Wo viel geregelt wird, ist so viel verboten, oder, im Umkehrschluss, nur explizit erlaubt, dass übermächtige Behörden entstehen, und wir kennen aus der Geschichte die Versuchungen, dass immer mehr gegängelt wird, wenn sich Staatsapparate einmal daran gewöhnen, ins Leben der Leute einzugreifen. Der große Ökonom und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi unterstrich, dass ein aktiver, demokratischer Staat eben nicht kommandieren dürfe, sondern dass es gelte „Bereiche unumschränkter Freiheit zu schaffen, die durch eiserne Regeln geschützt sind“. Gerade weil ein schützender und investierender Staat ein „starker Staat“ ist, müssen liberale Grund- und Freiheitsrechte kompromisslos gesichert werden.

Das muss man drei Mal rot unterstreichen: Ein freiheitlicher Staat muss Bereiche unumschränkter Freiheit garantieren und diese „durch eiserne Regeln schützen“. Der übergriffige Staat, der gängeln will, welche Kunst wir sehen sollen oder wie wir leben oder lieben sollen, ist eine stetige Gefahr, genauso der Illiberalismus eines neuen Leviathan, der Abweichler vorschnell als verdammenswürdige Subjekte moralisch erledigt. Aber ein Staat, der sich nie in die Leben einmischt, ist ein Nicht-Staat.

Davon zu träumen, ist letztlich unsinnig, weltfremd und absurd.

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