Eine Revolte

EU-Verfassung. Der französische revolutionäre Elan hat wieder einmal gezeigt, was in ihm steckt. Das ist beeindruckend. Aber Europa wird dadurch nicht sozialer. Im Gegenteil: Jetzt steckt die EU tief im Krisenloch. Falter, Mai 2005

 

 

Hat nicht schon Karl Marx in einem launigen Moment seinen Kommunismus als Mixtur aus deutscher Philosophie, britischer Nationalökonomie und französischem revolutionären Elan bezeichnet? Jetzt weiß man wieder, warum Frankreich seit über zweihundert Jahren als die genuin politische Nation gilt. In erstaunlicher Regelmäßigkeit erlebt das Land seine politischen Erruptionen, bricht sich mit Wucht eine untergründige Kraft Bahn – antielitär, plebejisch, egalitär. Das kann niemanden unbeeindruckt lassen.

 

Selbst Jean-Claude Juncker, der Luxemburger Ministerpräsident und amitierende EU-Ratsvorsitzende, bezeichnete am Sonntag – die Abstimmungslokale waren eben erst geschlossen worden – das französische Verfassungsreferendum als "große Stunde der Demokratie". Wie immer man zu dem Ergebnis – knapp 55 Prozent der Franzosen stimmten mit Nein, 45 Prozent mit Ja – stehen mag, der Weg dahin war schon beeindruckend. Die Passion, mit der über das Für und Wider gerungen wurde, die demokratische Ernsthaftigkeit, mit der über mögliche Folgen einzelner Verfassungsartikel debattiert wurde, ist beispiellos in Europa. Und was dann in dem deutlichen "Non" kulminierte, war eine Unbehagen, das ja nicht unberechtigt ist.

 

Denn der Ausgang dieses Referendums, mögen sich rechte Nationalisten und postgaullistische Souveränisten mit als Sieger feiern lassen, ist zuvorderst Resultat eines linken Aufstandes – auch gegen die linken Eliten. Gegen das Diktat der Ökonomie, das Postulat der Sachzwänge und Alternativlosigkeit, gegen Job-, Lohn- und Sozialdumping, gegen die wirtschaftliche Integration in Europa, während gleichzeitig nicht einmal die grundlegendsten Harmonisierungen klappen. So wurde, wie es im Kommentar der Süddeutschen Zeitung hieß, "das Referendum zur Revolte". Linke Sozialisten, Kommunisten, Trotzkisten, No-Globals, allen voran Attac, bestimmten die Szenerie und den Diskurs. Dass das Referendum auch als Gelegenheit benutzt wurde, der abgehalfterten Regierung, den elitistischen Politzirkel und deren obersten Repräsentanten, Präsident Jacques Chirac, einen Nasenstüber zu verpassen, komplettiert dieses Bild nur. Das "Non" ist, so die Hamburger Zeit, ein "leidenschaftlicher Notruf, mit dem viele den Primat der Politik über eine entfesselte Wirtschaft sichern" wollten – es ist damit ein weiteres Symptom der Gemengelage aus unbestimmten Unbehagen und anschwellender Kapitalismusverdrossenheit, zu der in hiesigen Breiten die vom deutschen SPD-Chef Franz Müntefering angestoßene Debatte um die "Totalökonomomisierung" und den "Heuschreckenkapitalismus" zählt. Hinzu kam dann noch der Verdruss über ein durchaus fragwürdiges demokratisches Arrangement. Man ruft zum Referendum, aber eigentlich ist nur ein Abstimmungsverhalten goutierbar. "Erst stellt man uns eine Frage, und dann heißt es, darauf gibt es nur eine Antwort", formulierte der Wirtschaftsprofessor Jacques Généreux mit amüsierter Empörung. Oder, in den Worten des Philosophen Jean Boudrillard: Das Nein sei kein Nein zu Europa, sondern ein Nein zu jenem allzu selbstverständlichen Ja, von dem die Europapolitiker ausgingen.

 

Wie auch immer: Während das drohende Nein der Niederländer – sie stimmen Mitte dieser Woche ab – eher Gleichgültigkeit, dumpfen Verdruss als Hintergrund hat, war das Nein der Franzosen ein leidenschaftliches, politisches.

 

Das ist die erfreuliche Seite der Chose. Der unerquickliche Aspekt beruht darin, dass sich die Revolte am falschen Anlass entzündete. Gewiss gibt es fragwürdige, teilweise sogar haarsträubende Passagen im Verfassungsvertrag – doch keinen der monierten Sachverhalte bringt das "Nein" einer positiven Lösung näher. Das Gegenteil ist der Fall. Etwas mehr Integration, etwas mehr Demokratie in Europa, etwas mehr Effizienz der europäischen Insititionen – wie von der Verfassung, ungenügend gewiss, vorgesehen – hätte die Chancen auf die Wiedergewinnung des Primats der Politik erhöht; der nunmehrige Rückschlag verringert sie noch. Das "Nein" macht Europa nicht sozialer.

 

Die Gefahr ist nun, dass sich Europa – in den Worten des deutschen Rechtswissenschaftlers Ulrich Mückenberger, wieder in Richtung "einer riesigen Freihandelszone" bewegt, "die sich ein politisches und soziales Projekt gar nicht mehr vornimmt". Die Verfassungsgegner, so Mückenberger, "machen den Fehler, das zu befördern, was sie ablehnen: eine von der Ökonomie dominierte EU". Denn die Macht der ökonomischen Integration bleibt unberührt, aber der bisher ambitionierste, wenngleich widersprüchliche Versuch, dem politische Integration nachwachsen zu lassen, ist jetzt gestoppt.

 

Auf dieses Dilemma haben jene Verfassungsgegner, die für sich in Anspruch nahmen, für Europa, aber gegen diese Verfassung zu sein, keine Antwort gegeben. Worauf sie sich zurückzogen, war der Hinweis, diese Verfassung würde, wäre sie einmal verabschiedet, wohl fünfzig Jahre halten; die Hürden, sie zu ändern, seien unpraktikabel hoch. Der Subtext dieses Argumentes war also: Lieber zehn Jahre mit dem noch schlechteren Status quo leben, als fünfzig Jahre mit einer schlechten Verfassung.

 

Das im Ohr, ist eigentlich kaum vorstellbar, dass sich die Verfassungsgegner über ihren "Sieg" aus vollem Herzen freuen können.

 

Jetzt ist Europa in einer schweren Krise. Die Erweiterung auf 25 Mitglieder ist vollzogen, die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien steht bevor, der Verhandlungsbeginn mit der Türkei ist für Herbst ins Auge gefasst. Der Keulenschlag trifft die Union in einer Phase der Handlungsunfähigkeit. Deutschland steht im Wahlkampf und fällt als europäischer Motor aus, gewagte Kompromisse kann sich Gerhard Schröder nicht mehr leisten – schon die EU-Haushaltsverhandlungen dürften daran scheitern. Wird der SPD-Kanzler, worauf alles hindeutet, abgewählt, wird es auch in der Europapolitik zu einem Kurswechsel kommen. Die Unionsparteien haben etwa einen EU-Beitritt der Türkei immer harsch abgelehnt, mit dem Außenamt liebäugelt CSU-Chef Edmund Stoiber. Jacques Chirac ist nach dem Abstimmungs-GAU ohnehin eine lame duck. Anfang Juli übernimmt der Brite Tony Blair die EU-Ratspräsidentschaft. Der ist nicht gerade ein Garant für integrationspolitischen Elan. Er selbst hat ein Referendum über den Verfassungsvertrag angekündigt, aber schon angedeutet, sein Land könnte nach dem Pariser Schock die Ratifizierung vollends stoppen. Wie es jetzt weitergehen soll, weiß im Grunde niemand. Einen Plan-B gibt es nicht.

 

So gaben sich Ratspräsident Juncker und José Manuel Barroso auch betont lässig. "Nachverhandlungen sind unmöglich", beteuerte Juncker. Und: "Der Ratifizierungsprozess soll weiter gehen". Wenn in zwei Jahren die große Mehrzahl der EU-Mitglieder die Verfassung ratifziert haben sollte und nur Frankreich und vielleicht ein, zwei andere Mitgliedsstaaten mit ihren Abstimmungen gescheitert seien, könnten die Havarien vielleicht repariert werden, so die Hoffnung Junckers. Möglich, dass das klappt. Am EU-Verdruss würde ein fragwürdiges Manöver wohl wenig ändern – und nichts anderes wäre es, die Nein-Sager solange abstimmen zu lassen, bis sie zustimmen. Bis dahin ist es ohnedies ein weiter Weg, auf dem sich durchaus auch eine Totalkatastrophe ergeben kann – etwa eine Niederlagenserie bei Referenden in den Niederlanden, Dänemark, in Polen, Tschechien, Großbritannien. Eine EU-Verfassung, die nicht einmal von zwanzig Mitgliedsstaaten akzeptiert würde, wäre mausetot.

 

Es rächt sich nun zweierlei: Einerseits, dass man die Verfassung mit detailierten Staatszielbestimmungen und fragwürdigen Regelungen für Einzelfälle (womit sich die Nationalstaaten ihre Extratouren absichern wollten) überladen und damit angreifbar gemacht hat; und, andererseits, dass die Staats- und Regierungschefs es nicht wagten, ein europaweites Referendum anzusetzen. Das hätte zwar keine rechtliche Grundlage gehabt und nicht bindend sein können, aber politisch wäre es von großer symbolischer Bedeutung gewesen. Ein solches Euro-Referendum, zeitgleich von Lissabon bis Vilna, von Stockholm bis Athen abgehalten, hätte es auch erschwert, die Abstimmung zu Denkzettelwahlen gegen die jeweils nationalen Regierungen umzufunktionieren und die Verfassungsfrage mit Dingen aufzuladen, die mit der Thematik nichts zu tun haben.

 

So kam’s wie so häufig: Die europäischen Eliten haben mit Recht eine auf die Birne gekriegt – aber am Ende könnten die, die ihnen diesen Schlag versetzten, selbst mit einem blauen Auge dastehen.

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