Die große Erschöpfung

Unsere Gesellschaft leidet an Überlastungsstress. Die „Polarisierung“ ist selbst schon eine Erschöpfungs-Ursache.

Einer der charakteristischen Gemütszustände unserer Zeit ist das Gefühl der Erschöpfung. 61 Prozent der Arbeitnehmer, so ergab jüngst eine Studie in Deutschland, befürchten ein Burnout, 21 Prozent empfinden sich als so erschöpft, dass sie diese Gefahr als „hoch“ einstufen. Das ist nicht nur eine Folge von Belastungen im Job, sondern von einem generellen Überforderungsgefühl. Gründe sind die Nachwirkungen der Pandemie, bei der alle die Zähne zusammengebissen haben, um den Überlastungsstress auszuhalten. Und hinterher kamen ja gleich die nächsten Krisen: Krieg, Inflation, ökonomische Sorgen. Belastung erschöpft, und Angst erschöpft erst recht. Viele Menschen empfinden, dass sie einen täglichen Hochseilakt vollführen. Die Gereiztheiten, die das auslöst, verstärken auch den politischen und gesellschaftlichen Hader. Dieses gesellschaftliche Klima trägt dann wiederum selbst zur Überforderung und zum Stress bei. Die Polarisierung wird in Umfragen als eine zentrale Erschöpfungs-Ursache angegeben.

Skurril: Die Erschöpfung führt zu Gereiztheit und die Dauergereiztheit erschöpft dann erst recht. Die große Erschöpfung weiterlesen

Die Tragödie der Judith Butler

Sind Gendertheorie, Queer Studies und der Postkolonialismus völlig entgleist oder gar eine Sackgasse? Eine Ehrenrettung.

Judith Bulter hat es wieder getan. Bei einer Debatte in Frankreich meinte die US-Professorin, eine der berühmtesten Intellektuellen der Welt, wir sollten das Hamas-Gemetzel vom 7. Oktober nicht als „Terroranschlag“ und auch nicht als „antisemitisch“ bezeichnen, sondern als „bewaffneten Widerstand“ gegen eine Gewaltherrschaft. Zwar hat sie damit das Blutbad keineswegs gerechtfertigt, immerhin hat sie hinzugefügt, dass wir, auf dieser Basis gewissermaßen, dann diskutieren könnten, ob es eine legitime Form des „bewaffneten Widerstandes“ sei oder nicht. Aber das sind dann schon eher Haarspaltereien. Der erwartbare Aufschrei blieb nicht aus. Schon vor vielen Jahren bezeichnete sie die Hamas, die Hisbollah und andere als „Progressive, auf der Linken, als Teil der globalen Linken“.

Bei aller Gutwilligkeit: da bleibt man nur mehr kopfschüttelnd zurück.

Eine Spielart der kulturellen Linken – die Schlagworte lauten dann schnell die „Woken“ oder die Anhänger von „Identitätspolitik“ – sind gegenwärtig sehr im Eck, sie zerlegen sich quasi selbst. Die Nachwehen und Verrücktheiten nach dem 7. Oktober und in Folge des Gazakrieges sind dafür ein Grund, aber nicht der einzige. Es gibt hier drei Gründe:

Erstens: Butler ist gewissermaßen die Ikone der „Gender Theory“ und der „Queer Studies“, die fixe Geschlechteridentitäten dekonstruierten und konventionelle Lebensformen angriffen, das, was man in dieser Denkschule die „Heteronormativität“ nennt. Viele Fans dieser Thorien der jüngeren Generation haben diesem Denken gewisse Breitenwirksamkeit beschafft, aber in den Augen vieler, etwa auch feministischer Zeitgenossinnen, auch massiv „übertrieben“. Das hat schon seit einiger Zeit sehr viel aggressive Ablehnung und Gegenwehr ausgelöst. Im linken Zirkelwesen grassieren neumodische Sprachspiele über „FLINTA“ oder Unfug-Rede über „weiblich gelesene Personen“. Das, so der Vorwurf, führe zu einer Isolation dieser radikalen, postmodernen Linken von den Lebensrealitäten der breiten Masse an Unterprivilegierten und schadet der Linken daher massiv. Für Konservative ist ein Kult von Queerness oder von Auflösung von Geschlechteridentitäten sowieso ein rotes Tuch, wir sehen das an den dauernden Triggerdebatten um Transpersonen. Die Tragödie der Judith Butler weiterlesen

Zufälle gibt’s…

Ein mutmaßliches russisches Agentennetz, ein Milliardenpleitier, gesteuerte Angriffe gegen Österreichs Sicherheit – und mittendrin mal wieder die FPÖ.

Österreich hat ja eher Pech mit seinen großen Wirtschaftstycoons. René Benko kommt nach seiner Jahrhundertpleite nicht mehr so richtig gut als „Mover und Shaker“ rüber, und der Glanz der Wirecard-Konzernchefs Markus Braun und Jan Marsalek ist auch gehörig verblasst. Ersterer sitzt im Gefängnis und muss sich seit Monaten vor Gericht verantworten, letzterer hat sich aus dem Staub gemacht und versteckt sich wahrscheinlich irgendwo in Wladimir Putins Machtbereich, in Moskau oder sonstwo.

Recherchen einer internationalen Medienkooperation haben jetzt ergeben, dass Marsalek wohl schon seit ungefähr 2014 ein russischer Agent war. Für die Welt der Geheimdienste hat er sich immer schon interessiert, sich auch ein wenig wie ein James Bond gesehen. Das Interesse der russischen Geheimdienstler hat ihm sicherlich geschmeichelt, für die Russen wiederum war ein Vorstandsmitglied in einem internationalen Zahlungsdienstleistungskonzern natürlich mehrfach interessant. Nach seiner Flucht wurde Marsalek offenbar sehr schnell mit neuen russischen Papieren versorgt. Es gibt sogar den Verdacht, dass er heute eine Agentenzelle führt, die auch Anschläge gegen Regimegegner plant. Es ist eine ziemlich atemberaubende Agentengeschichte. Zufälle gibt’s… weiterlesen

„Das Unglücksweisen, das ich bin…“

2024 steht ganz im Zeichen von Franz Kafkas 100. Todestag. Ein idealer Autor für das wirre Heute, eine Axt für das gefrorene Meer in uns.

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Essays erschien im Januar in der „Neuen Zürcher Zeitung“

Am Náměstí Republiky kreischen Prags Straßenbahnen, mit ein paar Sprüngen ist man über die Pfützen, in denen der Regen tanzt, und mit hochgeschlagenen Kragen in die Na Poříčí, wo heute das „Hotel Century Old Town“ liegt. Man merkt dem Gründerzeitbau die leicht einschüchternde Aura früherer Amtsgebäude noch an. Vor hundert Jahren war hier die böhmische „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ untergebracht, eine halbstaatliche Behörde. Franz Kafka hatte hier sein Büro als Versicherungsbeamter, wie man das damals noch nannte. Auch heute hat das Haus seine zentralen und peripheren Treppenhäuser, den Lauf der Flure, der sich amtshausmäßig auf jeder Etage entlangzieht, unvermutete Gänge zwischen den Geschoßen, labyrinthartige Verbindungen. „Profunde Kenntnis bürokratischer Strukturen“ (Oliver Jahraus) ist nicht unwesentlich in Kafkas Werk eingeflossen, das Wissen über das Mahlen einer Bürokratie, die den Einzelnen nicht nur im Kreis schickt – sondern der er ausgeliefert ist.

Von hier aus ist es nicht weit zum Altstädter Ring und dem alten Judenviertel, das in Kafkas Kindheit und Jugend seinen Charakter radikal änderte. Kafkas Vater hatte hier seinen prosperierenden „Galanteriewaren“-Laden. Nur ein paar Schritte sind es bis zur Schule, die Kafka besuchte. Das „Café Arco“, wo das intellektuelle Prag herumsaß, Max Brod, Franz Werfel, Albert Einstein während seiner paar Professorenjahre in der Stadt, ist einen Steinwurf entfernt. Zum „Café Louvre“ in der heutigen Národní třída (Nationalstraße), wo sich die Bande als Jungstudenten zu Philosophieabenden traf, ist es auch nur ein kleiner Spaziergang. Ein paar hundert Meter in die eine Richtung, ein paar hundert Meter in die andere, das ist der Lebensraum, den Franz Kafka nie für länger, aber immerhin für ein paar ausgiebige Reisen verlassen hat. Gelegentlich grübelte er über das Weggehen – „Prag, aus dem ich weg muß, und Wien, das ich hasse und in dem ich unglücklich werden müsste“ –, aber letztlich blieb er abgesehen von einem längeren Berlinaufenthalt kurz vor seinem Tod in Prag. „Das Unglücksweisen, das ich bin…“ weiterlesen

Dem Morgenrot entgegen

Rahel Jaeggi renoviert das Konzept des „Fortschritts“. Der Begriff ist heutzutage ja arg ramponiert.

Die Idee des „Fortschritts“ hat schon bessere Tage gesehen. Heutige Gesellschaften sind weniger von Fortschrittsgeist und Zukunftsvertrauen beherrscht, sondern von einem Gefühl depressiver Stockung. Es gibt zwar weiter „Fortschritte“, die allgemein unumstritten sind – in der Medizin, in der Wissenschaft, in den technologischen Innovationen. Dass die heutige Herzchirurgie ein Fortschritt gegenüber einstigem Frühableben sei, wird kaum jemand bestreiten, selbiges gilt für die E-Mail im Vergleich zum Telegrafenamt. Aber ob sich der technologische Fortschritt, der materielle Fortschritt (also der allmähliche Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveau), der soziale Wandel und moralischer Fortschritt (etwa, Richtung mehr Gerechtigkeit und Achtung von Menschenrechten), zu einer umfassenden „Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen“ (Rahel Jaeggi) addieren, wird heute eher angezweifelt. Dem Morgenrot entgegen weiterlesen

Der übergriffige Staat

Eine Studie sieht in Österreich fast 30 Prozent „Libertäre“. Kann das wahr sein? Der staatsfeindliche Instinkt ist verständlich, aber unsinnig.

Zackzack, Jänner 2024

Der aufmerksame Moritz Ablinger vom „profil“ hat in einer Studie der Akademie der Wissenschaften ein bemerkenswertes Detail entdeckt: rund ein Drittel der Befragten gaben eine gewisse Nähe zu entschieden libertären Ansichten zu erkennen. Es war jene Untersuchung, die die Corona-Maßnahmen „aufarbeiten“ sollte. Darin äußerten erstaunlich viele Leute „eine grundsätzliche Ablehnung von staatlichen Vorschriften und Zwängen und eine ‚herausragende Bedeutung‘ von Individualität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, wie es im Bericht heißt“ (Ablinger). Üblicherweise findet solche Standpunkte „traditionellerweise bei Vertretern hart-neoliberaler Wirtschaftspolitik.“

Die Haltung, etwas salopp gesagt: Der Staat soll sich aus dem Leben gefälligst heraushalten. Der übergriffige Staat weiterlesen

Gegen die Resignation

Gekünstelter Optimismus kann nerven. Aber der grassierende Pessimismus ist die größere Pest.

Wir leben im Zeitalter der „Glücksforschung“, in der also von der Wissenschaft erhoben wird, was Menschen glücklich macht. Manche Länder haben sogar schon versucht, das „Bruttonationaleinkommen“ durch ein kompliziert erhobenes „Bruttonationalglück“ zu ersetzen, und zwar auch deswegen, weil wir heute wissen, dass wachsender materieller Wohlstand nicht automatisch zu mehr Lebenszufriedenheit führt. Ratgeber erklären uns, wie man am besten glücklich wird und manchmal fühlt man sich von den „Denk-Positive“-Aufforderungen schon dermaßen belästigt, dass man ein wenig aggressiv wird, was dann ja wiederum eine eher negative, nicht positive Gemütsstimmung ist. Gekünstelte Fröhlichkeit kann ordentlich nerven.

Dennoch setzen sich in unserem öffentlichen Leben Negativismus und Pessimismus durch. Es ist ja nicht nur die Gereiztheit, die sich überall einschleicht, und auch die Angst, die um sich greift. Angst vor persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, weil alles teurer wird, oder wegen der Krisen und Kriege, oder wegen des gefühlten Kontrollverlustes, der wiederum dazu führt, dass man Regierungen nichts mehr zutraut. Ein durchaus positiver Reflex – nämlich eine kritische Haltung gegenüber Obrigkeit, Staat und Herrschenden –, kann leicht auch ins Gegenteil umschlagen, nämlich in wüstes und grundloses Dagegensein. So von der Art: Ich hab zwar von nix eine Ahnung, aber ich habe eine starke Meinung, die praktisch immer passt, nämlich: Wenn es von Regierenden kommt, dann kann es sich nur um eine Trottelei handeln, also bin ich schon mal dagegen. Gegen die Resignation weiterlesen

Die armen Nazis

Die FPÖ war eine Gründung von Nazis und SS-Leuten, die sich als „Entrechtete und Opfer“ fühlten. Frappierend, wie prägend dieses Geheule bis heute ist.

Zackzack, Jänner 2024

Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien erleben in vielen Teilen der Welt einen Aufschwung. Mancherorts, wie etwa in den Niederlanden, sind sie zuletzt sogar stärkste Partei geworden. In den USA droht mit Donald Trump ein Mann als Präsident zurückzukommen, der ungeniert die Sprache von Diktatoren spricht, politische Gegner als „Ungeziefer“ verunglimpft und am Ende seiner Präsidenten-Amtsperiode sogar einen Putschversuch unternahm. Die armen Nazis weiterlesen

Aufstehen gegen Hass und Rechtsextremismus

Freitag, 26. Jänner, 18 Uhr, Parlament. Denn: Genug ist genug. Es reicht!

Am kommenden Freitag, 26. Jänner, wird jetzt auch in Wien gegen den Aufstieg des Rechtsextremismus, die haarsträubende Radikalisierung und, schlicht und einfach, gegen die FPÖ demonstriert.

Freitag, 18 Uhr, vor dem Parlament.

Es ist eine bunte Mischung an Leuten, die sich jetzt kurzfristig zusammengetan haben. Das Bündnis für eine menschliche Asylpolitik mit unserem wunderbaren Freund und Mitstreiter Erich Fenninger, die Fridays for Future, die „Blackvoices“ – die von der „Black Lifes Matter“-Bewegung inspiriert sind, und viele andere die dann dazu stießen.

Es wird auch ein großartige Line-Up geben, mit Rednerinnen und Rednern, Beiträgen von Autorinnen, den wichtigsten Künstlern des Landes (Spoiler: Solltest Du Dir allein deshalb nicht entgehen lassen). Es ist mal der erste große Pflichttermin im Jahr, wie man das so nennt. Weitere werden folgen müssen, wenn wir unser Land nicht aufgeben wollen.

Der emotionale Anstoß ist natürlich der unerwartete Aufstand von Millionen in Deutschland – alleine am vergangenen Wochenende haben rund 1,5 Millionen Menschen in dutzenden oder hunderten Städten demonstriert.

Salopp wird da gesagt, da ist das echte Volk auf der Straße, die breite „Mitte der Gesellschaft“. Und das stimmt ja auch. Aber Mitte ist ein nicht ganz präziser Begriff, denn bei „Mitte“ kommt gleich die Vorstellung hoch von einer politischen Geografie auf, hier links, dort rechts, dazwischen die „Mitte“. Es ist eher die Mitte der heutigen, bunten Normalität in heterogenen Gesellschaften. In diesem Sinne ist es eine Mitte. Und auch nicht eine Phantasievorstellung vom „Volk“, bei dem dann gleich Bilder von Homogenität aufpoppen, sondern die breite „Bevölkerung“, die unterschiedlich ist, aber doch durch eines geeint. Nämlich durch das Gefühl: Es reicht. Genug ist genug.

Gustav Seibt schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ nach diesen Manifestationen:

„Am Wochenende sah man einen Querschnitt der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit all ihren Unterschieden: alt und jung, bürgerlich und alternativ, elegant, casual, reich, arm, migrantisch, städtisch, ländlich, junge Familien, Omas, schwul-lesbische Pärchen, östlich-westlich (Gott sei Dank!), politisch streng, politisch ironisch, programmatisch so divers wie im Habitus, sofern sich die Zeichen überhaupt entziffern lassen. Insgesamt: vollkommen inhomogen. Äußerlich: nicht formiert, locker gestreut im Raum, flanierend, trottend, kommend und gehend. Vollkommen zivil, überwiegend entspannt.“

Wie wirkungsvoll solche Mobilisierungen sind, lässt sich empirisch meist schwer messen, aber ein paar Untersuchungen gibt es. Etwa aus Italien, wo Forscher und Forscherinnen anti-rechte Bewegungen in mehreren Regionen untersucht haben und anhand der Regionalwahlen 2020 die Effekte analysierten. Fazit: In Städten und Gemeinden, in denen es große Mobilisierungen gegeben hat, gab es eine „Reduktion der Stimmen für die radikale Rechte“ von bis zu vier Prozent – verglichen mit Städten, in denen es solche Proteste nicht gab. Ähnliche Evidenz brachten Studien über die französische Präsidentschaftswahl 2002 zutage und Forschungen aus Griechenland. Es sind eine Reihe von Faktoren, die dabei zusammenwirken, so die verschiedenen Untersuchungen. Einerseits gibt es eine „Signalwirkung“, dass rechtsextreme Stimmabgabe sozial in der Gemeinde stigmatisiert ist (was schwankende Mitläufer der Rechten beeindruckt), andererseits etablieren die Proteste „Informationsnetzwerke“, außerdem heben sie die Wahlbeteiligung bei den Gegnern der Rechtsradikalen. Und langfristig werden neue Generationen an Aktivisten „politisiert“, was später langjährige Effekte hat. Mobilisierung wirkt also – wenngleich es sicherlich nicht mit ein, zwei Protestwochenenden getan ist.

Eine der wichtigsten Wirkungen solcher Mobilisierungen: Sie bekämpfen den größten Feind der Demokraten, nämlich die Lethargie, die Larmoyanz und die Resignation.

Wir, die Guten – gegen die Bösen

Ein manichäisches Weltbild gewürzt mit Selbstgerechtigkeit wird die Krise des Westens nur verschärfen.

taz, Jänner 2024

Nicht wenige werden der Meinungen sein, Bernard Hénri-Levy sei mit seiner Eitelkeit, seiner Showmanhaftigkeit und seiner outrierten Theatralik ein leichtes Opfer für Polemik. Ich hingegen neige zu Charaktergüte und schätze bei einigermaßen fähigen Leuten mit den einigermaßen richtigen Reflexen primär die Stärken, und pflege deren Schwächen gegenüber Milde walten zu lassen. Meine Voreingenommenheit gegen BHL hält sich deshalb in Grenzen. Der Mann hat Meriten. Komisch sind wir alle auf unsere Weise. Möglicherweise wird meine Milde auch durch die Bereitschaft verstärkt, mir Schmeicheln zu lassen, schrieb BHL doch vor ein paar Jahrzehnten meinen Namen und den von einer Reihe von Mitstreiterinnen, Freundinnen und Großliteratinnen, um dann hinzuzufügen: „Die Namen und Vornamen Wiens. In diesen Namen und Vornamen die Spur jenes Identitätsmosaiks: des Wiens von Hermann Broch, Arthur Schnitzler und Karl Kraus.“ Denkbar, dass ich ohne diesen kleinen Zucker- und Kitschguss eine Spur strenger wäre. Wir, die Guten – gegen die Bösen weiterlesen

Kickls „Fahndungslisten“

Die große Mehrheit hat den Hass und das permanente Aufhetzen satt.

Herbert Kickl hat wieder einmal einen seiner Rundumschläge gemacht, im Volksmund schon „Zwergpredigt“ genannt, und wie bei ihm gewohnt war es nicht gerade eine Botschaft von Liebe, Hoffnung und Friede, sondern eine der Aggression und Böswilligkeit. Die Verrohung der Sprache kennt keine Grenzen mehr, als wäre man in einer Überbietungslogik, von der Art der Drogensüchtigen, die andauernd die Dosis steigern müssen, damit der Kick nicht nachlässt.

Andersdenkende hätte er schon auf einer langen „Fahndungsliste“ vermerkt, war da zu hören. Quasi alle anderen Politiker und Politikerinnen, die trotz harter Grundsatzkonflikte einen Geist der Zusammenarbeit und Kompromissfähigkeit hochhalten, werden „Systemparteien“ genannt.

Die Wählerinnen und Wähler, die die FPÖ nicht wählen – also achtzig Prozent der Österreicherinnen und Österreicher, werden als „Systemlinge“ beschimpft.

Kickls „Fahndungslisten“ weiterlesen

„Der übergeschnappte Lenin“

Vor 100 Jahren starb der Bolschewistenführer. Er gehört ins Museum der Altertümer, neben Spinnrad und bronzene Axt.

Ohne Lenin hätte es die Oktoberrevolution nicht gegeben. Es hätte die russische Revolutionspartei nicht gegeben, und 1917 nicht den voluntaristischen Zugriff nach der Staatsmacht. Es hätte dieses exemplarische Lehrstück nicht gegeben, das zum Prototyp jeder Art von „Revolution“ werden sollte.

Man kann auch sagen: Ohne Lenin wäre der Welt viel erspart geblieben. Auch der Kommunismus wird sich von Lenin so schnell nicht mehr erholen.

Dennoch gilt Lenin auch über die engsten Kreise sektiererischer Aufstandsromantiker hinaus noch bis heute als attraktive Figur, sogar als bewunderungswürdig. Terror, Erschießungspelotons, Diktatur – allenfalls den Umständen geschuldet. Lenin, in sanftes Licht gehüllt, Verkörperung eines Traums, der dann nur Stalins wegen im bösen Albtraum endete.

Exakt 100 Jahre ist es nun her, dass Wladimir Iljitsch Uljanow, Nom-de-Guerre „Lenin“ in Moskau gestorben ist. Da war er nach mehreren Schlaganfällen schon hinfällig und siech. „Der übergeschnappte Lenin“ weiterlesen